Antidiskriminierung und Positive Maßnahmen in Frankreich

 

von Carsten Keller, Ingrid Tucci und Ariane Jossin

Trotz der Kolonialisierung und einer langen Immigrationsgeschichte sind Diskriminierungen gegenüber MigrantInnen, deren Nachkommen und auch den sogenannten „Übersee-Franzosen“ erst Ende der 1990er Jahre nachhaltig in die öffentliche Debatte Frankreichs gekommen. 1998 wurde von dem Haut Conseil à l’Intégration (Hoher Rat für Integration) ein Gutachten vorgelegt, in dem Diskriminierungen zum ersten Mal von staatlicher Seite als eindeutige Barriere einer erfolgreichen Integration definiert wurden. Diese öffentliche Anerkennung der Diskriminierung zog die formale Notwendigkeit mit sich, eben solche Diskriminierungen mit staatlichen Mitteln zu bekämpfen. Ein Charakteristikum Frankreichs bei der Bekämpfung von Diskriminierungen und bei der soziokulturellen Gleichstellung von Personen anderer Herkunft besteht allerdings darin, dass es verfassungsrechtlich untersagt ist, politische Maßnahmen einzusetzen, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Ethnizität oder Religion adressieren.

Durch die „citoyenneté française“ werden „partikulare“ Gemeinschaften – auf Grundlage der Herkunft, Religion oder sozialen Klasse – transzendiert, um so die französische Nation zu bilden (Schnapper, 1994). Dadurch sind auch positive Maßnahmen, die explizit die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund fördern, von öffentlicher Seite nicht legitim und möglich (Weil, 2005). Allerdings existieren im zentralstaatlich geprägten Frankreich doch Maßnahmen, die indirekt, insbesondere durch die Fokussierung bestimmter sozialstruktureller Gruppen und städtischer Quartiere, Migrantengruppen privilegieren. Außerdem wird eine Politik der Antidiskriminierung, die neben der öffentlichen Debatte durch zwei EU-Richtlinien aus dem Jahr 2000 angeschoben wurde, relativ engagiert vorangetrieben. (1

Im Folgenden wird zunächst auf die Politik der Antidiskriminierung und anschließend auf Maßnahmen eingegangen, die sich als indirekte positive Maßnahmen (positive Diskriminierung) gegenüber Migrantengruppen interpretieren lassen. Bei diesen Maßnahmen wird der Schwerpunkt bei der Bildungsförderungs- und der Stadt- und Quartierspolitik gelegt.

Politik der Antidiskriminierung und Chancengleichheit seit Ende der 1990er Jahre

Die öffentliche Anerkennung der Diskriminierung Ende der 1990er Jahre hat zwar dazu geführt, dass verschiedene kleinere Maßnahmen implementiert wurden. (2)  Jedoch wurde erst 2004 im Zuge der Umsetzung der beiden EU-Richtlinien in nationales Recht eine zentrale Instanz der Diskriminierungsüberwachung und -Sanktionierung geschaffen: die Haute Autorité de Lutte contre les Discriminations et pour l'Egalité (HALDE, Hohe Autorität zur Bekämpfung von Diskriminierungen und für die Gleichheit) (Latraverse, 2008). Die HALDE bekämpft Diskriminierungen aufgrund von Merkmalen wie Herkunft, Behinderung, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Weltanschauung oder Aussehen wesentlich durch die Prüfung und juristische Begleitung von eingereichten Klagen, die mit Beweislast für die Angeklagten prozessiert werden.

Ein wachsendes Netzwerk an HALDE-„Verbindungsleuten“ in Regionen, Organisationen und Unternehmen soll für die Möglichkeit einer Klage durch Betroffene und diskriminierende Praktiken sensibilisieren. Im Falle einer Ahndung werden die Akteure der Diskriminierung mit Entschädigungsleistungen und Geldstrafen belegt. Beispielsweise musste im Jahr 2008 ein Unternehmen knapp 100.000 Euro an eine Frau an Entschädigung zahlen, da diese für eine äquivalente Stelle weniger verdiente als ihre männlichen Kollegen. Der deutlich größte Anteil an Klagen bezieht sich seit Gründung der HALDE auf den Bereich der Beschäftigung, mit etwa der Hälfte der eingehenden Klagen. Es folgen mit jeweils ca. 10 Prozent die Bereiche öffentliche sowie private Dienste und Güter, wie z.B. die Versorgung mit Infrastruktur oder das Mieten eines PKWs). Auch mit der von Jahr zu Jahr steigenden Anzahl an Klagen, die mit wachsender Erfolgsquote prozessiert werden, bleibt das Kriterium der Herkunft das häufigste angezeigte Diskriminierungsmerkmal, gefolgt von Diskriminierungsklagen aufgrund einer Behinderung (im Jahr 2006 bezogen sich von eingereichten 4058 Klagen 35 Prozent auf das Kriterium der Herkunft und 19 Prozent auf das der Behinderung, im Jahr 2009 waren das bei 10545 Klagen 29 resp. 19 Prozent). (3)

Neben dieser im Kern juristischen Bekämpfung von Diskriminierungen, die flankiert wird durch politische Beratung und Reformvorschläge, ist zweitens die Förderung von Gleichheit ein Aufgabengebiet der HALDE. Hierunter fallen nicht im engeren Sinn positive Maßnahmen, sondern die Sensibilisierung der Öffentlichkeit durch die Publikation von Berichten und Studien, die Organisation von Fortbildungen etwa in Unternehmen oder Schulen, sowie die Bekanntmachung von best practices, worunter auch positive Maßnahmen fallen. Im Anschluss an die Verabschiedung zweier Gesetze für die Chancengleichheit von Behinderten im Jahr 2005 (vgl. EK, 2006) veranlasste die HALDE beispielsweise eine Untersuchung über die Integration von behinderten Kindern in reguläre anstelle separierter Schulklassen, um wiederum beratend auf das Gesetzeswerk und dessen Umsetzung zurückzuwirken. Unter Fortbildungen fallen zum Beispiel Workshops mit LehrerInnen zum unterschiedlichen Umgang mit Mädchen und Jungen. Zur Aufdeckung von Diskriminierungen an Schulen hatte die HALDE auch eine Untersuchung von Schulbüchern hinsichtlich der darin vorkommenden Stereotypen initiiert. Ein weiteres Element der HALDE zur Förderung der Gleichheit sind Diskriminierungs-Tests. Diese prüfen Unternehmen, Organisationen oder Bildungseinrichtungen darauf hin, ob etwa bei Einstellungsverfahren oder Mittelvergaben gerecht verfahren wird.

Das am 31. März 2006 verabschiedete Gesetz für Chancengleichheit stärkte die Kompetenzen der HALDE, insbesondere indem es sie mit einer moderaten Sanktionsmacht ausstattete (Verhängung von Geldstrafen bis zu 15.000 Euro) und die Diskriminierungstests als ein stichprobenartig einsetzbares Verfahren legalisierte. (4)  Das Gesetz stellt in Frankreich eine wichtige und aufschlussreiche Etappe beim Kampf für Chancengleichheit dar. Es enthält mehrere antidiskriminierende und positive zugleich aber auch sehr ambivalent bewertete Maßnahmen wie z.B. der nach wochenlangen Protesten zurückgenommene Ersteinstellungsvertrag (Contrat première embauche). Als besonders innovativ erscheint die Einführung eines anonymen Lebenslaufes bei Bewerbungen in Unternehmen ab 50 Mitarbeitern. Hier sollen die Angaben der BewerberInnen zu ihrer Identität wie Name, Alter und Adresse im Rekrutierungsprozess anonymisiert werden. Die Umsetzung dieses Instruments stand allerdings unter Vorbehalt und wurde schließlich vertagt. Nach einem erneuten Anlauf ist es Ende 2009 schließlich in sieben Departements Frankreichs von einer begrenzten Anzahl freiwillig mitwirkender Unternehmen in eine Testphase eingetreten, doch der Protest von Unternehmerseite lässt eine verbindliche Umsetzung unsicher erscheinen. (5)  Mit dem Gesetz für Chancengleichheit wurde auch eine neue Behörde geschaffen, die „Agentur für Chancengleichheit und sozialen Zusammenhalt“ (ANCSEC), die die mit dem Gesetz verabschiedeten und bereits bestehenden Maßnahmen koordinieren soll. Die im Gesetz versammelten Maßnahmen zielen in einer besonderen Weise auf Personengruppen, die u.a. in den Unruhen im Herbst 2005 breitenwirksam auf sich aufmerksam gemacht hatten: benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund.

Positive Maßnahmen

Nach Calvès (2004) ist die französische Politik im Bereich der Positiven Maßnahmen durch drei Eigenschaften gekennzeichnet: erstens „ignoriert“ sie die Gruppen, zweitens stellt sie eher auf Maßnahmen der Sozialpolitik ab, und drittens legt sie wenig Wert auf die Regeln des Marktes. (6) Da in Frankreich eine explizite Förderung von Migranten und deren Nachkommen oder auch von „sichtbaren Minderheiten“ von der Verfassung her ausgeschlossen ist, bedienen sich Positive Maßnahmen an Förderinstrumenten, die indirekt auf solche Gruppen zielen. Die beiden ersten von Calvès genannten Eigenschaften der französischen Politik Positiver Maßnahmen finden sich in der Bildungsförderungs- und in der Stadt- und Quartierspolitik (Politique de la ville) wieder. Beide Politikbereiche sind eng miteinander verbunden.

Stadt- und Quartierspolitik

Anknüpfend an erste Programme der Renovierung problematischer Viertel aus den 70er Jahren, geht die eigentliche Gründung der Quartierspolitik auf die ersten Vorstadt-Unruhen Anfang der 1980er Jahre bei Lyon zurück (Donzelot, 2006). In Reaktion auf die Unruhen führte die gerade an die Macht gekommene Mitterrand-Regierung 1981 ein Programm zur sozialen Entwicklung von „sensiblen“ Quartieren ein und definierte die sogenannten ZEP (zones d’éducation prioritaire). Für diese Zonen mit besonderem Bildungsbedarf gelten neben einer erhöhten sozialen Problembelastung wie der Arbeitslosenanteil auch ein überdurchschnittlicher Anteil an Schülern, deren Eltern ausländische Staatsbürger bzw. nicht frankophon sind, als Auswahlkriterien.

Die ZEP-Schulen erhalten zusätzliche staatliche Mittel (für Personal, Ausstattung etc.) und verfügen über eine erhöhte Autonomie. Im Jahr 2004 waren fast 1,8 Millionen SchülerInnen in sogenannten Schulen mit besonderem Bildungsbedarf (Toulemonde, 2004). Im Zuge der Entwicklung der sozialen Quartierspolitik wurden 1996 weitere Förderterritorien formell definiert. Auch bei ihnen gehören neben besonderen Problembelastungen ein überdurchschnittlicher Migrantenanteil zum Definitionskriterium: die sogenannten "zones urbaines sensibles" (ZUS) und die "zones franches urbaines" (ZFU). Beide Zonen erhalten besondere Mittelzuweisungen, wobei erstere auf direktem Weg primär für städtebauliche und soziale Projekte, die "zones franches urbaines" auf indirektem Weg durch Steuer- und Abgabenerleichterungen für dort investierende Unternehmen.

An diese drei territorialen Förderkategorien, die ZEP, ZUS und ZFU, knüpft das Gesetz für Chancengleichheit an, und es lässt so indirekt Migranten und deren Nachkommen eine besondere Unterstützung zukommen. Erstens werden durch das Gesetz weitere ZFU geschaffen, die Unternehmen in stark benachteiligten Quartieren von Steuern und Abgaben befreien. Zweitens sollen Unternehmen für unbefristete Beschäftigungsverhältnisse von Steuern und Abgaben befreit werden, wenn sie diese an Jugendliche vergeben, die in den "zones urbaines sensibles" wohnen, seit mindestens sechs Monaten Arbeit suchen und ohne Abitur sind. Drittens rekurriert das Gesetz auf die prioritären Bildungszonen, indem dort Vorbereitungsklassen für die Elitehochschulen geschaffen werden sollen. Die Förderung der Bildung ist neben der Förderung der Beschäftigung auch eine der Prioritäten des so genannten „Plan Espoir Banlieues“ (Plan Hoffnung in den Vorstädten), der im Jahr 2008 verabschiedet wurde. (7) Durch eine Maßnahme wie z.B. das „Busing“ sollen Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Gebieten in Schulen besserer Wohngebiete mit Bussen gefahren werden. Das „Busing“ wurde Anfang der 1970er Jahren in Charlotte, USA, eingeführt mit dem Ziel, weiße und schwarze Kinder zusammenzubringen.

Zugang zu Elite-Hochschulen

Es war die Elite-Hochschule (Grande école) Sciences Po, die im Jahr 2000 unter ihrem neuen Präsidenten ein Programm initiierte, dass für großes Aufsehen und teilweise auch Kritik sorgte. Angesichts ihres extrem geringen Anteils an Studierenden aus unteren sozialen Schichten, verpflichtete sich Sciences Po, jährlich eine bestimmte Anzahl an Studierenden aus Gymnasien „in ZEP“ aufzunehmen. Um die kulturelle Distanz und einen Informationsmangel über die Möglichkeit, durch Vorbereitungsklassen und Aufnahmeprüfungen (concours) an eine Grande école zu gelangen, zu vermindern, sind Besuchs- und Austauschtage für GymnasiastInnen aus diesen benachteiligten Quartieren Bestandteil des Programms.

Genauer besuchen Studierende der Sciences Po die Gymnasien und führen im Rahmen ihres Studiums kleinere Projekte durch, während die SchülerInnen die Möglichkeit bekommen, an den Kursen der Elite-Hochschule probeweise teilzunehmen. Einmal im Jahr wird ein aufwendiges Selektionsverfahren für potentielle Kandidaten an den kooperierenden Gymnasien der ZEP gestartet, das gleichwohl von den regulären Aufnahmeprüfungen abweicht. Der Selektionsprozess fängt im Grunde vor dem Erreichen des Abiturs an (Toulemonde, 2004) und die ausgewählten KandidatInnen erhalten ein Stipendium und die Möglichkeit, von einem Tutor an der Sciences Po betreut zu werden.

Das symbolträchtige Programm hat, wie unter anderem die regelmäßigen Studien durch das der Sciences Po angegliederte Institut CEVIPOF zeigen, an der sozialen Zusammensetzung der Studierendenschaft dieser Grande école so gut wie nichts verändert.(8)  Dennoch hat es breite Debatten und auch die Kritik provoziert, dass hier der französische Gleichheitsgrundsatz durch eine positive Maßnahme verletzt werde. Das Kriterium der ethnisch-kulturellen Herkunft spielt jedoch keine explizite Rolle bei der Auswahl der StudentInnen. Diese Maßnahme der Sciences Po ist keine Maßnahme der affirmative action, wie sie im US-amerikanischen Raum bekannt ist, jedoch erreicht sie indirekt und implizit zwangsläufig junge Menschen, die zu den ethnischen Minderheiten gehören (insbesondere junge Menschen maghrebinischer und subsaharischer Herkunft) (Sabbagh, 2002): Etwa Zwei Drittel der jungen Menschen, die aufgenommen werden, haben mindestens ein im Ausland geborenes Elternteil (Sciences Po, 2009). Die Ausstrahlungseffekte in die Politik wurden bereits erwähnt, und es scheint, dass die "Förderung der Eliten" innerhalb der benachteiligten sozialen Milieus ein obligatorischer Bestandteil von Programmen zur Chancengleichheit geworden sind, denn sie wurde auch in den 2008 verabschiedeten "Plan Banlieue" aufgenommen. Eine weitere Elitehochschule, die Ecole Supérieure des Sciences Economiques et Commerciales (ESSEC), hat im Jahr 2002 ebenfalls ein Programm zur tutoriellen Begleitung von GymnasiastInnen aus benachteiligten Quartieren gestartet. Dieses sieht allerdings keine jährlichen Aufnahmequoten, sondern ausschließlich ein dreijähriges Tutoriat der Gymnasiasten vor, das durch Studierende der Grande école freiwillig durchgeführt wird. Auch die Ingenieur-Elite-Hochschule Politechnique hat vor kurzem ein Programm gestartet, das Abiturienten aus benachteiligten sozialen Milieus für die Aufnahme eines Hochschulstudiums im Rahmen eines dreiwöchigen Praktikums vorbereitet.

Im Dezember 2009 löste die Ankündigung der Ministerin für Bildung und Forschung, Valérie Pécresse, eine Quote von 30 Prozent an boursiers für die Grandes écoles einzuführen, eine lebhafte Debatte aus. Bei den boursiers handelt es sich um Studierende (und SchülerInnen), die angesichts geringer Einkommen der Eltern durch staatliche Stipendien in ihrer Bildungslaufbahn unterstützt werden. Der Vorschlag von Pécresse stieß bei der Conférence des Grandes Écoles (CGE), dem Interessensverband der französischen Elitehochschulen, auf deutliche Ablehnung. Mit dem Argument, dass die Einführung solcher Quoten dem Prinzip des Wettbewerbs (concours) widersprechen und das Niveau der Schulen dadurch leiden würde, empfahl die CGE anstelle dessen den Weg einer individuellen Frühförderung durch Tutoriate nach dem Modell der ESSEC. Nach der Ministerin sollte es sich bei den 30 Prozent jedoch nicht um eine Quote, sondern eine Zielvorgabe handeln, die voraussichtlich von einem Teil der Grandes écoles ohnehin bald erreicht werde. So wurde bereits das im Jahr 2008 vom Ministerium formulierte Ziel, unter den SchülerInnen der Vorbereitungsklassen (classes préparatoires) für die Grandes écoles einen Anteil von 30 Prozent boursiers zu schaffen, noch im selben Jahr durch eine Reform des Stipendienwesens erreicht, die die Zahl der Stipendiaten deutlich vergrößert hatte. Entsprechend kann von einem steigenden Anteil von boursiers an den Grandes écoles in den nächsten Jahren ausgegangen werden. Im Jahr 2009 betrug dieser Anteil durchschnittlich 23 Prozent, wies zugleich jedoch eine große Spannweite zwischen den verschiedenen Elitehochschulen auf. (9)

Schluss

Zusammenfassend bedienen sich die beschriebenen positiven Maßnahmen der Palette an territorialen Förderkategorien aus der sozialen Stadt- und Quartierspolitik, wobei anzumerken ist, dass auch Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramme für benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene eine Tradition in Frankreich haben, die in den letzten zwei Dekaden teilweise inflationär bedient wurden (Paugam, 2000). In Frankreich wird immer wieder darüber diskutiert, ob wie in den USA positive Maßnahmen eingeführt werden sollen, die sich speziell an Migranten, Migrantennachkommen oder „Übersee-Franzosen“ richten. (10)

Die Mittelzuwendung an die "zones d’éducation prioritaires" und weitere städtische Förderzonen sowie die Selbstverpflichtung der Elite-Universität Sciences Po, jährlich eine bestimmte Anzahl unter den besten Schülern aus benachteiligten Quartieren aufzunehmen, lassen sich wie gezeigt ansatzweise als solche Maßnahmen begreifen. Jedoch wird die ethnisch-kulturelle Herkunft nicht als explizites Zuteilungskriterium verwendet, denn dies würde das fundamentale französische Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, ohne Unterschiede aufgrund der Herkunft, Ethnizität oder Religion, in Frage stellen. Dieses Argument wird auch angeführt, wenn es um die Frage der ethnischen Statistik geht. Schon Mitte der 1990 Jahre entflammte diese Debatte mit der Veröffentlichung einer Studie von Michèle Tribalat (1995). Nachdem erst im Jahr 2007 der französische Verfassungsrat die Unrechtmäßigkeit ethnischer Kategorienbildung und Statistik bekräftigt hatte, debattieren WissenschaftlerInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen über die Bedeutung ethnischer Kategorien für eine bessere Evaluation und Bekämpfung von Diskriminierungen und über deren Gefahren einer Stigmatisierung und Realitätsverzerrung.(11

 

 

Endnoten

1 Anhaltspunkte dafür, dass die Politik der Antidiskriminierung in Frankreich engagierter als in Deutschland vorangetrieben wird, liefern die Länderberichte zu Deutschland (Atzamba, 2007) und Frankreich (Thomas-Hislaire, 2008), die den Schwerpunkt beim Monitoring legen. Vgl. auch die Länderberichte zu den Gesetzesgrundlagen und Maßnahmen. Im Unterschied zu Frankreich existieren dagegen in Deutschland sozialpolitische Maßnahmen, die sich explizit an Personen mit Migrationshintergrund wenden und die in den letzten Jahren ausgebaut wurden.

2 Eine größere Maßnahme war eine Änderung der Verfassung im Jahre 2003, die den Übersee-Territorien die Möglichkeit gibt, ihre Bevölkerung im Hinblick auf Beschäftigung und wirtschaftliche Aktivitäten gegenüber „Metropol-Franzosen“ zu bevorzugen (Calvès 2004).

3 Vgl. zu den Angaben die Jahresberichte der HALDE..

4 Der Gesetzestext findet sich hier.  Überblick über die wichtigsten Maßnahmen des Gesetzes auf Deutsch.

5 Vgl. hierzu die beiden Zeitungsartikel in  Süddeutsche Zeitung und Neues Deutschland.

6 In ihrem Vergleich zwischen der affirmative action, wie sie in den USA betrieben wird, und der positiven Diskriminierung „à la française“ weist Calvès (2004) bezüglich des letzten Punktes daraufhin, dass durch das Festlegen von Quoten in Frankreich – zum Beispiel im öffentlichen Dienst oder in den Medien – das meritokratische Prinzip nicht maßgebend ist. Es geht nach Calvès mit den Quoten nicht um die Gleichheit der Chancen, sondern um die Gleichheit des Ergebnisses.

7 Vgl. zu den jüngeren Maßnahmen der Bildungsförderung im Rahmen der Stadtpolitik. Ein im Jahr 2007 eingeführtes, sämtliche Maßnahmen im Rahmen der Stadtpolitik bündelndes Instrument sind die „Verträge für sozialen Zusammenhalt (CUCS).

8 Vgl. die online verfügbare Studie von 2002

9 Vgl. zu dem Thema die Artikel in Le Monde und Figaro.

10 Eine erhitzte Debatte zu positiven Maßnahmen in Frankreich gab es auch bezüglich des im Jahr 2000 verabschiedeten Gesetzes zur Parität zwischen Frauen und Männern bei politischen Wahlen. Das Gesetz sieht gleiche Anteile von Frauen und Männern auf den Wahllisten vor, wobei im Falle des Abweichens Sanktionen in Form von Geldstrafen verhängt werden. Kritiker des Gesetzes sahen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verletzt. Die 2006 gesetzlich vorgeschlagene Einführung einer Quote zum Anteil von Frauen in Aufsichtsräten von großen Unternehmen wurde vom Verfassungsrat tatsächlich abgelehnt. Jedoch ist nach mehreren Anläufen eine Verfassungsänderung zum Gleichheitsgrundsatz durchgesetzt worden, so dass mit Beginn 2010 ein Gesetz vom Parlament verabschiedet wurde, das stufenweise eine Quote von 20 und später 40 Prozent Frauen in Aufsichtsräten vorsieht. Allerdings muss das Gesetz vor seinem Inkrafttreten erneut die Hürde des Verfassungsrats nehmen.

11 Vgl. das Heft in der Revue Française de Sociologie, 2008, und die Petitionen in den zwei großen Zeitungen Libération vom 23. Februar 2007 und Le Monde vom 13. März 2007.

Literatur

   

Carsten Keller ist Forscher am Centre Marc Bloch, Berlin. Er vertritt die Professur für ethnische Heterogenität an der Universität Duisburg-Essen. Ariane Jossin ist Postdoktorandin am Centre Marc Bloch. Ingrid Tucci, Soziologin, arbeitet am SOEP des DIW.