Diversity eine Herausforderung für pädagogische Institutionen

von Karima Benbrahim

Es gibt keine gesellschaftliche Ebene, keinen Bereich, in dem die Frage nach der Ausgestaltung der heterogenen Gesellschaft nicht von immenser Bedeutung ist. Besonders in den pädagogischen Praxen, stellt sich die Frage, wie Menschen mit unterschiedlichen biographischen Entwürfen konstruktiv und „auf gleicher Augenhöhe" miteinander umgehen und voneinander lernen können. Oder anders ausgedrückt: Wie können Diskriminierung und Ausschlussmechanismen besonders in Bildungseinrichtungen vermieden werden? Diese Frage beinhaltet das Eingeständnis, dass es Diskriminierungen und Ausschlussmechanismen in allen Bereichen unserer Gesellschaft gibt und somit auch in den pädagogischen Institutionen.

Diversity in der Pädagogik
Beim Diversity Ansatz in pädagogischen Arbeitsfeldern muss es darum gehen, die Differenzen bzw. Differenzlinien als Ressource anzuerkennen und Gemeinsamkeiten zu finden und zu nutzen. Das Ziel des Diversity Ansatzes ist es, nicht nur auf die Vielfalt der Differenzlinien und die Heterogenität von Identitäten aufmerksam zu machen, sondern auch die Verknüpfungen mit Fragen von Macht und Abhängigkeit ins Bewusstsein zu rücken.

Der Diversity Ansatz sollte eine Weiterentwicklung antirassistischer und interkultureller Pädagogik sein, die es  erlauben, Annahmen über die Bedeutung kultureller Zugehörigkeiten und Unterschiede kritisch zu dekonstruieren, indem auf die Mehrdimensionalität und Intersektionalität der Kontexte hingewiesen werden soll, in denen individuelle Identitätsbildung und Lebenspraxis situiert ist (Albert Scherr). Damit soll der Diversity-Zugang einen selbstreflexiven Umgang mit eigenen Identitätskonstruktionen, sozialen und kulturellen Einbettungen sowie deren Verschränkung mit Dominanz- und Unterordnungsstrukturen ermöglichen (Albert Scherr).

Im pädagogischen Bereich haben einige wenige Institutionen in Deutschland angefangen den Diversity-Ansatz außerhalb des Bildungssystems als Training für LehrerInnen anzubieten. Jedoch gibt es keine strukturelle Implementierung von Diversity in den Schulen, da bislang noch kein politisches Modell besteht und damit verbunden keine strukturellen und politischen Forderungen an die Gesellschaft zur Bekämpfung von Rassismus.

Das politisierte Diversity-Modell
Das politisierte Diversity-Modell von Leah Czollek und Gudrun Perko geht davon aus, dass bestehende Theorie- und Handlungsansätze interdisziplinär verlaufen und versucht sie als Querschnittsaufgabe zur Herstellung von Chancengleichheit miteinander zu verbinden. Danach sollen Differenzlinien und gesellschaftliche Regulativae, über die der Status von Menschen bestimmt wird, reflektiert und in der Praxis berücksichtigt werden (vgl. Leah Czollek 2007).

Abbildung  Der politisierte Diversity Ansatz von Leah Czollek und Gudrun Perko

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In der Abbildung  wird deutlich, das Diversity als ganzheitliches Konzept verstanden werden müsste. Es soll politische Inhalte, Orientierungen und Ziele der einzelnen Ansätze (veranschaulicht in der Gleichung F (Feminismus) + GM (Gender-Mainstreaming + I (Interkulturalität) ... + A (Antirassismus) + E (Enthinderung) + LSBT ( Lesbisch, Schwule, Bisexuelle und Transgender)... = Diversity) enthalten, aber nicht nur die Summe aller Teile sein. Die eigenen Ansätze sollen ihren Legitimationsanspruch behalten und zugunsten der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit  für alle Menschen  miteinander verbunden werden.

Der politisierte Diversity Ansatz beschreibt ein gesellschaftliches Phänomen und eine Praxis in der es um die Veränderung homogener Institutionen,hin zu mehr, Heterogenität in seiner Komplexität und Intersektionalität geht. (vgl. Leah Czollek 2007) So setzt diese Vorstellung inhaltlich bei bestehenden Gesellschaftsanalysen an und nimmt jene Ansätze auf, denen es um die Aufhebung von Hierarchien und Teilung der Gesellschaft in Macht und Nicht-Macht, in Chancen-Haben und Nicht-Chancen-Haben etc. geht. Der politisierte Diversity Ansatz von Leah Czollek soll als praktisches Konzept auf gleiche Chancen für alle Menschen, unabhängig von dem jeweiligen sozialen, kulturellen und ethnischen Hintergrund, Religion, Alter, Geschlecht, Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, sowie körperliche Verfasstheit und unabhängig von der Nützlichkeit des jeweiligen Menschen abzielen.

Das Bildungssystem in Deutschland
Das Lernen mit Differenzen umzugehen klingt einfach und banal, die Einstellung der Institution Schule und ihrer Lehrpersonen hingegen ist traditionell nicht auf Rücksichtnahme auf Unterschiedlichkeiten ausgerichtet, wie schon Ingrid Gogolin mit ihrem Buch „Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ gezeigt hat. Mit dem „monolingualen Habitus“ wird beschrieben, dass es zum Kern des nationalen Selbstverständnisses der Schule im nationalstaatlich verfassten Bildungswesen gehörte, die vorgefundene Vielsprachigkeit und kulturellen Pluralität der Schülerschaft nicht anzuerkennen und zu fördern (Ingrid Gogolin 1994).

Bisher erscheint die Realität so, dass Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen durch eine gleichförmige Lernorganisation nivelliert werden. Der Unterricht ist so gestaltet, dass in einer Stunde alle Kinder das Gleiche lernen können und sollen. Dies bedeutet umgekehrt, dass Unterschiede wenig beachtet werden und die individuellen Fähigkeiten der SchülerInnen nicht entsprechend gefördert werden. Manche sehen darin sogar eine Einschränkung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 GG) (vgl. Klaus Seitz 2005)

Mit Blick auf die Schulbildung ist aus Sicht von Diversity zu begrüßen, dass sich aufgrund der feministischen Pädagogik bei der Lehrbucherstellung und Methodenentwicklung zunehmend auf die traditionelle Kategorisierung verzichtet wird. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass geschlechtlich unterlegte Unterscheidungen im Unterricht wie „Hausarbeit“ (für Mädchen) und “Technik“ (für Jungen) Ausnahmen bilden (vgl. Michael Stuber 2003). Dennoch fällt auf, dass andere individuelle Unterschiede kaum beachtet werden, Insgesamt lässt sich folgern, dass  die Grundkonzepte von Vielfalt und Offenheit keinen ausreichenden Schwerpunkt im deutschen Bildungssystem bilden.

Dabei geht es vor allem darum, dass Diversität als Leitkategorie und Erfahrungswirklichkeit der Setzung von kultureller Einheit, Monolingualität und einheitlicher Identität entgegengehalten wird. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine weitere Herausforderung auch auf einer anderen Ebene liegt: Bei der Thematisierung von sozialer Heterogenität muss die bisher noch weit verbreitete Praxis einer jeweils exklusiven Bearbeitung von Differenzlinien in „Spezialpädagogiken“, wo entweder zu sozialer Klasse oder zu Geschlecht oder zu Ethnizität gearbeitet wird, überwunden werden.(vgl. Rudolf Leiprecht 2006)

Andererseits bestehen Regelungen, die eine diskriminierende Wirkung haben. So kann zum Beispiel bei der Einschulung eine Überweisung in den Schulkindergarten erfolgen, wenn Defizite in der deutschen Sprache vorhanden sind. Dies trifft allerdings auch oder vor allem Kinder von Migranten, bei denen das Leistungsniveau in der Muttersprache kaum Berücksichtigung findet. Zusätzlich kann eine indirekte Diskriminierung dadurch erfolgen, dass anfängliche Sprachdefizite überbetont werden (vgl. Klaus Seitz 2005).

Bemerkenswert ist, dass es einem Bildungssystem, das in dieser Tradition wurzelt, schwer fällt, der faktischen Heterogenität der Lernenden gerecht zu werden und die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft anzuerkennen (vgl. Klaus Seitz 2005). Darüber hinaus verstellt die in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften noch immer verbreitete Prämisse, dass die Integration einer Gesellschaft vor allem über gemeinsam geteilte kulturelle Werte vermittelt werden muss, den Blick auf unsere pluralistische soziale Wirklichkeit (vgl. Klaus Seitz 2005). Einer von vielen Beweisen der Behauptung, dass noch immer zu wenig auf die deutlich eingeforderte Individualisierung und Differenzierung auf dem Gebiet der Interkulturalität im Unterricht eingegangen wird, liegt bei der Gestaltung von Schulbüchern im deutschsprachigen Raum. Es stellt sich somit die Frage, ob das deutsche Schulsystem geeignet ist, für sehr unterschiedliche SchülerInnen zeitgemäße Grundlagen für deren späteres Leben zu schaffen.

Nationale Identität und kulturelle Vielfalt in Deutschland
Besonders in pädagogischen Arbeitsfeldern (Schule, Jugendarbeit, Bildungsarbeit, etc.) ist es von großer Bedeutung, sich auch mit den Behinderungen und Gefährdungen, die sich im Zusammenleben zeigen, auseinander zu setzen. Die Beschäftigung mit Rassismen und Nationalismen in verändernder Perspektive gehören hier zweifellos dazu. Nun sind beim Aufgreifen und der Bearbeitung von gesellschaftlichen Problemfeldern die besonderen Lebensbedingungen, Erfahrungs- und Handlungsräume, die Interpretations- und Wahrnehmungsmuster und Interessen der am Bildungs- und Lernprozess Beteiligten zu berücksichtigen; und zurecht wird als eine wichtige Voraussetzung für Bildungs- und Lernprozesse die gelingende Verständigung der Beteiligten genannt.

Norbert Wenning führt aus, dass dies für in pädagogischen Arbeitsfeldern Tätige mit verschiedenen Herausforderungen verbunden ist, da sie über die Behinderungen und Möglichkeiten, die sich aus der gesellschaftlich-strukturellen Positionierung spezifischer Lerngruppen ergeben, Bescheid wissen müssen. Sie sollten in der Lage sein, günstige Voraussetzungen zu einer gelingenden Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden zu schaffen und Kenntnisse über Problemfelder verfügen (vgl. Norbert Wenning 1999). Besonders der gesellschaftliche Ort Schule als Institution muss dazu beitragen, den Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt zu lernen, Minderheiten vor Ausgrenzungen zu schützen und Vielfalt als Bereicherung besonders im Bildungsbereich zu nutzen.

Die Diskussion um Integrative Pädagogik, Interkulturelle Erziehungswissenschaft und Feministische Pädagogik sind in Ursachen und Wirkungen als Teil eines langandauernden, umfassenden Prozesses der Gleichstellung verschiedener Gruppen der Bevölkerung – der Vereinheitlichung bestimmter Merkmale – und damit als Teil des sozialen Wandels in der modernen Gesellschaft anzusehen. Norbert Wenning kritisiert besonders, dass offene Diskriminierungen von zu Erziehenden in allgemeinen öffentlichen Erziehungseinrichtungen entlang des Geschlechts, der Begabung, sozialer, kultureller oder rechtlicher Differenzierungen in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit schon lange nicht mehr kritisiert werden

So führte die Koedukation in schulischer Erziehung ebenso zu Benachteiligungen wie Sonderschulen, die zur Etikettierung ihrer SchülerInnen beitragen. Wenning kommt zum Ergebnis, dass in Bezug auf den langandauernden Gleichstellungsprozess der Bevölkerung der Bereich von Bildung und Erziehung eher von einem nachhaltigen Heterogenisierungsprozess bzw. einer Differenzierung begleitet wird (vgl. Wenning 1999). Bei den Bemühungen um einen anderen Umgang mit Verschiedenheit in pädagogischen Zusammenhängen bemängelt Norbert Wenning, dass bisher weitgehend nur einzelne Personen sich mit den „Unterschiedenen“ auseinander setzten. So engagiert sich nur ein Teil der SonderpädagogInnen für eine Integrative Pädagogik, die die räumliche und organisatorische Trennung von „behinderten“ und „nichtbehinderten“ Kindern und Jugendlichen in unterschiedliche Schulen und/ oder Klassen weitgehend aufheben möchte.

Die Interkulturelle Erziehungswissenschaft forderte als Ziel entsprechenden Unterrichts eine gemeinsame neue Perspektive – keine Anpassung der kulturell Unterschiedenen, an unhinterfragt vorgegebene kulturelle und sprachliche Standards, sowie die Vertreterinnen Feministischer Pädagogik die Ergänzung bzw. Veränderung bisheriger Theorien und praktischer Ansätze um feministische Theorien und Forschungsergebnisse als Ziel forderten (vgl. Norbert Wenning 1999).

So werden die Forderungen und Diskussionen weitgehend von VertreterInnen der beteiligten Subdisziplinen geführt, nicht von den Fachleuten für das Allgemeine der Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik. Daran wird deutlich: Die allgemeinen pädagogischen Theorien umfassen in ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht alle Gruppen, für die sie diesen Anspruch erheben. Sie sind nicht nur für alle Zeiten, an allen Orten und für alle zu Erziehenden in gleicher Weise gültig. Vielmehr scheinen allgemeine pädagogische Theorien durch ein Normalitätskonstrukt Ausgrenzungen z.B. nach „Behinderungsformen“, kulturellen Unterschieden und dem Geschlecht vorzunehmen.

Zumindest führt die pädagogische Praxis zu entsprechenden Ergebnissen; die Forderung nach einer neuen Theorie, die solche Ausgrenzungen nicht unterstützt, wird z.B. unter dem Titel „Pädagogik der Vielfalt“ von Annedore Prengel erhoben. Die Kritik der „Pädagogik der Vielfalt“ an der Allgemeinen Pädagogik ist vor allem an das eingeschränkte Normalitätskonstrukt Allgemeine Pädagogik und nur zum Teil an homogenisierende Wirkungen öffentlicher Erziehung gerichtet. Somit wäre vielmehr Position sowie Funktion von Erziehung und Erziehungswissenschaft bei Vereinheitlichung und Differenzierung zu diskutieren, da sonst die Gefahr besteht, weiterhin vorhandene Diskriminierungen nicht zu entdecken und fortzuführen.

Literatur

  • Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster, New York.
  • Seitz, Klaus (2005): Transkulturelle Identität Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion. In: Verhängnisvolle Mythen. Klaus Seitz. IKO Verlag. S. 51
  • Stuber, Michael (2003). Diversity: Das Potenzial von Vielfalt nutzen - den Erfolg durch Offenheit steigern. München: Luchterhand Verlag.
  • Wenning, Norbert (1999): Vereinheitlichung und Differenzierung. Zu den „wirklichen“ gesellschaftlichen Funktionen des Bildungswesens im Umgang mir Gleichheit und Verschiedenheit. Opladen: Leske und Budrich.
  • Czollek, Leah (2007): Dokumentation. Diversity (Cultural) Managing und interkulturelle Öffnung. S. 9 – 38

Quellen aus dem Internet

 

 

     

       

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    Karima Benbrahim ist Diplom-Pädagogin mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung.