Interkulturelle Orientierung einer Kommune als Organisationsentwicklung

von Helmuth Schweitzer

Als erste Großstadtkommune in Deutschland hat der Rat der Stadt Essen im Frühjahr 1999 einstimmig ein umfassendes „Konzept für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen“ mit 154 Einzelmaßnahmen auf der Grundlage eines interkulturellen Leitbilds für Rat und Verwaltung beschlossen (Stadt Essen 1999). Die im folgenden beschriebenen Innovationsprozesse bei der Entwicklung und Umsetzung des „Konzepts zur interkulturellen Arbeit in der Stadt Essen“ sollen die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von interkultureller Organisationsentwicklung auf kommunaler Ebene in ihren verschiedenen Facetten beleuchten.

Die Vorgeschichte: langjährige Netzwerkbildung
Das „Essener Modell“ (MASKS 2001) ist „nicht vom Himmel gefallen“, sondern das Ergebnis der 25jährigen Arbeit eines interkulturellen, auch informell funktionierenden, aber institutionell getragenen Netzwerkes von politisch durch die Mehrheitsfraktion unterstützten Mitarbeitern der Stadtverwaltung, der Universität Essen, aus nichtstädtischen Institutionen und Repräsentanten von Migrantenorganisationen. Eckpfeiler dafür waren:
• Bereits 1975 hat die Stadt Essen einen Ausländerbeirat eingerichtet mit Repräsentanten der  Migrantencommunities und einer personell gut ausgestatteten, interkulturell kompetenten hauptamtlichen Geschäftsstelle (Meys 1986).
• 1980 wurde die „Regionale Arbeitsstelle zur Förderung ausländischer Kinder und Jugendlicher (RAA)“ gegründet, zunächst als Modellversuch. Seit 1985 wird sie als Regelinstitution vom Land NRW und der Stadt Essen finanziell gefördert.
• Seit zwei Jahrzehnten existiert eine kleinräumig angelegte, differenzierte Sozialraumberichterstattung (Wermker 1997).
• Diese drei Pfeilern stützten interkulturellen Stadtteilprojekte, die das Ziel verfolgen, das Verwaltungshandeln insgesamt (über die Sozialarbeit hinaus) auf die Lebenswelt der Menschen unterschiedlicher Herkunft hin im Sinne von „Quartiersmanagement“ umzuorganisieren (Hinte / Dorsch 1984; Grimm / Micklingshoff / Wermker 2001).

Alle vier Faktoren führten Mitte der 80er Jahre dazu, dass die Verwaltung im Auftrag des Rates zwei mit umfangreichem Datenmaterial gefüllte, mehrere hundert Seiten starke Handlungsprogramme „zur Integration ausländischer Arbeitnehmer“ bzw. zur „Eingliederung ausländischer Flüchtlinge“ erarbeitete. Obwohl die dort niedergeschriebenen Konzepte den Übergang von der „traditionellen Ausländerarbeit zur interkulturellen Orientierung“ kommunalen Handelns auch schon sprachlich andeuteten, blieb die Umsetzung der meisten Handlungsvorschläge doch unverbindlich. Sie ließen sich – wie viele anderswo  entstandenen kommunalen Handlungskonzepte auch - charakterisieren als „Papiere von folgenloser Richtigkeit“.

Verwaltungs-Vorreiter: ein ganzheitliches dezernats- und institutionsübergreifendes Pilotprojekt
Die Grenzen der traditionellen Verwaltungssteuerung wurde zehn Jahre später deutlich: Im Jahre 1995 eskalierten die zwischenzeitlich latent gewachsenen, ethnisch aufgeladenen sozialen Konflikte zwischen libanesischen Großfamilien als Mieter und De-facto-Flüchtlinge mit Sozialhilfeanspruch  einerseits und ihren deutschen Vermietern bzw. den einheimischen Nachbarn und verschiedenen städtischen Ämtern andererseits. Mangels bezahlbarer Alternativen auf dem kommunalen Wohnungsmarkt lebten diese Flüchtlingsfamilien mit ungesichertem Aufenthaltsstatus seit zehn Jahren räumlich konzentriert in einigen Stadtteilen Essens und praktizierten Überlebensstrategien, die sich einerseits durch eine Mischung aus Unkenntnis, Überforderung und Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Rolle als Mieter (bei der Übernahme von Verantwortung für die Wohnung und ihr Wohnumfeld), zum anderen teilweise durch Aggressivität (insbesondere der Kinder) gegenüber ihren etablierten (deutschen und nichtdeutschen) Nachbarn äußerten. Deren Ohnmachterfahrung gegenüber den Flüchtlingsfamilien und gegenüber dem „hilflosen Staat“ veranlasste die Nachbarn zu Beschwerden gegenüber der Stadtverwaltung („Ich lass‘ mich doch nicht als Nazi beschimpfen“).

Daraufhin brachte der zum damaligen Zeitpunkt in der Geschäftsstelle des Ausländerbeirats tätige Autor den Stein für eine neue qualitative Stufe von interkultureller Organisationsentwicklung innerhalb der Stadtverwaltung ins Rollen (vgl. Schweitzer 1996): Der Oberstadtdirektor richtete eine konzeptionell und operativ tätige, ihm direkt unterstehende dezernatsübergreifende Projektgruppe ein. Unter Federführung des Autors und zunächst mit finanzieller Förderung durch das nordrhein-westfälische Sozialministerium (später über eine neu eingerichtete Haushaltsstelle der Stadt), erhielt die Projektgruppe aus dreizehn Ämtern sowie nichtstädtischen Institutionen den Auftrag, auf zentraler und dezentraler Ebene die Arbeit zu koordinieren und den sozialen Frieden wieder herzustellen. Durch die drei Jahre später auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnte Tätigkeit der Projektgruppe ist den deutschen Kommunalpolitiker/innen und Verwaltungsspitzen der Erfolg bei der Entschärfung aktueller Konflikte und der Etablierung neuer, präventiv und ganzheitlich orientierter stadtteilbezogener Verwaltungsstrukturen sichtbar geworden (Stadt Essen 1999, 265 ff).

Das „Konzept für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen“: Beteiligung aller Netzwerkpartner
Es ist deshalb kein Zufall, dass das mit den ersten Erfolgen der Projektgruppenarbeit im Jahr 1996 die Verwaltung den Auftrag erhielt, auf der Grundlage eines Sozialberichtes zur Lebenssituation von nichtdeutschen Einwohnerinnen und Einwohner in Essen die zehn Jahre alten Handlungsprogramme zur „Integration ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ bzw. zur „Eingliederung ausländischer Flüchtlinge“ zu aktualisieren. Im Unterschied zum vorherigen Verfahren wurde das neue Handlungskonzept jedoch nun partizipativ in einem vielstimmigen Diskurs mit allen im Bereich der Migration tätigen Vertreterinnen und Vertreter der relevanten städtischen Ämter, Verbände, der Universität / Gesamthochschule Essen, der Polizei, den Ratsparteien und dem gewählten Ausländerbeirat erarbeitet. Von einer Vielzahl möglicher Themenfelder wurden in einer Auftaktveranstaltung von diesen Akteuren selbst zentrale Bereiche ausgewählt: Elementarerziehung, Schule; Kinder- und Jugendarbeit; soziale Beratung und Betreuung sowie Seniorenarbeit; Arbeit, Qualifizierung und Beschäftigung; Wohnen; Jugendkriminalität und das bereits durch die Projektgruppe bearbeitete Thema „interkulturelle Konflikte“.

Auf der Grundlage eines ca. 18monatigen, intensiven Diskussionsprozesses (Krummacher 1999) in den thematischen „Arbeitsgruppen“ wurden insgesamt 154 Einzelmaßnahmen mit unterschiedlicher Konkretionsstufe entworfen. Zusammen mit daraus abgeleiteten Querschnittsthemen aller Arbeitsgruppen (mehrsprachige Informationen, Dolmetscherdienst, interkulturelle Fortbildungsangebote, Einstellung bikultureller Fachkräfte, Sozialraumorientierung, Bürgerbeteiligung) und den abschließend  - als Ergebnis dieses Diskussionsprozesses - formulierten gesamtstädtischen Leitzielen „zur interkulturellen Orientierung des Konzerns Stadt Essen“ entstand das „Konzept für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen“ (Stadt Essen 1999).

 

 Leitlinien für die interkulturelle Orientierung als Konzernziel der Stadt Essen
  • Ermöglichen des gemeinsamen Lebens und Lernens von Einheimischen und Zuwanderern unter Einbezug ihrer unterschiedlichen Lebenserfahrungen
  • Erweiterung der Handlungskompetenzen und Erfahrungsmöglichkeiten, so dass ein Miteinander gefördert und die Isolation und das Misstrauen untereinander überwunden werden
  • Das Verhalten und die Handlungen von Menschen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen kulturellen Zusammenhänge einerseits akzeptieren, andererseits nachvollziehbar und verständlich zu machen
  • Konflikte demokratisch und mit friedlichen Mitteln auszuhandeln
  • Eigenethnische Strukturen akzeptieren
  • Gemeinsamkeiten austauschen und neu entwickeln
  • Abbau von Benachteiligungen

 

Interkulturelle Orientierung als „Konzernziel“ mit Controlling
Mit einstimmigem Ratsbeschluss vom 28.04.99 wurde erstmalig für eine Kommune in Deutschland der „Ausbau der interkulturellen Orientierung“ zu einem „Konzernziel“ erhoben und mit einem Controlling-Modell verbunden. Die damit einhergehende interkulturelle Organisationsentwicklung innerhalb der Stadt Essen hat damit eine neue qualitative Stufe erreicht.
Kernelement dieser Controllingstruktur ist eine Steuerungsgruppe. Sie besteht aus den Leitern der thematischen Arbeitsgruppen (u. U. auch nichtstädtischen Akteuren), der unteren Schulaufsicht des Landes, Vertretern der Fraktionen im Rat und dem Ausländerbeirat. Die Steuerungsgruppe wird geleitet von der Beigeordneten für Jugend und Soziales, die im zielverantwortlichen Geschäftsbereichsvorstand für das Konzernziel „Interkulturelle Orientierung der Verwaltung“ verantwortlich ist, und von der ihr direkt unterstellten Dienststelle RAA / Büro für interkulturelle Arbeit koordiniert. Die RAA hat auch die Prozessverantwortung für die Umsetzung des Konzepts.
Seit nunmehr fünf Jahren hat die Steuerungsgruppe folgende zentrale Aufgaben wahrgenommen:

• Priorisierung der 154 Einzelmaßnahmen bezüglich ihrer aktuellen Umsetzungsnotwendigkeit
• Konsensbildung über die Kostenkalkulationen, die von den jeweils für die Umsetzung der Maßnahmen verantwortlichen Fachbereichen eingebracht wurden.
• Erarbeitung einer Empfehlung zur Umsetzung der jeweils priorisierten Vorschläge einschließlich ihrer Finanzierung für die Entscheidung im Stadtrat.
• Bewertung des Verlaufs und der Perspektive der vom Rat beschlossenen Maßnahmen im Rahmen eines von der RAA/Büro für interkulturelle Arbeit zusammengestellten, in der Steuerungsgruppe verabschiedeten jährlichen Umsetzungsberichtes.

Grundlage dieses Evaluationsverfahrens in der Steuerungsgruppe ist der Konsens aller ihrer Mitglieder. Maßnahmen, über die keinen Konsens erzielt werden kann, werden zunächst zurückgestellt und kommen in den „Speicher“ auf Wiedervorlage.

Die RAA als interkulturellen Innovationsagentur in der Verwaltung
Zeitgleich mit der einstimmigen Verabschiedung des „Konzepts für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen“ im April 1999 wurde aus der Geschäftsstelle für kommunale Ausländerangelegenheiten als ehemaliger Stabstelle im Jugend- und Sozialdezernat und der RAA als Abteilung des Schulverwaltungsamts im Geschäftsbereich Schule die neue Dienststelle RAA / Büro für interkulturelle Arbeit der Stadt Essen geschaffen.

Dieser Organisationsentwicklungsprozess ging von den Mitarbeiter/innen der beiden bis 1999 getrennt, aber in überlappenden Arbeitsfeldern agierenden Dienststellen aus und konnte erst umgesetzt werden, nachdem die verantwortlichen Politiker innerhalb der SPD als der damaligen Mehrheitsfraktion nicht nur von den fachlichen Synergieeffekten, sondern von den damit zu erzielenden finanziellen Einsparungen im Verwaltungsbereich überzeugt werden konnten. Die RAA hatte bereits zahlreiche Modellprojekte im Bildungsbereich über Drittmittel akquiriert, während die Geschäftsstelle für kommunale Ausländerangelegenheiten ihre Stärken im Bereich des Verwaltungspersonals mit in die „Ehe“ einbrachte, so dass die erhofften Synergieeffekte tatsächlich eintrafen.

Doch die neue Größenordnung der zusammengelegten Organisationseinheit mit über 15 festen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und weiteren zeitlich befristeten Projektmitarbeitern einerseits sowie die neue vom Rat der Dienststelle übertragenen Aufgabenstellungen bei der Umsetzung des „Konzepts für die interkulturelle Arbeit“ andererseits machten zunächst einen von der neuen Doppelspitze „Top-Down“ initiierten und im Gegenstromverfahren von den Mitarbeitern „Bottom-up“ mit viel persönlichem Engagement aufgegriffenen internen Organisationsentwicklungsprozess erforderlich. Dieser interne Organisationsentwicklungsprozess mit Mitarbeiter/innen aus unterschiedlichen beruflichen Sozialisationserfahrungen (Lehrer, Sozialpädagogen und Verwaltungspersonal) ging allerdings für Außenstehende fast geräuschlos über die Bühne. Dies wird bis heute durch ein erhebliches Maß an Selbstausbeutung fast aller Kolleginnen und Kollegen erkauft.

Die hohe Leistungsfähigkeit und Wirkung der RAA / Büro für interkulturelle Arbeit werden durch eine jeweils produktspezifische Verknüpfung von strategischen und operativen Aufgaben der Dienststelle erkennbar:
a) Die beiden zentralen strategischen Aufgaben beziehen sich auf
• die Prozessverantwortung für die Vorbereitung und Umsetzung von Ratsbeschlüssen zu Maßnahmen des interkulturellen Konzepts, Geschäftsführung der Steuerungsgruppe, Erstellung der Vorlagen für die Ratsausschüsse, Bewilligung der Fördermittel an die städtischen und nichtstädtischen Träger für Einzelmaßnahmen und Programme aus der Haushaltsstelle zum interkulturellen Konzept und Maßnahmencontrolling etc.
• die Entwicklung von innovativen Produkten gemeinsam mit den jeweiligen städtischen Fachdienststellen und nichtstädtischen Kooperationspartnern, der anschließenden Erprobung mit Hilfe von Eigen- bzw. Drittmitteln der Dienststelle und - im Falle erfolgreicher Erprobung – deren Implementierung „vom Modellprojekt zum nachhaltig wirkenden Programm in der Fläche“ bis zur Übergabe der Produktverantwortung an die Regeleinrichtungen.

b) Ein großer Teil der Personalressourcen für die operativen Aufgaben der Dienststelle wird durch die eigenverantwortliche Erprobung von zuvor strategisch entwickelten innovativen Produkten zur interkulturellen Orientierung der Gesamtverwaltung gebunden. Hinzu kommt die Beratung von Institutionen insbesondere im Bildungsbereich in allen Fragen der Förderung von sozialbenachteiligten Migranten und des interkulturellen Lernens (Systemberatung von Schulen) mit den vom Land über abgeordnete Lehrerstellen zur Verfügung gestellten Ressourcen
• Die Fortbildung von Multiplikatoren zur Förderung des interkulturellen Zusammenlebens – und Lernens insbesondere im Stadtteil („interkulturelle Konfliktvermittlung in der Nachbarschaft“),
• die Unterstützung von Migrantenselbstorganisationen und schließlich
• die Geschäftsführung für den Integrationsbeirat (ehemaligen Ausländerbeirat)
• sowie zukünftig die noch wesentlich arbeitsintensivere Geschäftsführung für den neu eingerichteten Ratsausschuss für Zuwanderung und Integration.

Durch diese Verknüpfung von operativen Aufgaben mit der strategischen Orientierung und ihren Querschnittsfunktionen über den Bildungsbereich hinaus in die städtischen und nichtstädtischen Regelinstitutionen hinein hat sich das multiprofessionell und multikulturell zusammengesetzten Mitarbeiter–Team der RAA / Büro für interkulturelle Arbeit zu einer Innovationsagentur entwickelt, die den beginnenden Prozess der interkulturellen Organisations- und Personalentwicklung innerhalb und außerhalb der Stadtverwaltung fördert.

Das interkulturelle Konzept übersteht politische Mehrheitswechsel
Seit 1999 haben sich die politischen Mehrheiten in Essen mehrfach geändert: Nach den Kommunalwahlen im Herbst 1999 wurde die fast 40jährige absolute Mehrheit der SPD von einer absoluten CDU-Mehrheit abgelöst. Seit der Kommunalwahl 2004 wiederum gibt es in Essen eine schwarz-grüne Zusammenarbeit. Die von den Kommunalwahlen bestimmten Veränderungen sowohl in der Zusammensetzung als auch in der politischen Mehrheitsbildung des Rates machen es erforderlich, zu Beginn einer neuen Ratsperiode jeweils immer wieder neu für die Umsetzung des interkulturellen Konzeptes und den damit verbundenen Organisationsentwicklungsprozess zu werben. Im Unterschied zur alten CDU-Mehrheit heben die Kooperationsvereinbarungen zwischen CDU und Grünen vom November 2004 ausdrücklich die Bedeutung des Konzepts für die interkulturelle Arbeit hervor und fordern zum erstenmal explizit die Entwicklung eines Gesamtkonzepts zur interkulturellen Personalentwicklung.

Die Haushaltsberatungen geben jeweils auch Aufschluss darüber, wie weit der interkulturelle Organisationsentwicklungsprozess innerhalb der Verwaltung bereits vorangeschritten ist. Grundlage für die Umsetzung der vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen des interkulturellen Konzepts sind drei verschiedene Typen der Finanzierung:

• Drittmittel (von Bund, Land, EU, Stiftungen, privaten Spenden) wurden überwiegend von der RAA/Büro für interkulturelle Arbeit für zwei- bis dreijährigen Modellprojekte angeworben. Ein entscheidender Indikator für den Erfolg dieser Modellmaßnahmen ist die Bereitschaft des Rates, erfolgreich evaluierte Modelle nach Auslaufen der Drittmittelförderung in die Regelfinanzierung durch die Kommune zu übernehmen. Dies geschieht im wesentlichen durch eine zweite Form der Mittelbereitstellung, d.h. durch
• Umschichtung innerhalb der Dezernate / Geschäftsbereiche (bislang zu 90 % aus dem Geschäftsbereich „Jugend und Soziales“ und zu 10 % aus dem Geschäftsbereich „Bildung / Schule“)
• Viele der ersten insgesamt im Jahr 2000 beschlossenen 70 Einzelmaßnahmen wurden jedoch durch die Mittelbereitstellung aus dem laufenden Etat im Rahmen der bestehenden Haushaltsstellen in den jeweiligen Fachbereichen umgesetzt.

Die ursprüngliche Idee, eine gemeinsame Haushaltsstelle für alle Maßnahmen des interkulturellen Konzepts durch eine Umlage aus allen Geschäftsbereichen zu schaffen ist bislang nicht realisiert worden. Denn die meisten bislang vom Rat priorisierten Maßnahmen fallen in die Zuständigkeit der Beigeordneten für Jugend und Soziales und damit in den Bereich, den sie am ehesten durch Umschichtung von Haushaltsmitteln im eigenen Dezernat steuern kann.

Neue konzeptionelle Akzente
Mit dem ersten Umsetzungsbericht vom Frühjahr 2000 hat sich der Rat die bildungsökonomische, demographische und sozialpolitische Begründung für die Notwendigkeit eines städtischen „Gesamtkonzepts für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen“ zu eigen gemacht. Der zweite wesentlich umfangreichere Umsetzungsbericht der Steuerungsgruppe vom August 2001 beinhaltet die erste Evaluation der 75 begonnenen Maßnahmen im Hinblick auf ihre Zielerreichung, Institutionalisierungswürdigkeit, aber auch Korrekturnotwendigkeit auf der Basis der internen Evaluation durch die jeweiligen Produkt- bzw. Projektverantwortlichen. Darin wurde dem Rat empfohlen, auch einige neue inhaltliche Akzente für die zukünftige Ausgestaltung des interkulturellen Profils im Konzern Stadt Essen zu setzen. Dazu gehören:
• die systematische Einbeziehung von Spätaussiedlern in das Handlungsprogramm.
• die Notwendigkeit zur Installierung eines kleinräumigen sozialen Monitoring durch Einrichtung einer neuen Entwicklungsarbeitsgruppe mit dem Titel „Statistische Grundlagen“.
• die stärkere Betonung des interkulturellen Lernens auf zwei Ebenen: Dies betrifft zum einen die Notwendigkeit, verstärkt bei der einheimischen deutschen Bevölkerung Akzeptanz für die interkulturelle Neuorientierung der Kommunalpolitik zu werben. Dies bedeutet vor allem, bei allen Maßnahmen z. B. in der Sprachförderung des Elementar- und Primarbereichs, auch die benachteiligten einheimischen Gruppen mit einzubeziehen. Zum anderen wird mit dem interkulturellen Lernen ausdrücklich die Aufforderung verbunden, gegenseitiges Missverstehen bzw. „Befremden“ am Verhalten einzelner Mitglieder der jeweils anderen Gruppe – zumindest vor Zeugen - auch offen auszudrücken und auf dieser Basis Tabus in der asymmetrischen interkulturellen Kommunikation aufzubrechen.
• die Entwicklung und Umsetzung eines „Gesamtkonzepts  Sprachförderung“

Vom erprobten Modellprojekt in die Fläche und in die Linie
Wie der interkulturelle Organisationsentwicklungsprozess in der Gesamtverwaltung unterstützt, wodurch er aber auch behindert werden kann, soll im folgenden anhand einiger Beispiele aus der Implementierung von erprobten Produkten in die städtischen und nichtstädtischen Regelsysteme illustriert werden:

• Der Vorschlag des zweiten Umsetzungsberichts zum Konzept für die Interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen, eine neue Entwicklungsarbeitsgruppe „Interkulturelle Personalentwicklung“ einzurichten, erhielt innerhalb der Personalverwaltung nach anfänglicher Zurückhaltung erst kürzlich eine neue strategische Relevanz. Nachdem der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs bei den städtischen Ausbildungsplätzen offensichtlich geworden war, vereinbarten die CDU und Bündnis 90 / Die Grünen ein Konzept zur interkulturellen Personalentwicklung in der Stadtverwaltung zu erarbeiten.
• In der gesamten Verwaltung stößt vor dem Hintergrund des Haushaltsdefizits der Stadt Essen in Milliardenhöhe die Forderung des interkulturellen Konzepts, mehr zweisprachige interkulturell qualifizierte Mitarbeiter einzustellen auf finanzpolitische Grenzen, so dass eine interkulturelle Qualifizierung des vorhandenen Personals als einer grundlegenden Voraussetzung von interkultureller Organisationsentwicklung dringend geboten ist.
• Innerhalb des Fachbereichs „Jugend und Soziales“ wurde die Förderung von interkultureller Kompetenz bei Lehrern, Sozialarbeitern und Erziehern im Wesentlichen durch eingeworbene Drittmittel zur Fortbildung aller 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes des Jugendamts sowie durch ein erfolgreiches Modellvorhaben im Elementarbereich “) vorangetrieben - mit den Elementen Elternbildung, Fortbildung von KiTa-Teams und Sprachförderung in zehn Kindertagesstätten mit über 50 %-igem Anteil an Migrantenkindern durch zweisprachige Elternanleiterinnen („Stadtteilmütter (Stadt Essen 2004a). Aufgrund der positiven Projekterfahrungen im Elementarbereich hat der Rat der Stadt beschlossen, dieses  Modell mit seinen drei Modulen  als Programm für alle Kindertagesstätten mit Migrantenanteil von über 30 % in die Fläche zu bringen.
• Die bei dem kombinierten Elternbildungs- und Sprachförderprojekt deutlich erkennbaren positiven Wirkungen bei den Müttern, ihren Kindern und den zweisprachigen Multiplikatoren haben die Grundschullehrer im Einzugsgebiet veranlasst, die Projektkonzeption aus der Kindertagesstätte in die Grundschule zu übertragen. Geradezu „revolutionär“ für das deutsche Bildungssystem ist die durch die Implementierung des Projekts ausgelöste interkulturelle Organisationsentwicklung:
Inzwischen lassen sich die beteiligten zehn Grundschulen darauf ein, die jeweiligen Themen nicht nur synchron mit den von den Stadtteilmüttern angeleiteten Müttergruppen der eigenen Schule, sondern darüber hinaus auch in allen zehn Grundschulen gleichzeitig das selbe Thema mit den gleichen Unterrichtsmaterialien zu bearbeiten (Stadt Essen 2004 b).

Weiterhin ist es der RAA / Büro für interkulturelle Arbeit gelungen, die operative Verantwortung für die Umsetzung des Elternbildungsprogramms in der Grundschule vertraglich über mehrere Haushaltsjahre abgesichert an die katholische Familienbildungsstätte zu übergeben. Seit dort regelmäßig Stadtteilmütter mit Kopftuch erscheinen und die Müttergruppen vorbereiten, werden in dieser katholischen Einrichtung neue Schritte zur interkulturellen Organisationsentwicklung möglich.

Das vom Rat der Stadt Essen einstimmig verabschiedete Gesamtpaket zur interkulturellen Sprachförderung und Elternbildung von der frühkindlichen Erziehung über die  Sekundarstufe II bis zur Erwachsenenbildung in Deutschkursen bindet gegenwärtig 80 % der Haushaltsmittel für die in das Controlling-Verfahren bislang einbezogenen, z. T. mehrjährigen Programme und Einzelmaßnahmen. Für das Haushaltsjahr 2004 wurden insgesamt auf 1,2 Mio. Euro an kommunalen Haushaltsmitteln bereitgestellt, für den Haushalt 2005 ist noch einmal eine Erhöhung um ca. 60 % auf knapp zwei Millionen Euro beim Kämmerer angemeldet.

Perspektiven
Das Essener Modell interkultureller Organisationsentwicklung setzt jedoch bestimmte Rahmenbedingungen voraus, die trotz der hohen Auflagen der Kommunalaufsicht zur Haushaltskonsolidierung (mit einem jährlichen Defizit von über 400 Millionen Euro!) nach wie vor auf der Grundlage kommunaler Selbstverwaltung mit Mitteln der Neuen Verwaltungssteuerung positiv beeinflusst werden können. Dazu gehören:
• der politische Wille der Ratsmehrheit, die interkulturelle Orientierung der Gesamtverwaltung als Querschnittsaufgabe zu betrachten und dies auch haushaltswirksam zu machen,
• ein zur Umsetzung dieses Konzernziels zielverantwortliches Verwaltungsvorstandmitglied mit starkem persönlichen Engagement für die Sache und dem Willen, im Verwaltungsvorstand mit dem Kämmerer die notwendigen Haushaltsmittel zu erwirtschaften sowie
• eine strategisch und operativ tätige interkulturelle Innovationsagentur, die – wie die RAA / Büro für interkulturelle Arbeit in den letzten fünf Jahren - im Vertrauen auf die nachgewiesenen Erfolge innerhalb und außerhalb der Verwaltung die Möglichkeit erhält, ihre strategische Innovationskompetenz in Zusammenarbeit mit den Fachdienststellen umzusetzen.

Die Zukunft des Essener Modells von Interkultureller Organisationsentwicklung der Verwaltung wird letztlich davon abhängen, unter welchen lokalen strukturellen, finanziellen und personellen Bedingungen die Grundprinzipien strategischer Steuerung der Gesamtverwaltung in Kooperation mit den freien Verbänden als Maßnahmeträgern im Zusammenwirken mit einer parteiübergreifenden Kommunalpolitik bezogen auf die Zukunftsaufgaben einer schrumpfenden, aber „bunter“ werdenden Stadt nachhaltig verankert werden können. Der kreative Umgang mit den von der Kommunalaufsicht vorgegebenen haushaltspolitischen Restriktion wird dabei eine wichtige Rolle spielen.

Literatur:

Hinte, W. / Dorsch, W. (1984): Stadtteilorientierte soziale Arbeit mit Ausländern und Deutschen. Konzeptionelle Grundlagen und praktische Erfahrungen. In: Stüwe, G. / Peters, F. (1984): Lebenszusammenhänge von Ausländern und pädagogische Problematik. Zur Kritik traditioneller Lernort und Beispiele aktivierender Sozialarbeit. Bielefeld

Meys, W. (1986): Stadt Essen – Die Eingliederung von Türken am Beispiel einer Stadt. In: Meys, W. / Sen, F. (1986): Zukunft in der Bundesrepublik oder Zukunft in der Türkei? Eine Bilanz der 25jährigen Migration der Türken. Frankfurt am Main.

Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (2000): NRW Agenda 2000. Neue Wege interkultureller Stadtpolitik: Das „Essener Modell“ – initiativ. Düsseldorf

Schweitzer, H. (1996): Explorative Studie „Entwicklung eines ganzheitlichen und interkulturell orientierten Handlungskonzepts zum Abbau von manifestierter Fremdenfeindlichkeit in sozialen Brennpunkten in multiethnischen Stadtteilen“. Trägerverbund: Evangelische Kirchengemeinde Altenessen-Süd, Stadt Essen und ISSAB der Universität / GHS Essen; im Auftrage des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW.

Stadt Essen, Der Oberstadtdirektor (1999): Das „Konzept für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen“. Neuauflage 2003.

Stadt Essen, Der Oberbürgermeister, RAA/Büro für interkulturelle Arbeit (2004a): Interkulturelle Sprachförderung und Elternbildung im Elementarbereich.

Stadt Essen, Der Oberbürgermeister, RAA/Büro für interkulturelle Arbeit (2004b): Rucksack in der Grundschule. Koordinierte Sprachförderung und Elternbildung

Wermker, K. C. (1997): Soziale Ungleichheit in Essen. In: Bewährungshilfe, Jg. 39, Nr. 1. Godesberg.

 

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Dr. Helmuth Schweitzer ist Leiter der RAA/Büro für interkulturelle Arbeit Essen