Es besteht noch Handlungsbedarf, wenn Menschen mit Fluchterfahrung faire Chancen auf dem Arbeitsmarkt eingeräumt werden sollen

Sigrun Matthiesen und Karin Rieppel haben das Dossier "Arbeitsmarktintegration" kuratiert. In ihrer Einleitung stellen sie die einzelnen Beiträge sowie die Autorinnen und Autoren vor.

So kontrovers das Thema Flüchtlingspolitik oftmals diskutiert wird, in einem Punkt sind sich alle einig: Damit Geflüchtete in Deutschland Fuß fassen können, brauchen sie so schnell wie möglich Zugang zum Arbeitsmarkt. „Wir wollen Geld verdienen und unsere Fähigkeiten einsetzen, statt den ganzen Tag herumzusitzen und auf die Entscheidungen anderer zu warten“, lautet der immer wieder formulierte Stoßseufzer von Menschen, die in Deutschland Asyl beantragt haben.

Gleichzeitig suchen Unternehmen Fachkräfte, dem Handwerk fehlt der Nachwuchs, und der Rentenversicherung schon bald die jungen Beitragszahler. Kein Wunder also, dass der sperrige Begriff „Arbeitsmarktintegration“ inzwischen schon fast so allgegenwärtig ist wie „Willkommenskultur“. Aber eben auch genauso problematisch: So wenig es „die Geflüchteten“ gibt, so wenig existiert ein einheitlicher Arbeitsmarkt. Stattdessen gibt es unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen, die versuchen, in regional höchst unterschiedlichen Arbeitsmärkten mit ihren jeweiligen Besonderheiten Fuß zu fassen.

Entsprechend zahlreich sind inzwischen die Ideen, Konzepte und Projekte, um die Menschen und die Arbeit zusammenzubringen. Die Hindernisse, die dabei überwunden werden müssen, sind groß. Das liegt nicht nur an erwartbaren Problemen wie Sprachbarrieren, fehlenden Dokumenten oder Qualifikationen, die in der hiesigen Arbeitswelt nicht so ohne weiteres zu verwerten sind. Weit grundlegender als durch individuelle und berufsspezifische Faktoren werden Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt dadurch behindert, dass sie keine vollen Bürgerrechte haben. Mit anderen Worten: Selbst wer im Rekordtempo Deutsch lernt und von einer Arbeitgeberin oder einem Arbeitgeber mit offenen Armen empfangen wird, ist nicht davor gefeit, morgen abgeschoben zu werden, weil die frühere Heimat plötzlich als sicheres Herkunftsland gilt.

Daran haben auch die Gesetzesreformen des vergangenen Jahres nichts grundlegend geändert: Die sogenannte 3+2 Regelung beispielsweise, nach der Geflüchtete, die eine Ausbildung absolvieren, im Anschluss noch mindestens zwei Jahre bleiben dürfen, wird von regionalen Ausländerbehörden regelmäßig ignoriert, mit der Begründung, die „Aufenthaltsbeendigung“ gemäß dem im Jahr 2016 verschärften Asylrecht sei vorrangig. Eine möglichst restriktive Aufnahmepolitik mit einer möglichst schnellen und erfolgreichen Integration in den Arbeitsmarkt verbinden zu wollen, ist und bleibt ein Widerspruch in sich. Die Folge ist unter anderem ein hoch komplexes System von Regeln darüber, wer, wann, unter welchen Bedingungen arbeiten darf, das selbst Fachleute kaum noch durchschauen. Es frustriert die Geflüchteten ebenso wie all jene engagierten Unternehmen, Projekte und Bürger/innen, die in den vergangenen Monaten und Jahren dafür gesorgt haben, dass Geflüchtete Ausbildungs- und Arbeitsplätze bekamen.

Vor diesem Hintergrund leistet das Dossier „Arbeitsmarktintegration“ eine Bestandsaufnahme: Es thematisiert die gegenwärtigen gesetzlichen Rahmenbedingungen, fasst aktuelle wissenschaftliche Studien zusammen und beleuchtet beispielhaft die praktischen Erfahrungen von Geflüchteten, Unterstützenden und Arbeitgebenden. Die Beiträge machen deutlich, wo vordringlich praktischer und politischer Handlungsbedarf besteht, damit Menschen mit Fluchterfahrung faire Chancen auf dem Arbeitsmarkt bekommen.

Eva Degeler fasst die zentralen Ergebnisse der von ihr mitverfassten OECD-Studie „Nach der Flucht: Der Weg in die Arbeit“ zusammen. Im europäischen Vergleich bewertet sie die Situation in Deutschland zwar grundsätzlich positiv, sieht aber deutliche Mängel in der Koordination der einzelnen Angebote und Akteur/innen. Außerdem gibt es nach Ansicht der OECD weder genügend Sprachkurse, noch ausreichend gezielte Angebote für niedrig Qualifizierte oder Frauen.

Alle Geflüchteten Menschen bringen bestimmte Fähigkeiten und Qualifikationen mit – man muss nur herausfinden, welche das sind und wie man sie für den deutschen Arbeitsmarkt fruchtbar machen kann. Unter dieser Prämisse sind inzwischen in der gesamten Bundesrepublik zahlreiche Initiativen und Projekte an den Start gegangen, die bei der Integration in den Arbeitsmarkt einen möglichst ganzheitlichen Ansatz verfolgen, auch Fluchthintergrund und individuelle Wünsche berücksichtigen, und die bei den zahlreichen bürokratischen Hürden nach neuen, flexiblen Wegen suchen.

Insgesamt acht solcher Projekte mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten stellt dieses Dossier beispielhaft vor. Im ersten Praxisblock geht es vor allem um die Anerkennung vorhandener Berufsabschlüsse. Experten und Expertinnen der IHK München kümmern sich im vom Bundesministerium für Bildung- und Forschung initiierten Projekt Prototyping Transfer um Qualifikationsanalysen und entwickeln dabei detektivische Fähigkeiten. Bei zahlreichen Ausländerbeiräten in Bayern gibt es ehrenamtliche Talentscouts, die sich in ausführlichen Gesprächen der Lebensgeschichte der Geflüchteten, den Umständen der Flucht und den Talenten und Berufswünschen jedes und jeder Einzelnen widmen. Die in Berlin ansässige gemeinnützige Organisation jobs4refugees.org versucht, Arbeitssuchende und Arbeitgebende auf einer online-Plattform zusammenzubringen und steht darüber hinaus bei Problemen für beide Seiten als Ansprechpartner/innen zur Verfügung. Das bei der Handwerkskammer Dresden angesiedelte Projekt Praxischeck will nicht nur helfen, die handwerklichen Fähigkeiten Geflüchteter festzustellen, sondern auch sächsische Handwerksunternehmen ermutigen, sich für neue Talente zu öffnen.

Welche Instrumente grundsätzlich existieren, um vorhandene Qualifikationen und Kompetenzen zu ermitteln und anerkennen zu lassen, erläutert Fabian Junge, Referent in einem Multiplikatorenprojekt, das auf den Transfer des Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ abzielt.

Daniel Weber, Leiter des Bereichs Migration und Gleichberechtigung im DGB Bildungswerk Bund e.V., lenkt den Blick auf die Gegebenheiten in den Betrieben. Im Interview warnt er vor Ausbeutung und einer Philosophie des „Arbeiten um jeden Preis“, bei der Geflüchtete in Beschäftigungsverhältnissen ohne Aufstiegsperspektive stecken bleiben. Stattdessen plädiert er für eine betriebliche Anerkennungskultur, die stärker als bisher auf individuelle Fähigkeiten und Kompetenzen achtet.

Im zweiten Praxisblock dieses Dossiers zeigen die Mitarbeiterinnen des Nürnberger Projekts Enter auf, wo ihren Erfahrungen nach die Schwächen vorhandener Instrumente der Arbeitsmarktintegration liegen: „Unserer Meinung nach gibt es nicht nur zu wenig Unterstützungsangebote, oft sind sie auch nicht bedarfsgerecht. Außerdem ist der Fokus bestehender Angebote überwiegend auf Ausbildung gerichtet“.

Kritik an den Möglichkeiten und Grenzen von Ausbildungsmaßnahmen für Geflüchtete kommt auch vom bayrischen Verein Tür an Tür, der sich seit 25 Jahren für die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Integration von Geflüchteten, Immigranten und Menschen mit ausländischen Wurzeln engagiert. Stephan Schiele, einer der Geschäftsführer des Vereins, bemängelt, dass Bildungsangebote für junge Geflüchtete zu einseitig auf Ausbildungsberufe festgelegt sind. Sein Kollege Thomas Wilhelm beklagt, dass Menschen, die aufenthaltsrechtlich nur geduldet sind, in der Praxis auch während einer Ausbildung keinen Schutz vor Abschiebung genießen.

Resque Continued, ein Ausbildungs- und Arbeitsmarktprojekt für Geflüchtete in Sachsen, betreibt unter anderem eine Modellschulklasse für Jugendliche ohne Schulabschluss. Aufgrund der positiven Erfahrungen, die auch in Aufsätzen der Jugendlichen selbst zum Ausdruck kommen, plädieren die Projektmitarbeitenden dafür, solche dringend benötigten Angebote bundesweit auszubauen und ohne Altersbegrenzung zugänglich zu machen.

Auf dem Land, wo staatliche Angebote häufig fehlen, sind Geflüchtete auf ehrenamtliche Unterstützung angewiesen, um Zugang zu Ausbildung und Arbeit zu finden. Im rheinhessischen Winzerort Jugenheim übernimmt das die Initiative Willkommen im Dorf. Geflüchtete und ihre Paten haben der Journalistin Anke Petermann von ihren bisherigen Erfahrungen erzählt.

Vieles von dem, was die Praktikerinnen und Praktiker in diesem Dossier aus ihren Alltags-Erfahrungen berichten, wird auch in der Analyse von Carola Burkert und Alfred Garloff vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) thematisiert. Sie werten aktuelle Untersuchungen und Daten aus, und warnen vor überzogenen Erwartungen, sowohl in Bezug auf den Umfang als auch das Tempo der Arbeitsmarktintegration. „Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass die Beschäftigungsquote bei Fluchtmigrant/innen nach fünf Jahren rund 50 Prozent beträgt“. Dennoch, so ihr Fazit „Wenn es uns jetzt gelingt, zusätzliche Mittel für die sprachliche, allgemeinbildende und berufliche Qualifizierung bereitzustellen, möglichst vielen Geflüchteten möglichst frühzeitigen Zugang zu Integrationsangeboten zu bieten und bei den Integrationsbemühungen nicht nachzulassen, dann ist es zu schaffen, dass aus den Geflüchteten von heute die Arbeitnehmer/innen von übermorgen werden.“

Wie die ersten Schritte zu diesem Fernziel aussehen können, veranschaulicht zum Abschluss dieses Dossiers eine Slideshow der Arrivo Übungswerkstätten in Berlin. Unter dem Slogan »Flüchtling ist kein Beruf« bietet das Projekt berufliche Orientierung, bereitet auf Arbeit und Ausbildung vor und arbeitet dabei eng mit Berliner Betrieben zusammen.

Dieser Beitrag erschien in unserem Dossier „Arbeitsmarktintegration“ aus der Reihe „Welcome to Germany“.

 

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