Positive Maßnahmen in der Antidiskriminierungspraxis

von Andreas Merx

Der § 5 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) enthält eine Regelung zu sog. „positiven Maßnahmen“. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der zugeschriebenen "Rasse" oder der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zulässig, wenn durch "geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines der genannten Gründe verhindert oder ausgeglichen werden sollen".

Positive Maßnahmen gehen damit über das reine Verbot der Diskriminierung und das Gleichbehandlungsgebot hinaus. Ziel solcher Maßnahmen ist es, zum "Ausgleich gegenwärtig existierender wie in der Vergangenheit erlittener Nachteile aufgrund von Diskriminierungen" (Bell), einen Beitrag zu mehr echter und substanzieller Gleichstellung in der Praxis zu leisten. Bisher waren derartige Maßnahmen insbesondere im Bereich der "Frauenförderung" bekannt. Durch gesetzliche oder betriebliche Maßnahmen wurde hier darauf abgezielt, vorhandene Benachteiligungen oder Unterrepräsentationen abzubauen.

In Verbindung mit dem breiten Merkmalskatalog stellen die positiven Maßnahmen nach § 5 AGG eine der wenigen wirklichen Innovationen des Gesetzes dar. Die Regelung könnte ein wichtiges Instrument zum Abbau struktureller Diskriminierungen werden. Die langwierige und schwierige Entstehungsgeschichte des AGG sowie die sie begleitende kontroverse und oft polemische Diskussion hat allerdings auch hier zu viel Rechtsunsicherheit beigetragen. Eine neue Broschüre der Europäischen Kommission zum Jahr der Chancengleichheit greift nun die zentrale Rolle von positiven Maßnahmen beim Erreichen von mehr echter Gleichstellung auf, bietet hilfreiche rechtliche Informationen und zeigt anhand vieler Beispiele anschaulich, wie positive Maßnahmen in der Praxis umgesetzt werden können.

Worum es geht: strukturelle Diskriminierungen
Blickt man auf die Führungsetagen deutscher Großunternehmen, so fällt auf, dass kaum Frauen in den Spitzenpositionen der 30 DAX-Unternehmen zu finden sind. Bei gleicher Ausbildung, gleichem Alter, gleichem Beruf und im gleichen Betrieb verdienen Frauen immer noch 12 Prozent weniger als Männer, so eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von 2005. Im Durchschnitt war der Lohn von vollzeitbeschäftigten Frauen in den alten Bundesländern im Jahr 2001 um etwa 24 Prozent geringer als der Lohn von Männern. Auch was die Arbeitsmarktintegration von älteren ArbeitnehmerInnen angeht ist Deutschland im europäischen Vergleich eines der Schlusslichter. Sind in Deutschland mittlerweile nur noch rund 42 % der Beschäftigten über 55 berufstätig, so können etwa skandinavische Länder ausnahmslos Beschäftigungsquoten weit jenseits der 50 Prozent vorweisen.

Deutlich unterrepräsentiert sind auch Menschen mit Migrationshintergrund. Hier ist Deutschland im internationalen Vergleich führender Industrienationen ebenfalls im hinteren Drittel zu finden. Obwohl mittlerweile bereits 15,3 Mio. Bürgerinnen und Bürger einen Migrationshintergrund haben, was einem Bevölkerungsanteil von 19 % entspricht, sucht man diese in Führungspositionen meist vergeblich. Deutschland weist, so eine aktuelle OECD-Studie zur „Arbeitsmarktintegration von Zuwanderern“ im internationalen Vergleich im Bereich der beruflichen Integration von hochqualifizierten Zuwanderern große Lücken auf, insbesondere bei den Frauen. Menschen mit Migrationshintergrund und Hochschulabschluss sind bis zu vierfach höher von Arbeitslosigkeit betroffen als autochthone Hochschulabsolventen, so die Studie "Arbeitsmarkt und Migration" des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) von 2006. Bei hochqualifizierten MigrantInnen greifen die sonst gerne für das Scheitern auf dem Arbeitsmarkt bemühten Argumente wie Sprachdefizite und mangelnde Qualifikation indes kaum.

Die Daten verweisen auf ein bedeutendes Maß an struktureller Diskriminierung von ethnisch-kulturellen Minderheiten auf dem Arbeitsmarkt. Eine Studie der International Labour Organisation (ILO) kam bei einer mit der testing-Methode durchgeführten Untersuchung zum Zugang zum Arbeitsmarkt zu dem Ergebnis, dass in insgesamt 19% aller Fälle eine Diskriminierung der türkischen BewerberInnen im Vergleich zu deutschen BewerberInnen festzustellen war. In einzelnen Branchen lag die Diskriminierungsrate sogar wesentlich höher (im Bankgewerbe über 50%, im Außendienst etwa 40%).

Im Jahr 2001 veröffentlichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine von ihm in Auftrag gegebene Repräsentativuntersuchung zur "Situation ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland". Danach gaben rund 30% der in der Untersuchung befragten Personen an, im Zeitraum der letzten 12 Monate mindestens einmal beim Zugang zum Arbeitsmarkt und beruflichem Aufstieg oder beim Zugang zu Gaststätten aufgrund ihrer ethnischen Herkunft benachteiligt worden zu sein. Besonders hohe Werte wurden dabei insbesondere von jüngeren Befragten angegeben. Auch die strukturellen Diskriminierungen im Bildungssystem und ihre Auswirkungen auf die Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von MigrantInnen sind mittlerweile mehrfach und gut dokumentiert (so auch in der erwähnten OECD-Studie von 2005). Diese Zahlen sprechen insgesamt nicht gerade sehr für die Offenheit und Durchlässigkeit vieler Unternehmens- und Organisationsstrukturen hierzulande und verweisen auf tief verwurzelte systematische Benachteiligungen dieser Gruppen.

Positive Maßnahmen können strukturelle Diskriminierungen aufbrechen
Die mehr als 30 Jahre Erfahrungen mit Gleichstellungspolitik in der EU haben gezeigt, dass es in der Praxis nicht ausreicht, nur mit Einzelklagen echte Gleichstellung in den Gesellschaften zu erreichen. (Bell) Zwar ist das Recht des Einzelnen, sich vor Gericht gegen erlittene ungerechtfertigte Benachteiligungen zu wehren, ein unabdingbares Gut im Schutz vor Diskriminierungen. Einzelklagen können anderen Mut machen, sich ebenfalls zu wehren. In Form von Musterprozessen können neue Rechtsstandards erkämpft und entwickelt werden. Dennoch führt der rechtliche Einzelschutz und die bloße Gewährleistung des Gleichbehandlungsgebots angesichts der beschriebenen strukturellen Diskriminierungen oft lediglich zu "formaler Gleichstellung". "Um substanzielle Gleichstellung in der Praxis zu erreichen, sind wohl Ausgleichsmaßnahmen erforderlich, mit denen sowohl die Nachwirkungen vergangener Diskriminierungen als auch die fortbestehenden Diskriminierungen eliminiert werden können." (Bell). Am Beispiel des Bildungswesen lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt umschreiben: "Positive Maßnahmen gehen über formelle Chancengleichheit als politisches Ziel hinaus, weil sie dem Umstand Rechnung tragen, dass Zeugnissen und Empfehlungsscheiben ein Bildungswettbewerb vorausgeht und jene, die über unzureichende Mittel verfügen, in diesem Wettbewerb benachteiligt sind". (Lynch).

Die EU-Antidiskriminierungspolitik hat die Bedeutung struktureller Diskriminierungen erkannt und daher in der arbeitsrechtlichen Rahmenrichtlinie in Artikel 7 festgeschrieben:
"Der Gleichbehandlungsgrundsatz hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen wegen eines in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgrunds verhindert oder ausgeglichen werden."

Wie können positive Maßnahmen nach § 5 AGG durchgeführt werden?
Bei der konkreten Durchführung positiver Maßnahmen sind die rechtlichen Vorgaben des § 5 AGG zu berücksichtigen. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass die Grenze zu einer illegitimen "positiven Diskriminierung" nicht überschritten wird. Eine solche nicht rechtmäßige positive Diskriminierung wären etwa Maßnahmen, die auf eine "automatische und bedingungslose Vorzugsbehandlung bei der Auswahl von Arbeitnehmern hinauslaufen" (Bell). Dies wäre etwa der Fall, wenn offensichtlich schlechter qualifizierte MigrantInnen nur zu dem Zweck eingestellt werden, den MigrantInnen-Anteil im Unternehmen zu erhöhen. Auch sog. "starre Quoten" fallen laut Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs unter die Kategorie der illegitimen positiven Diskriminierungen. (De Vos).

Positive Maßnahmen sollen bestehende Nachteile verhindern oder ausgleichen, können aber auch präventiv zur Vermeidung zukünftiger Nachteile durchgeführt werden. Wichtig ist dabei, dass  offensichtliche Kriterien vorhanden sind, die solche Nachteile tatsächlich feststellen lassen. Dies ist etwa der Fall, wenn Beschäftigte mit Migrationshintergrund in bestimmten Positionen deutlich unterrepräsentiert sind. Ein hilfreiches Mittel zur Feststellung solcher Nachteile und zum Nachweis von systematischen oder strukturellen Diskriminierungen spielen dabei insbesondere statistische Daten. (Simon).

Des weiteren müssen die positiven Maßnahmen nach § 5 AGG "geeignet und angemessen" sein. Sie müssen also verhältnismäßig sein in Bezug auf die Benachteiligung anderer Merkmalsgruppen. Sie müssen daher mit einer relativ objektiven Wahrscheinlichkeit geeignet sein, die Nachteile wirklich auszugleichen und wären bspw. illegitim, wenn ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Qualifikationen und auf absoluten Vorrang bspw. migrantische Frauen allen anderen Gruppen beim beruflichen Aufstieg vorgezogen würden.

Beispiele für positive Maßnahmen
Manche deutsche Unternehmen haben bereits lange vor dem Inkrafttreten des AGG vielfältige Anstrengungen unternommen, um Benachteiligungen in ihren Strukturen abzubauen und bisher benachteiligte oder unterrepräsentierte Gruppen gezielt zu fördern, wie die von der damaligen Integrationsbeauftragten herausgegebene Broschüre Für Demokratie und Toleranz in der Arbeitswelt zeigt.

Oft sind es auch rein wirtschaftliche Erwägungen, die Unternehmen und Organisationen zu diesen Maßnahmen motivieren. In der Weiterentwicklung diskriminierungsfreier Organisationsstrukturen und -kulturen liegen viele wirtschaftliche Chancen. Beschäftigte, die in einem diskriminierungsfreien Arbeitsumfeld, in einer Kultur der Anerkennung und Wertschätzung arbeiten sind produktiver, motivierter, kreativer und werden seltener krank. Sie können so ihre individuellen Talente und Potentiale besser einbringen und entfalten. Image und Ruf von Unternehmen und Organisationen können so verbessert und der Zugang zu neuen Arbeitskräften erhöht werden. Angesichts des demographischen Wandels, der kurz mit dem Dreiklang "bunter, weiblicher, älter" umschrieben ist, können positive Maßnahmen ein wichtiges Instrument sein, bisher auf dem Arbeitsmarkt wenig beachtete Gruppen besser rekrutieren zu können.

Wie können sinnvolle Umsetzungen betrieblicher positiver Maßnahmen, die den Anforderungen des § 5 AGG entsprechen, konkret aussehen? Eine weitere EU-Broschüre  nennt hier einige gute Beispiele. Diese zeigen gleichzeitig, die mit der Förderung zuvor benachteiligter Gruppen verbundenen wirtschaftlichen Chancen.

Beispiel 1: Merkmal Alter
Mit dem Ziel, den Anteil der über fünfzigjährigen Mitarbeiter/-innen an der Belegschaft zu erhöhen, um besser dem Alter des Kundenstamms zu entsprechen, entwickelte ein Verkaufsunternehmen spezielle Rekrutierungsmethoden, Programme sowie ein Spektrum von Arbeitsvereinbarungen. Wahrnehmbare Verbesserungen der Loyalität und des Verantwortungsbewusstseins der
Mitarbeiter/-innen führten zu einer Senkung der Rekrutierungskosten und steigerten den Verkauf an ältere Kundinnen und Kunden.

Beispiel 2: Merkmal Ethnische Herkunft
In einem Stadtteil mit hohem Anteil von ethnischen Minderheiten begann eine Bank damit, örtlich ansässige Mitarbeiter/-innen einzustellen, die die Sprache der Minderheit sprechen, und Kontakte mit den ortsansässigen Unternehmern der Minderheitengruppe zu knüpfen. Dieses Verfahren, in Verbindung mit individuell zugeschnittenen Produkten und Kommunikationsstrategien, führten zu einer erheblichen Umsatzsteigerung. Unabhängigen Bewertungen zufolge ist das Unternehmen in seinem Stadtteil hoch angesehen.

Beispiel 3: MitarbeiterInnennetzwerke
Im Rahmen des Aufbaus von Netzwerkgruppen von ethnischen Minderheiten, Frauen, sowie schwulen und lesbischen Mitarbeiter/-innen, hat ein öffentliches Dienstleistungsunternehmen hinterfragt, welche Art von Dienstleistungen es den unterschiedlichen Zielgruppen anbieten könnte.
Indem die Fertigkeiten und Kenntnisse der Netzwerkgruppen eingesetzt wurden, konnte das Unternehmen seine Dienstleistungen verbessern, effizienter mit einem größeren Kreis von Kundengruppen kommunizieren und seine Ressourcen effizienter nutzen, da Missverständnisse
nun vermieden wurden.

Beispiel 4: öffentliche Stellenanzeigen
Ein beliebtes und erfolgreiches Instrument, das als eher "weiche" positive Maßnahme gilt, sind öffentliche Stellenanzeigen, in denen etwa Unternehmen in ihre Stellenangebote die Angabe einfließen lassen, dass Bewerbungen von Personen einer bisher unterrepräsentierten Gruppe (z.B. Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund) besonders erwünscht sind. Dies kann bspw. mit spezifisch ausgerichteten Anwerbungsaktivitäten in Form von Informationskampagnen an Schulen mit einem hohen MigrantInnen-Anteil zu Ausbildungschancen im Bereich der Polizei verknüpft werden (so besonders erfolgreich die Stadt Bremen).

Fazit und Ausblick
Nach einer heftigen und kontroversen Debatte ist nun in der Umsetzung des AGG Ernüchterung auf beiden Seiten eingetreten. Weder ist das Gesetz das von vielen Betroffenenverbänden erhoffte scharfe Instrument, mit dem ein nachhaltiger Abbau von Diskriminierungen massiv und rasch erreicht werden kann. Andererseits ist das AGG aber auch nicht das von seinen GegnerInnen an die Wand gemalte "Bürokratiemonster", das zu "Klageflut", "Rekordstrafsummen" und einem "Ende der Vertragsfreiheit" führt.

Die meisten arbeitsrechtlichen Regelungen waren bereits im deutschen Recht verankert, die EU-Richtlinien wurden weitestgehend 1:1 umgesetzt. Insofern stellt § 5 AGG tatsächlich eine der wenigen wirklichen Neuerungen des AGG dar. Diese ist gleichsam mit vielen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Chancen versehen. Angesichts der zunehmenden Vielfalt der Lebens- und Arbeitsformen in Deutschland und des demografischen Wandels, wird man es sich zukünftig immer weniger leisten können, bisher benachteiligte oder unterrepräsentierte Gruppen aus der Arbeitsmarktintegration auszuschließen. Der in vielen Branchen prognostizierte Fachkräftemangel wird zukünftig immer stärker dazu führen, dass Unternehmen gezielte Anstrengungen unternehmen müssen, etwa qualifizierte MigrantInnen für sich zu gewinnen. § 5 AGG könnte dabei den Blick auf die ökonomischen Chancen solcher positiven Maßnahmen lenken und in Zeiten einer immer internationalisierteren Weltwirtschaft in vielen Bereichen zur Öffnung verkrusteter Strukturen und zum Abbau der Unterrepräsentation gesellschaftlicher Gruppen beitragen. Hier könnte ein mehr an substanzieller Gleichstellung auch zu einem Gewinn für alle führen.

Die EU Broschüre: Chancengleichheit verwirklichen. Welche Rolle soll positiven Maßnahmen zukommen?    

Literatur

  • Bell, Mark: Positive Maßnahmen - Einführung des Konzeptes, in: Europäische Kommission (Hrsg.): Chancengleichheit verwirklichen. Welche Rolle soll positiven Maßnahmen zukommen?" (2007)
  • de Vos, Marc: Die Bestimmungen des europäischen Antidiskriminierungsrechts und positive Maßnahmen in der Praxis, in: ebd.
  • Lynch, Kathleen: Der Anwendungsbereich von positiven Maßnahmen und die Notwendigkeit gleicher Lebensbedingungen, in: ebd.
  • Raasch, Sybille: Positive Maßnahmen nach § 5 AGG, in: DJB, aktuelle Informationen 2/2007
  • Simon, Patrick: Statistiken für positive Maßnahmen: nicht nur ein Hilfsmittel, sondern eine Pflicht, in: Europäische Kommission (Hrsg.): Chancengleichheit verwirklichen. Welche Rolle soll positiven Maßnahmen zukommen?" (2007)    

 

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Andreas Merx ist Politologe und Antidiskriminierungsexperte.