300 Jahre Migrationsgeschichte Kreuzberg-Friedrichshain

von Martin Düspohl

Die folgende Vorstellung Kreuzbergs erfolgt durch einen Nicht-Kreuzberger, denn wie fast alle Kreuzberger bin ich Zugezogener, komme aus der westdeutschen Provinz und habe erst etwas mehr als die Hälfte meines Lebens hier verbracht.

Gebürtige Kreuzberger sind in der mittleren und älteren Generation durchaus selten. In der jüngeren Generation sieht das ganz anders aus: Da gibt es Tausende gebürtige Kreuzberger. Paradoxerweise werden gerade sie in den Medien als “Migranten” bezeichnet und auch in der öffentlichen Wahrnehmung für solche gehalten. Dabei ist die Generation der Kinder und Kindeskinder türkischer und arabischer Einwanderer hier geboren und stellt jetzt so etwas wie die Ureinwohnerschaft dar.

Historisch betrachtet ist es durchaus normal, dass es in Kreuzberg keine Alt-Eingesessenen gibt: Seit 300 Jahren tauscht sich die Bevölkerung in jeder Generation einmal aus. Die älteren Bewohner sind in der Regel immer Einwanderer in irgendeiner Form gewesen, die Kinder und Jugendlichen hier geboren. Dass Familien über mehrere Generationen bleiben, kommt selten vor. Denn wer einmal in Kreuzberg angekommen ist, will in der Regel nicht so lange bleiben, meist sogar möglichst schnell wieder weg: in die besseren Bezirke Berlins, an den Stadtrand, weiter nach Amerika oder zurück in die alte Heimat.

Dass dann doch eine ganze Reihe hier „hängen bleiben“, steht auf einem anderen Blatt. Das hängt ganz einfach mit den Möglichkeiten, die das Leben bietet zusammen und den äußeren Zwängen, denen Biografien unterworfen sind.

In der Tendenz ist Kreuzberg ein Durchgangsbezirk. Die Verweilzeiten sind mal kürzer mal länger. In Kreuzberg probiert man etwas aus, genießt die Optionenvielfalt, die das Leben im Bezirk aufweist – oder man scheitert daran.
 
Die hohe Mobilität – historisch und aktuell - ist auch der Grund dafür, dass Kreuzberg im Gegensatz zu allen anderen Bezirken Berlins bis 1991 nie ein Heimatmuseum hatte. Denn Museumsgründer sind immer die Alteingesessenen, die Traditionsbewussten, die Heimatverbundenen, die bürgerliche Honoratiorenklasse – das sind alles Begriffe, die Kreuzberg fremd sind. In Neukölln oder Schöneberg, den Nachbarbezirken, ist das anders. In diesen ehemals selbständigen Städten gab es immer auch so etwas wir Bürgerstolz und Traditionsbewusstsein. Das Neuköllner Heimatmuseum z.B. ist eines der ältesten Berlins. In Kreuzberg hat der Sinn für das Bewahren und Überliefern meist gefehlt.

Was ist also Kreuzberg?
Kreuzberg ist zunächst mal ein reines Verwaltungskonstrukt. Ein Bezirk von Groß-Berlin im Süden der historischen Innenstadt. 1920 entstanden aufgrund einer Bürokraten-Idee umfasst der Bezirk Teile der alten Luisenstadt, der Friedrichstadt und die Tempelhofer Vorstadt Berlins. Das Bezirksgebiet wird optisch geteilt in einen Nord- und einen Südteil durch die Hochbahn, die U-Bahn-Linie 1, die den Verlauf der alten Stadtmauer Berlins markiert - mit ihren Toren: dem Halleschen Tor, dem Kottbusser Tor und dem Schlesischen Tor. Viel bedeutsamer ist aber die Trennung in Ost und West, in das eher bürgerliche Kreuzberg 61 und das eher proletarische Kreuzberg 36.

Der Stadtteil hat bis heute kein erkennbares Zentrum, keinen inneren Zusammenhang und blieb 50 Jahre lang sogar ohne ein eigenes Rathaus. 1920 ist der Bezirk ein willkürliches Konvolut aus mehreren Postbezirken, einigen großen Straßenzügen, vielen alten Kasernen und Einrichtungen des ehemals kaiserlichen Militärs, zwei großen Kopfbahnhöfen, unendlich vielen kleineren und mittleren Industrie- und Handwerks-betrieben, viele davon aus der Branche der Druck- und grafischen Industrie, die das Berliner Zeitungsviertel bildeten.

Und damals hat der Bezirk ca. 300 000 Einwohnern (doppelt so viele wie heute), die ausgesprochen dicht aufeinander leben. Kreuzberg kennzeichnet die typische Berliner Mischung, später auch Kreuzberger Mischung genannt: Wohnen, Arbeiten, Handel, Vergnügen, Verkehr auf engstem Raum und in unmittelbarer Nachbarschaft.

Für dieses eigenartige Bezirkskonstrukt wurde 1920 ein Name gesucht – zunächst aber nicht gefunden. Der Bezirk bekam “provisorisch” die Ortsbezeichnung “Hallesches Tor” - nach seinem topografischen Mittelpunkt. Und wäre den Bezirksverordneten nicht ein Jahr später – 1921 – eingefallen, dass man den neuen Innenstadtbezirk nach der in ihm gelegenen höchsten natürlichen Erhebung Berlins benennen könnte, wäre es wohl bei dieser Bezeichnung (Hallesches Tor) geblieben. Die Konsequenzen wären kaum auszudenken, wir hätten dann heute einen „Liebling Hallesches Tor“ und Lange „Hallesches Tor-Nächte“, möglicherweise sogar einen „Mythos Hallesches Tor“....

Glücklicherweise kam es aber dann 1921 zur Bezeichnung „Kreuzberg“ und zwar genau einhundert Jahre, nachdem der 66 Meter hohe Berg am Südrand Berlins diesen Namen erhalten hatte. 1821 entstand nämlich auf der Spitze des Berges Schinkels Denkmal zur Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon, das Nationaldenkmal, das von einem Eisernen Kreuz gekrönt wird, und so gelangte das Eiserne Kreuz auch in das Wappen des Bezirks. Und der Bezirk bekam endlich einen Namen.

Die Kreuzberger – also die Bewohner dieses neuen Bezirks, begriffen sich in den ersten Jahrzehnten überhaupt nicht als solche. Kaufleute, Handwerker, Rentiers, Witwen, ehemaligen Offiziere, Arbeiter und Angestellten, die hier wohnten, waren in ihrem Selbstverständnis Berliner, aber keinesfalls Kreuzberger, allenfalls noch Luisenstädter oder Friedrichstädter. Wer seine Herkunft in Berlin genauer definieren wollte, fügte den Postbezirk hinzu: „Ich komme aus dem Süd-Osten“, oder aus „SO 36“, sofern man seine proletarische Herkunft unterstreichen wollte. Die feinere Gesellschaft grenzte sich ab und lebte stattdessen im Südwesten, in „SW 61“ oder „SW 68“, z.B. in Riehmers Hofgarten oder in der Villenkolonie Wilhelmshöhe. Auch die Widerstandsgruppen gegen die Nazis setzten diese Tradition fort, nannten sich „Untergruppe Süd-Ost“ und ähnlich.

Ein spezifisch Kreuzberger Selbstverständnis bildet sich erst Ende der 1950er Jahre heraus – allerdings zunächst nur in einer Avantgarde der Bewohner und Besucher dieses Bezirks. Damals etablieren sich im „armen“ Kreuzberg – weitab vom wohlhabenden Kurfürstendamm - wie auf Verabredung zahlreiche Galerien, galerieähnlich Lokale, Malkeller, Musik- und Theatergruppen in Hinterhöfen und Kellerkneipen.

Alles begann 1959 in der Oranienstraße mit der Galerie „Zinke“, die der Schriftsteller und Maler Robert Wolfgang Schnell, der Lyriker und Holzschneider Günter Bruno Fuchs, der Maler Sigurd Kuschnerus und der Bildhauer Günter Anlauf 1959 gründeten. Den Namen hatten sie von den Bettlern und Landstreichern bezogen, die sich einst mit „Zinken“, mit Zeichen und Chiffren, die sie in Hauswände und Zäune ritzten, untereinander verständigten („Taks“ – würde man heute sagen). Wenn in der „ZINKE“  an der Oranienstraße Robert Wolfgang Schnell Dada-Pamphlete vortrug oder der Blechtrommler Günter Grass las – vor Publikum, das aus der ganzen Stadt anrückte, konnte es vorkommen, dass sich übel gesonnene Hausbewohner gegen den Lärm wehrten, in dem sie ihre Plattenspieler laut aufdrehten und der „Babysitter Blues“ durch den Hinterhof dröhnte. Nach drei Jahren ertrank diese Galerie im Alkohol, hatte aber diverse Epigonen – allen voran Kurt Mühlenhaupts aus einer Trödelhandlung hervorgegangenen „Leierkasten“. Die Kreuzberger Künstler stellten ihre Bilder auf einem Bildermarkt am Kreuzberg aus – und schnell hatte die Presse eine Schublade parat für das, was sich dort im Schatten der gerade hochgezogenen Berliner Mauer tat.

Der „Kreuzberger Montmatre“ war die Begriffsprägung dieser Zeit, die schnell auch international reüssierte und so etwas wie den ersten Kreuzberg-Mythos darstellt: das Boheme-Viertel im Kleine-Leute Bezirk, nicht so schick wie sein Pariser Pendant, sondern äußerlich gekennzeichnet von dem Mief und Dunkel der Hinterhäuser und dem Gestank von abgestandenem Bier und kalten Zigarettenrauch. Ungeachtet dessen hatte dieser Mythos seinerzeit eine ungeheure Magnetwirkung.

Der Montmatre hatte seine große Zeit in den sechziger Jahren, bevor er langsam abgelöst wird vom „Berliner Blues“, von der Zeit der „Haschrebellen“ und der „Ton, Steine und Scherben“ und schließlich dem Mythos vom alternativen Kreuzberg Platz machte.

Die Berliner Stadterneuerungspolitik der Sechziger hatte die Umsiedlung großer Bevölkerungsteile in die Neubauten am Stadtrand bewirkt. Die immensen Kriegszerstörungen hatten im Westen Kreuzbergs bereits Platz geschaffen für die Idee der modernen Stadt: die Entmischung ihrer verschiedenen Funktionen, die räumliche Trennung von Arbeiten, Wohnen, Kultur und Freizeit und deren neuerliche Verbindung durch ein autogerechtes Wegesystem. Im Osten des Bezirks dagegen standen die Altbauten der Gründerzeit dieser Vision noch im Wege. Sie sollten generalstabsmäßig organisiert nach und nach verschwinden und durch das städtebauliche System „Zeilenbauten und Verkehrstangenten“ ersetzt werden – so wie man es z.B. im Viertel am Moritzplatz heute auch sehen kann.

In der Zwischenphase (Ende der 1960er, Anfang 1970er) standen viele Altbauten schon leer und warteten auf ihren Abriss. Weil dieser nicht so schnell wie geplant realisiert werden konnte, begann jetzt die große Zeit der „Zwischennutzer“ und damit die Geburtsstunde von Kreuzberg wie wir es heute kennen.

Plötzlich lebten vor allem im östlichen Teil Kreuzbergs unvorhergesehen und unbeabsichtigt drei völlig unterschiedliche Bevölkerungsgruppen Tür an Tür und teilten sich den maroden Stadtraum. Bewohnergruppen, die zunächst nichts, aber auch gar nichts miteinander verband. Sie repräsentierten zudem  – wie Pfarrer Klaus Duntze es einmal formuliert hat - auch drei unterschiedliche Beziehungen zur Zeit: Die alten Berliner, häufig selbst einmal aus Schlesien oder Pommern zugezogen oder als Flüchtlinge nach dem Krieg in den Kiez gekommen, zehren von den überkommenen und inzwischen brüchig-gewordenen Strukturen der Stadtteil-Vergangenheit. Diese Bewohnergruppe erweist sich häufig als immobil und resistent gegen ihre Umsiedlung.
 
Die seit 1964 nach Berlin geholten so genannten „Gastarbeiter“ - West-Berlin-spezifisch meist eher Gastarbeiterinnen – mehrheitlich aus der Türkei - holen ihre Familien nach und finden in den billigen Altbauquartieren Kreubergs Wohnungen auf Zeit – „unbefristet aber längstens bis zum Abriss“ wie es in den Mietverträgen damals hieß. Sie verbindet nichts mit der Vergangenheit des Quartiers, sie haben auch keinen Sinn für dessen Zukunft, sehen sie diese doch für sich in der alten Heimat. Ihr einziger Bezug zum Quartier ist der der Gegenwart: Günstige Mieten, schnelles Geldverdienen – eine Durststrecke vor der möglichst baldigen Rückkehr.

Und dann – im Gefolge von 1968 – kommen jungen Leute nach Kreuzberg, ausgerissen aus der Enge westdeutscher Kleinstädte, angezogen vom revolutionären Impetus der Freien Universität und vom neuen antiautoritären Lebensgefühl in der Mauerstadt: Studenten, Bundeswehrflüchtlinge, Abenteurer, Musiker, Künstler. Schier unendliche Möglichkeiten locken im Umfeld der heruntergewirtschafteten, schon aufgegebenen Mietshausquartiere: Anders zu sein als die Eltern, das Neue zu wagen, nie Gekanntes auszuprobieren, gesellschaftliche Zukunftskonzepte antizipieren und möglichst auch sofort und jetzt zu leben. Deren Zeitbezug, „die Zukunft“, wird von Duntze damals (1977) vielleicht ein wenig euphorisch und zu optimistisch formuliert. Denn zunächst führt der Rausch zum bösen Erwachen, wofür vor allem der unbekümmerte Umgang mit Drogen verantwortlich ist, insbesondere Heroin, das zu Missgunst, Streitereien und Neid untereinander führte. Die in Kreuzberg durchaus auch vorhandene Tendenz zur Intoleranz macht sich breit. Z.B. gab es in dieser Zeit kaum Respekt und Rücksicht gegenüber der schon länger anwesenden Altbevölkeurng.

Die Zeit der offenen Wohnungs- und Kühlschranktüren und der WGs mit Funktionsräumen währt keine fünf Jahre (ca. 1969 bis 1974). Dann kam der Katzenjammer. Doch kaum eine Zeitspanne hat Kreuzberg so nachhaltig geprägt wie diese: Die damals noch wilde Theaterszene um den jungen Regisseur Peter Stein am Halleschen Ufer, die Musikszene um elektronische Musikgruppen wie Popol Vuh in der unter dem Theater gelegenen Kneipe Zodiak, die legendäre Zeitschrift AGIT 883 mit Sitz  in der Adalbertstraße, die Scherben-Kommune am Tempelhofer Ufer, der Kampf ums Bethanien und das Georg-von-Rauch-Haus, das Thommy-Weißbecker-Haus an der Wilhelmstraße, eines der ersten selbstverwalteten Wohnprojekte für jugendliche Trebegänger, die ersten Mariannenplatzfeste und die anarchistischen Aktionen in der Anfangszeit der Bewegung 2. Juni – das alles sind abendfüllende Themen, die ich hier nur anreißen kann. Im Kreuhberg-Museum haben wir diese Zeit immer wieder zum Thema gemacht – und der von ihnen ausgehende „Mythos der Haschrebellen“ erweist sich immer wieder als Publikumsmagnet.

Für alles, was danach kam, werden in dieser Zeit die Grundlagen gelegt: für den offenen und organisierten Häuser-Kampf Anfang der 80er Jahre und die kritisch begleitete Durchsetzung des Konzeptes der behutsamen Stadterneuerung, das in die Internationalen Bauerausstellung 1987 mündet. Für die eruptiven Ausbrüche von Gewalt am 1. Mai seit 1987. 

Die achtziger Jahre stehen für Betroffenheitspolitik von unten und deren Institutionalisierung, die ihr oft genug die Speerspitze brach, für die Durchsetzung alternativer Konzepte in Politik und Gesellschaft, aber auch für Randale und Aufbegehren gegen einen immer schwieriger auszumachenden Feind.

Die achtziger Jahre sind auch die Zeit, die mit dem Multi-Kulti-Image Kreuzbergs am meisten verbunden wird. Eine Zeit der Neugierde aufeinander über die unterschied-lichen Kulturen und Herkunftsmuster hinweg (was in den 70ern noch nicht üblich war). Eine Zeit des Bemühens um Miteinander und Toleranz, was die schier inflationäre Entwicklung der Stadtteil- und Hoffeste dokumentiert. Das spezifische Kreuzberger Lebensgefühl, das Bewusstsein vom Anders- und Besonders-Sein innerhalb der Halbstadt-Metropole wird in diesen Jahren hofiert und manchmal bis zur Erstarrung gepflegt.  Kreuzberg ist das Dorf in der Großstadt – und genau das genießen seine Bewohner, die einmal der Enge der Dörfer entflohen waren, ob sie nun am Schwarzen Meer oder auf der schwäbischen Alb lagen. Die Insel Kreuzberg, das gallische Dorf, generiert aber auch die Mehrheitsgesellschaft, indem No-Go-Areas propagiert werden und zu bestimmten politischen Anlässen „SO 36“ prophylaktisch polizeilich abgeriegelt wird.

Die Öffnung der Mauer 1990 ist eine Zäsur, führt aber nicht, wie es vor allem in den Medien prophezeit wird, zu einer Gentrifizierung des Bezirks, sondern im Gegenteil zu einer wachsenden sozialen Schieflage. Wieder einmal ist es so, dass die wirtschaftlich unabhängigen und mobilen Bevölkerungsteile, darunter auch der alternative Mittelstand, dem Bezirk den Rücken kehrt und die bisher nicht gekannte Freiheit nutzt, im Grünen zu wohnen oder in den angenehmeren Vierteln des Berliner Westens, wo jetzt Wohnungen frei werden. Die Szene ist älter geworden und hat das Experimentieren satt, hat man den Eindruck. Wer weiter experimentiert, zieht nach Mitte und Prenzlauer Berg, wo jetzt der Zeitgeist weht. Eine soziale und ethnische Durchmischung von SO 36 ist in vielen Straßenzügen und vor allem in den Schulen bald nicht mehr vorhanden. Zurück bleiben – überspitzt gesagt - Menschen, die den Absprung aus eigener Kraft nicht schaffen – und die wahren Kreuzberg-Liebhaber, die nirgendwoanders sein möchten.

„Segregation“ und „Marginalisierung“ sind die Begriffe, mit denen die vorherrschenden Tendenzen in den 90er Jahren richtig beschrieben werden. Die Inanspruchnahme des sozialen Netzes durch eine wachsende Prozentzahl von Arbeitslosikeit betroffener Kreuzberger ist dabei zumindest teilweise ein hausgemachter Effekt: Die verheerenden Folgen der Abwanderung wird von der Politik Anfang der neunziger Jahre nicht erkannt. So bleibt zum Beispiel die Erhebung einer Fehlbelegungsabgabe von Besserverdienenden in Sozialwohnungen bestehen, obwohl sich Familien für den Mietpreis einer Sozialwohnung in Kreuzberg inzwischen auch ein Reihenhaus am Stadtrand mit Garten mieten können.

Und was noch schwerer wiegt: Die verbliebenen West-Berliner Industriebetriebe entlassen zu Tausenden ihre ausländischen Arbeitnehmer und stellen stattdessen die „billigeren“ Arbeitskräfte aus Ost-Berlin und dem Umland ein. Die Reaktion kommt prompt: Die Betroffenen begreifen diese Maßnahme als einen unfreundlichen und ausländerfeindlichen Akt und sehen nicht die wirtschaftlichen Motive, die sich dahinter verbergen. Zeitlichfällt das auch noch zusammen mit Angriffen in Mölln, Rostock, Hoyerswerda und Solingen. „Man braucht uns in Deutschland jetzt nicht mehr und man will uns auch nicht mehr“ ist bei vielen Migranten und deren Nachfahren die Reaktion. Der Rückzug in die eigene Ethnie und Religion, die jetzt allein noch positive Identifikationen“ liefern können und das Selbstwertgefühl speisen, sind nachvollziehbare subjektive Konsequenzen, über die wir uns heute nicht wundern dürfen, und auch nicht so tun dürfen, als sei das völlig überraschend gekommen und außerhalb unserer Verantwortung.

Die Begriffsschöpfung „Klein-Istanbul“ für SO 36 fällt ebenfalls in diese Zeit. Ich habe diesen Begriff so erstmals in einem Prospekt eines Ost-Berliner Bildungsvereins gelesen. Von den türkischen Kreuzbergern wird er schon bald „positiv gewendet“. „Kücük Istanbul“ enthält bei aller Niedlichkiet und trotz des höchst unzutreffenden Vergleichs auch diesen Aspekt der Wertschöpfung aus den besonderen Qualitäten des Herkunftslandes. (Bei aller Liebe: Istanbul ist in vieler Hinsicht europäischer, eleganter und aufgeklärter als es Kreuzberg an einigen Ecken ist.

Versuche, an die Selbsterneuerungskräfte und die Multi-Kulti-Euphorie der 80er anzuknüpfen, als die Integrationsprozesse der unterschiedlichen Gesellschaften Kreuzbergs bereits weiter voran geschritten waren, wie der Einrichtung von Quartiersmanagements und Jobförderungsprogramme erfolgen seit etwa 2000 zu spät und haben kaum die gewünschten sozial- und wirtschaftspolitischen Effekte.

Aus solchen Tatsachen das Scheitern des „multikulturellen Experiments Kreuzberg“ abzuleiten, wäre viel zu kurz gegriffen. Denn dass sich in Kreuzberg in den 70er Jahren eine für Westdeutschland völlig untypische multikulturelle Bevölkerungsmischung einstellte (ganz grob: ein Drittel Berliner Kiezrentner, ein Drittel aufmüpfiges, gebildetes junges Volk und ein Drittel Arbeitsmigranten aus der Türkei), das ist in keinster Weise Ergebnis eines von irgend einer Seite gewollten oder initiierten Experiments gewesen, sondern lediglich folgerichtige Entwicklung einer verfehlten Stadterneuerungs- und Einwanderungspolitik – vielleicht absehbar, aber keinesfalls beabsichtigt.

Dass die Kreuzberger unter den gegebenen Bedingungen „das Beste gemacht haben“, ist einzig und allein ihr Verdienst. Wenn es jetzt zu einer Desillusionierung über die Chancen und die Selbstheilungskräfte multikultureller Gemeinwesen gekommen ist, dann doch nur deshalb, weil sich auch in Kreuzberg seit 1990 ein Stück „Normalität“ durchgesetzt hat: mit den Kräften des Marktes und der herrschenden Politik, die in den 80er Jahren aufgrund der besonderen politischen Situation West-Berlins  und des Engagements der Kreuzberger Bevölkerung ein Stück weit außer Kraft gesetzt werden konnten – wohlgemerkt: ich meine die höchst problematische Normalität, die wir in Berlin gegenwärtig erleben.

Dass Kreuzberg auch aus den jetzt gegebenen „normalen Bedingungen“ wieder das Beste machen wird, davon bin ich trotz allem überzeugt.

 

Bild entfernt.

Martin Düspohl ist Leiter des Kreuzberg Museums.