von Renate Heike Rampf
Divers sein können, ist das erste Bürgerrecht
Starke Rechte nennt der us-amerikanische Philosoph Ronald Dworkin die Rechte, die der demokratische Staat jedem Einzelnen auch dann garantieren muss, wenn es die Mehrheit oder einflussreiche Gruppen nicht wollen. Dazu gehören etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Nichtdiskriminierung. Starke Rechte seien wie die Trümpfe, die die Selbstbestimmung und das Privatleben der Bürger gegen die Herrschaft der Mehrheit und des Nutzenkalküls schützen. Minderheiten erkennt man daran, dass sie nur ‚Luschen’ auf der Hand haben.
Starke Rechte für Homosexuelle gibt es im Alltag der Bundesrepublik nicht. Schwule und Lesben müssen damit leben, dass sie im Steuerrecht, im Familienrecht und im Zivilrecht diskriminiert werden. Die von der EU geforderte Umsetzung des ADG wird ihnen mit Hinweis auf die über 4 Millionen Arbeitslosen vorenthalten. Für Homos gibt es schwache Rechte: Partnerschaft aber keine Ehe, Steuerpflicht aber keine Steuergerechtigkeit, Unterhaltspflicht aber kein Recht auf Adoption.
Dennoch ist das ADG nicht unter den Top - Ten Themen der homosexuellen Community. Was bewegt, ist die emotionale Seite der Verschiedenheit. Wir reden über das Verhältnis zu heterosexuellen Freunden, die Situation der vietnamesischen Nachbarn, den türkischen Friseur, die Stimmungen im Stadtteil und die Probleme des täglichen Outings. Auch die schreibende Zunft findet Bürgerrechte nicht wirklich sexy.
Das Lieblingsthema der politischen Lesben oder theoretisierenden Schwulen ist Diversity. Der Begriff ist ein Zauberwort, ein Relaunch der Hoffnung auf ein besseres Miteinander. Diversity soll den zivilgesellschaftlichen Konsens der modernen Einwanderungsgesellschaft explizieren, die emotionale Grundlage der europäischen Staatsbürgerschaft schaffen und sich als Kommunikationskonzept in der sich globalisierenden Wirtschaft bewähren.
Aber Diversity ist auch Multi-Konflikt-Kultur und damit der Inbegriff für die Fragilität der Bündnisse zwischen den Ausgegrenzten. Denn jede Minderheit muss auf ihr eigenes Diversity-Label achten: Gender-Diversity, Sexual-Diversity, Cultural-Diversity usw. Nur so kann die Stimme des Verdrängten oder Ausgegrenzten in der Dominanzkultur Gewicht erhalten. Die Labels spalten und konstituieren Communitys.
Im Jahr 2000 startete der Lesben-und Schwulenverband in Deutschland e.V. (LSVD), Landesverband Berlin-Brandenburg, die Plakat-Kampagne „Kai ist schwul. Murat auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit“. 2001 folgte „Anna ist lesbisch. Zeynep auch!“ Beide Aktionen wurden von der Berliner Polizei und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport unterstützt. Diese bundesweit erste Emanzipationskampagne sollte die Tabuisierung von Homosexualität in den Migrations-Communitys durchbrechen, lesbische und schwule Migranten zum Coming-Out ermutigen und nicht zuletzt einen Betrag zur Gewaltprävention leisten. Der LSVD setzte sich damit dem Vorwurf aus, rassistisch zu sein. Drei Gründe wurden angeführt:
- Kritisiert wurde, dass die Kampagne vom LSVD initiiert und federführend konzipiert wurde, einer Organisation, die nicht aus der Migrations-Community stammt.
- Die Zahlen der schwulen Überfall-Telefone in Berlin und Köln, die auf Zunahme an gewalttätigen Übergriffen durch jugendliche Migranten verwiesen, seien nur Ausdruck der Ausländerfeindlichkeit der Schwulen.
- Homosexuellenfeindlichkeit sei angesichts ökonomischer Probleme und massiver Erwerbslosigkeit für Migranten nebensächlich. Zudem sei Homosexualität eine Bedrohung für die zentralen Werte wie Tradition, Islam und Familie.
Durch all diese Kritikpunkte zog sich der Tenor, jede Community sei für sich selbst zuständig, wisse kaum etwas über die anderen und solle sich nicht einmischen. Diese Forderung nach Nicht-Einmischung ist mehr als problematisch. Sie ist nicht alltagstauglich, politisch falsch und widerspricht den normativen Grundlagen von Diversity.
Angenommen die Aussagen, nach der sich Überfälle von jugendlichen Migranten auf Schwule und Lesben häufen, sei nicht repräsentativ und lediglich Ausdruck der Angst vor dem aufrückenden Fremden. Die Gefahr für ein homosexuelles Paar auf der Straße angepöbelt oder geschlagen zu werden, wäre demnach in Neukölln nicht höher als in Bad Neuenahr. Wäre damit schon klar, dass die antihomosexuelle Einstellung von Migranten nicht thematisiert werden darf? Sicher nicht. Diversity ist kein Grundsatz auf Nichteinmischung in innere Angelegenheiten einer spezifischen Community.
Die meisten Schwulen und Lesben wollen nicht in Bad Neuenahr, sondern in Berlin oder Köln wohnen. Sie wählen Stadtteile wie Kreuzberg, Schöneberg und Neukölln, in denen viele Migranten leben. Das ist ihr persönliches Bekenntnis zu Diversity und sie erwarten ein solches auch von den Anderen. Aber die meisten muslimischen Verbände zeigen ebenso wie die zahllosen Migrantenvereine keinerlei Interesse an einer systematischen Aufklärung zu Homosexualität.
Das Recht ‚Anders zu sein’ kann sich nicht mit dem Verweis auf kulturelle Unterschiede legitimieren. Ebenso wenig kann es durch kulturelle Unterschiede in Frage gestellt werden. Selbst wenn die spezifisch eigene Identität von Personen wie Paula, Vera oder Fatma durch deren Gruppenzugehörigkeit getragen wird, ist es nicht die Gruppe oder die Religion, die ihnen das Grundrecht ‚anders zu sein’ verleiht. Denn es ist kein kollektives Recht, sondern Ausdruck des höchsten Wertes des demokratischen Staates, dem Recht auf Selbstbestimmung.
Zu dem Recht auf Selbstbestimmung gehört elementar das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Es verbietet Zwangsheiraten, sexuelle Gewalt und Zwangsheterosexualität. Dieses Recht ist mit der Pflicht der Öffentlichkeit und des Staates auf Einmischung in familiäre und gemeinschaftliche Angelegenheiten verknüpft. Hier treffen sich feministische und schwul-lesbische Forderungen.
Die Kampagne „Kai ist schwul. Murat auch! bzw. Cigdem ist lesbisch. Vera auch.“ wurde in den Jahren 2004 und 2005 fortgesetzt. Diesmal konnte der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB) zur Unterstützung gewonnen werden. An den Auseinandersetzungen haben alle Beteiligten viel gelernt. Vor allem dies: Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung, Rechte für Mädchen, Frauen und Homosexuelle sind eine Herausforderung für Diversity- Konzepte.
Renate Rampf ist Leiterin des Projekts "Homosexualität in Migrationsfamilien" des Lesben und Schwulen Verbands Deutschland (LSVD) (www.lsvd.de).