von Markus Ottersbach
Seit 1881 gibt es die Politique de la ville für die Vorstädte. Bereits im Juli 1981 kam es in einigen Vorstädten Lyons zu ersten Rodeos, so genannten Autojagden, die sich Jugendliche mit der Polizei lieferten. Zunächst stahlen sie Autos, fuhren anschließend mit ihnen durch die Stadt und zündeten sie zum Schluss an. Bei einer solchen Verfolgungsjagd kam es schon damals zu einem ersten Todesopfer. Als Reaktion auf die Polizeiaktionen wurden in den darauf folgenden Tagen ca. 250 Autos in benachbarten südfranzösischen Städten angezündet.
Und auch damals reagierte die Politik auf die scheinbar eruptiven Gewaltaktionen ganz ähnlich wie jetzt: Man verdammte zunächst die Gewaltaktionen der Jugendlichen und entschied sich für eine optische und symbolische Polizeipräsenz, die auf die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zielte. Das Resultat bestand darin, dass zahlreiche Jugendliche inhaftiert wurden. Da die Unruhen nicht nachließen, beschloss man, politische Programme aufzulegen, mit denen die benachteiligten Quartiere besonders gefördert werden sollten.
Das war die Geburtsstunde der Politique de la ville, einer Stadtpolitik, die zunächst die Gründung von kommunalen Institutionen vorsah, die sich als Aufgabe die Bekämpfung der Delinquenz durch allgemeine Maßnahmen zur Verbesserung der Beteiligung der Quartiersbewohner(innen) und eine Art Freizeitprogramm für Schüler(innen) in den Sommerferien stellte. Nach einer Zeit der Abnahme der Gewalt wurden einige Programme wieder finanziell zurück gefahren, bis zu dem Zeitpunkt, an dem neue Unruhen begannen.
Seitdem gibt es eine zyklische Entwicklung, bei der jeweils als Reaktion auf die Wiederentfachung neuer Unruhen finanzielle Mittel für die Bekämpfung der Unruhen bereitgestellt werden, die nach einer gewissen Zeit dann wieder eingefroren werden.
Inzwischen hat sich die Spirale bereits verselbständigt mit der Konsequenz, dass in fast regelmäßigen Abständen - meist zu Sylvester - Autos von Jugendlichen in vielen Vorstädten Frankreichs gestohlen und demoliert oder sofort angezündet werden. Allerdings hat sich die Art der Maßnahmen gewandelt:
In der letzten Phase der Politique de la ville wurden zusätzlich zu den sonstigen Maßnahmen die Bereitstellung so genannter Emploi jeunes, eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die Bildung so genannter intermediärer Einrichtungen mit dem Ziel der Arbeitsvermittlung (Vermittlungsstellen für Arbeit, öffentliche Unternehmen auf Quartiersebene, Beschäftigungsgesellschaften und –vereine) und eine Verbesserung der regionalen Infrastruktur (Verschönerung der Häuser, der Wohnungen und des Umfelds) angestrebt. Seit dem Regierungswechsel wurden diese neuen Maßnahmen, vor allem die Emploi jeunes, jedoch wieder eingefroren. Deshalb erscheint es auch nicht verwunderlich, dass seit kurzem die Gewaltausbrüche den Alltag in den Vorstädten wieder maßgeblich bestimmen.
Sozioökonomische und politische Ursachen der Ausschreitungen in den Vorstädten
Die Situation in marginalisierten Quartieren ist durch mehrfache Benachteiligung gekennzeichnet. Quartiere dieser Art sind meist Orte, in denen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Probleme kumulieren. Die Arbeitslosigkeit ist überproportional hoch und viele Familien leben in der zweiten oder dritten Generation von Sozialhilfe. Ein Problem für die Jugendlichen unter 25 Jahren ist zudem, dass sie, vorausgesetzt sie haben kein Kind zu betreuen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben. So werden sie gezwungen, in den meist engen Wohnungen gemeinsam mit ihren Eltern zu wohnen. Konflikte im Elternhaus sind dadurch nahezu vorprogrammiert.
• Schlechte Wohnqualität
Ein weiteres Problem der Viertel ist auch die allgemein schlechte Wohnqualität, d.h. es gibt eine überdurchschnittliche hohe Bevölkerungsdichte in den Vorstädten, viele Wohnungen befinden sich in einem teils renovierungsbedürftigen oder verwahrlosten Zustand, es gibt wenige Grünanlagen in unmittelbarer Umgebung, die Sauberkeit lässt zu wünschen übrig und die Hinterhöfe sind dunkel. Zudem sind die infrastrukturellen Einrichtungen sehr dünn gesät, d.h. es gibt nur wenige höher qualifizierende Schulen, kaum öffentliche Bibliotheken, wenige Jugendeinrichtungen und weniger Ärzte als in anderen Quartieren.
• Politische Benachteiligung
Obwohl gemäß des republikanischen Prinzips in Frankreich geborene Kinder von Eltern ohne französische Staatsbürgerschaft Franzosen werden, gibt es auch eine politische Benachteiligung. Zwar können sie das politische Geschehen mitbestimmen, dennoch werden sie in ihren Vierteln von der Politik im Stich gelassen. Erst wenn sie ihre Anliegen durch Gewaltaktionen in die Öffentlichkeit tragen, werden sie von Politiker(inne)n gehört. Ihre Gewaltaktionen könnte man insofern auch als einen Hilfeschrei interpretieren.
• Stigmatisierung
Neben den sozioökonomischen Problemen und der politischen Vernachlässigung stellt die Stigmatisierung der französischen Vorstädte ein weiteres Problem dar. Häufig werden die Bewohner(innen) von außen, z.B. durch die Medien, aber auch durch öffentliche Verlautbarungen von Politiker(inne)n und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in ein negatives Licht gerückt. Die Angabe des Wohnorts bei der Job-Suche, in der Schule, bei der Polizei, bei der Wohnungssuche etc. kann dann schon ein ausreichender Grund für die Diskriminierung der Einwohner(innen) sein. Dann kommt es schnell zu beruflicher oder sozialer Ablehnung, weil man eben aus einem „dieser“ Quartiere kommt.
• Die Polizei
Eine besondere Rolle bei der Eskalation der Konflikte spielt auch die Polizei. Dass die Unruhen dieses Mal eine derartiges Ausmaß angenommen haben und über mehrere Wochen andauern, ist zweifellos auch auf die Reaktion der Polizei zurückzuführen. Gestärkt durch einen Innenminister, der „das Gesinde“ mit dem „Kärscher“ verjagen will, führt sie sich als Ordnungsmacht auf. Sie kontrolliert, schikaniert, verhaftet und verdeutlicht alleine durch ihre Präsenz, wer in den Quartieren über Macht verfügt und wer zu gehorchen hat. Hier zeigt sich sehr stark, dass Empathie, Perspektivenwechsel, Konfliktvermeidung und friedliche Konfliktbewältigung offensichtlich nicht (mehr) Gegenstand der polizeilichen Ausbildung sind. Beispiele aus Großbritannien und auch aus Deutschland zeigen, dass eine bürgernahe Polizei durchaus in der Lage ist, Konflikte zu entschärfen. In Frankreich scheint sie Konflikte eher anzustacheln bzw. zu verschärfen.
• Das Selbstverständnis der Jugendlichen
Franzosen werden gemäß dem republikanischen Prinzip unabhängig von ihrer Herkunft politisch inkludiert. Auf ihr kulturelles bzw. ethnisches Selbstverständnis angesprochen, beteuern die meisten, dass sie sich auch als Franzosen/Französinnen fühlen. Die Idee der Gleichstellung funktioniert jedoch nur in Bezug auf die Vergabe der Staatsbürgerschaft. Ökonomisch und sozial sind sie überhaupt nicht gleichgestellt. Das republikanische Prinzip der Gleichstellung und Gleichbehandlung wird insofern nur halbherzig umgesetzt. Auch in Bezug auf ihre kulturelle Herkunft erfahren sie keine Anerkennung.
• Das Verhältnis zu den Mitbewohnern/innen
Verwunderlich oder absurd erscheint auf den ersten Blich jedoch, dass die Jugendlichen die Autos ihrer unmittelbaren Mitbewohner(innen) und die Busse, die ihnen die einzige Möglichkeit der Mobilität bieten, anzünden. Ihr Hass richtet sich auch gegen Schulen, Jugendzentren und andere Einrichtungen, die auch ihnen zur Verfügung stehen. Es scheint fast so, als ob sie ihr letzte Hab und Gut aufgeben und zudem ihre eigenen Viertel terrorisieren. Solche Gewaltaktionen sind sicherlich auch nicht immer nur logisch zu erklären. Offensichtlich wird dabei allerdings, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Sie interpretieren ihre Situation und ihre Zukunft als so defizitär, dass sie bereit sind, alles auf eine Karte zu setzen.
Dieses Verhalten hat fast apokalyptische Züge: Entweder sie werden jetzt gehört oder sie gehen mit dem Viertel unter. Sie fühlen sich nicht nur von den staatlichen Institutionen alleine gelassen, sondern auch von ihren engsten Bekannten und Verwandten, mit denen sie zum großen Teil in derselben desolaten Situation ausharren. Die Gewalt scheint daher für manche der einzige Ausweg zu sein, ein Ausweg, von dem die meisten auch wissen, dass er im Grunde keiner ist.
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Markus Ottersbach lehrt am Institut für interkulturelle Bildung und Entwicklung der Fachhochschule Köln.