Von Rainer Forst
In den aktuellen politischen Debatten auf nationaler und internationaler Ebene spielt der Begriff der Toleranz eine große Rolle, denkt man etwa an die jüngsten Diskussionen über die Karikaturen Mohammeds in verschiedenen europäischen Zeitungen, über Kopftücher von Lehrerinnen, über Kruzifixe in Klassenzimmern oder Parlamenten, die Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechts oder den Umgang mit rechtsextremistischen Gruppen. Und so gegensätzlich die dabei vertretenen Positionen auch sein mögen, so einhellig bekunden doch alle Beteiligten, dass ihre Haltung die der "richtig verstandenen" gegenüber einer "falschen" Toleranz sei. So entsteht der Bedarf nach einer Art von Gebrauchsanweisung für den schillernden Begriff der Toleranz. Dazu einige Stichpunkte.
Zunächst gilt es festzuhalten, dass man nur dort von Toleranz sprechen kann, wo die zu tolerierenden Überzeugungen oder Praktiken als falsch oder schlecht verurteilt werden. Sonst hat man es entweder mit Gleichgültigkeit oder mit der uneingeschränkten Wertschätzung des Anderen zu tun, nicht aber mit Toleranz. Dies zu übersehen ist eine erste Fehlerursache, die den Konflikt verdeckt, der Toleranz überhaupt erst auf den Plan ruft.
Der Ablehnung muss freilich eine Akzeptanz des Anderen gegenüberstehen, die das Negativurteil zwar nicht aufhebt, aber Gründe dafür nennt, wieso das Falsche dennoch geduldet werden sollte. (Scheinbar) paradox ausgedrückt: Der Toleranzüberlegung zufolge wäre es falsch, das Falsche nicht zu tolerieren.
Dabei aber ist zu beachten, dass die von der Toleranz vorausgesetzte Ablehnung nicht auf gravierenden Vorurteilen oder blindem Hass beruhen darf. Wenn bspw. jemand Menschen mit schwarzer Hautfarbe generell ablehnt, sollten wir ihn nicht zu einer "Toleranz gegenüber anders Aussehenden" auffordern. Das wäre ein zweiter und politisch bedeutsamer Fehler, denn dann akzeptierten wir sein Vorurteil als ethisches Negativurteil, ähnlich dem der Ablehnung einer anderen Religion. Ein Rassist soll nicht tolerant werden, er soll vielmehr seinen Rassismus überwinden.
Dort, wo die Gründe für die Akzeptanz des Abgelehnten enden, liegen die häufig beschworenen Grenzen der Toleranz. Diese Grenzziehung scheint ganz einfach zu sein: Keine Toleranz gegenüber den Intoleranten! Doch so einfach ist dies nicht, denn allzu leicht schleicht sich in die Bestimmung der Anderen als "intolerant" selbst die eigene Intoleranz ein. Ein kurzer Blick in die Geschichte könnte uns lehren, wie einseitig und willkürlich diese Grenzen oft gezogen wurden.
Angesichts dieses Problems wäre es gleichwohl falsch, den Begriff der Toleranz komplett mit dem Hinweis zu verabschieden, eine unparteiliche Grenzziehung sei eben nicht möglich. Denn bevor man in das freudige Loblied der Unumgänglichkeit der Parteilichkeit und der kämpferischen Verteidigung der eigenen Werte einstimmt, sollte man sich bewusst machen, dass es bei Toleranzfragen wie den eingangs genannten um Fragen der Gerechtigkeit gegenüber Minderheiten geht. Dann aber muss eine jede Festlegung ihrer Grenzen sich auf prinzipielle Gerechtigkeitsüberlegungen berufen können - also auf mehr als eine konventionelle "Hausordnung".
Umgekehrt sollte Toleranz nicht uneingeschränkt als etwas Gutes angesehen werden. Sie ist nur gut, wenn ihre Motive gut sind und die Grenzziehung gerechtfertigt ist, ansonsten kann sie eine Reihe von Gefahren bergen. Sie kann etwa denen gegenüber zu nachlässig sein, die keine Toleranz verdienen; sie kann aber auch eine Praxis der Macht sein, die darauf aus ist, Minderheiten unter Kontrolle zu halten und zu stigmatisieren.
Es ist daher notwendig, die Komplexität des Begriffs der Toleranz zu sehen, nicht zuletzt wegen der vielen historischen Schichten, die sich in ihm abgelagert haben. So kann Toleranz, man denke etwa an das Edikt von Nantes (1598), aus der Erlaubnis bestehen, die eine Autorität einer Gruppe von Menschen gibt, ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange diese Gruppe nicht die bestehenden Machtverhältnisse in Frage stellt und ihren untergeordneten Status akzeptiert. Dies hatte Goethe vor Augen, als er sagte: "Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen."
Ähnliches gilt auch noch für eine andere Form der Toleranz, wie man sie etwa im Augsburger Religionsfrieden (1555) findet, aber auch in der Gegenwart (vielleicht irgendwann, mit Glück, in Nordirland oder im Nahen Osten): die Toleranz zwischen zwei ungefähr gleich starken Parteien, die einsehen, dass friedliche Koexistenz die beste Politik für einen Konflikt ist, in dem es keine Sieger gibt.
Auf ein solches hierarchisches oder strategisches Verständnis darf der Begriff der Toleranz aber nicht reduziert werden. Denn er bezeichnet nicht nur eine Praxis politischer Macht, sondern auch eine positive Einstellung von Individuen, eine Tugend. Tolerant zu sein heißt dann, dass man die religiösen Überzeugungen und kulturellen Praktiken anderer, mit denen man keinesfalls übereinstimmt, toleriert, sofern ein Konsens darüber besteht, auf welcher Basis und mit welchen Grenzen dies geschieht. Hier tut sich freilich die alte und noch immer aktuelle Fage auf, wie solch ein Verhalten motiviert werden kann.
Die Liste der möglichen Toleranzbegründungen auf der zwischenmenschlichen Ebene ist lang. So bergen die Religionen selbst eine Reihe von Gründen gegen Glaubenszwang. Das Christentum etwa im Gebot der Liebe und der Duldsamkeit, im Gleichnis vom Unkraut (dem zufolge die Gefahr besteht, vor der Zeit den "guten Samen" mit zu vernichten; Matth. 13, 24ff.), in der Lehre von den zwei Reichen, schließlich in der Überzeugung, dass sich das Gewissen nicht zwingen lässt oder dass man es nicht zwingen darf, da der Glaube ein freiwillig zu empfangendes Geschenk Gottes ist und dieser keine geheuchelte Verehrung wollen kann. Andere religiös-humanistische Argumente betonen die tiefen Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen und sehen alles darüber hinaus als "Nebensächlichkeit" an, oder man geht im Sinne von Lessings Ringparabel davon aus, dass sich erst am Ende des ethisch-religiösen Wettstreits auf Erden zeigen wird, wer den echten Ring im Besitz hatte.
Die Sache so zu betrachten, kann allerdings wieder zu Fehlern führen. Der erste ist zu glauben, die Toleranz sei ein ureigener Besitz des Christentums. Denn nicht nur findet sich eine Vielzahl von Toleranzargumenten auch in anderen Religionen - etwa im Koran 2/256: "Es gibt keinen Zwang in der Religion." Unsere Geschichte zeigt vielmehr, dass sich solche Argumente nur mühsam, unter vielen und schweren Kämpfen, Bahn gebrochen haben gegen ebenso viele Gegenargumente, die der christliche Glaube birgt, etwa die Pflicht, den Verirrten zu helfen, deren Seelenheil auf dem Spiel steht, wozu oft das Gleichnis vom "Zwang zum Eintreten" zum bereiteten Mahl (Luk. 14, 16ff.) herangezogen wurde. So sah man sich in der Pflicht, erkennbares Unkraut auszureißen; und auch die Auffassung, dass das Gewissen gegen äußeren Druck resistent ist, wurde mit dem Hinweis auf gelungene Bekehrungen bezweifelt. Zur Erinnerung: Erst in der Erklärung "De libertate religiosa" des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) machte die katholische Kirche ihren Frieden mit dem subjektiven Recht auf Religionsfreiheit. Die Toleranz, so sollte man festhalten, war eher eine Errungenschaft derer, die als "Ketzer" galten, als eine "des Christentums".
Wichtiger aber noch ist der Fehler anzunehmen, dass religiöse Toleranzbegründungen, so notwendig sie - besonders im globalen interkulturellen Dialog - sind, ausreichen. Denn einerseits finden sie allzu oft ihre Grenze dort, wo die Grundlagen eben dieses Glaubens abgelehnt werden, etwa durch die "Gottlosen" oder, was stets das Schlimmste war, die Häretiker in den eigenen Reihen. Und andererseits dienen sie im interreligiösen Dialog nicht als Grundlage eines normativen Gebots wechselseitiger Toleranz, da die jeweiligen Gründe nicht auf die Andersdenkenden übertragbar sind. Dann bleibt Toleranz eine einseitige Leistung, was Hochmut ebenso mit sich bringen kann wie Demut. Wenn die Frage der Toleranz aber eine Frage der Gerechtigkeit ist - gar der "interkulturellen" -, dann muss sie auf Gerechtigkeitsüberlegungen beruhen, die wechselseitig teilbar und verbindlich sind.
So greift man denn auf "säkulare" Toleranzargumente zurück, etwa das eines Pluralismus von objektiven Werten oder das skeptische, das religiöse Absolutheitsansprüche grundsätzlich anzweifelt. Diese Argumente aber sind selbst vernünftigerweise bestreitbar, und sie bergen auch wieder eigene Gefahren zu enger Grenzziehungen und der Intoleranz denen gegenüber, die eben keine Pluralisten oder Skeptiker sind. Ähnliches gilt auch für die fallibilistische Auffassung, ein produktiver Wettbewerb der Ideen werde auf lange Sicht die Wahrheit zu Tage bringen, denn sie impliziert, dass religiöse Überzeugungen ähnlich wie wissenschaftliche Hypothesen vertreten werden - was nicht jeder Gläubige so sehen muss.
Daher bedürfte es einer Toleranzbegründung, die im Streit zwischen Skeptizismus und Religion neutral bleibt und zugleich wechselseitig bindende moralische Grundsätze enthält. Dabei kommt es darauf an, die Endlichkeit der menschlichen Vernunft in Fragen "letzter" Wahrheiten auf eine Weise zu verstehen, die die eigene Wahrheitsauffassung nur soweit relativiert, dass man die Überzeugungen der Anderen zwar nicht als ebenfalls oder gleichermaßen wahr, aber auch als nicht unvernünftig ansieht. Und in moralischer Hinsicht bedürfte es einer Einsicht in das Prinzip der Wechselseitigkeit selbst, das von den Bürgern fordert, ihre Ansprüche aneinander mit Gründen zu rechtfertigen, die nicht die partikularen Überzeugungen einer Partei verabsolutieren, sondern wechselseitig akzeptabel sind. Die Voraussetzung dafür ist die uneingeschränkte Anerkennung demokratischer Grundrechte.
Was hieße das in der Praxis? Das bedeutete etwa, dass nicht ein Teil der Bürger, und sei es die Mehrheit, ihre religiösen Symbole per Gesetz in Klassenzimmern öffentlicher Schulen aufhängen und diese Symbole dabei einmal als allgemeine Zeichen der Toleranz und einmal als Ausdruck ihres Glaubens deklarieren kann. LehrerInnen hingegen dürften aus Gründen der Religionsfreiheit und als Ausdruck ihrer ethischen Identität religiöse Symbole tragen, solange ihnen nicht nachgewiesen werden kann, dass diese Praxis negative Konsequenzen für den Schulalltag hat. Im Sinne demokratischer Toleranz ist es nicht gerechtfertigt, unabhängig vom Einzelfall ein negatives Pauschalurteil über die Bedeutung bestimmter Symbole und Praktiken und ihre beeinflussende Wirkung zu fällen; vielmehr bedeutet der gegenseitige Respekt unter Staatsbürgern, dass sie sich in ihren unterschiedlichen kulturellen Identitäten tolerieren und die geltenden Gesetze und Verordnungen daraufhin überprüfen, ob sie "fremde" Lebensformen benachteiligen bzw. unter Generalverdacht stellen. Die Neutralität einer staatlichen Institution kann weder bedeuten, dass Bedienstete, sofern sie ihre Pflicht erfüllen, zu "neutralisierten", identitätslosen Wesen werden, noch darf sie so ausgelegt werden, dass konventionelle oder "unauffällige" Lebensformen die Norm abgeben und bevorzugt werden. Kulturell oder religiös bedingte Unterdrückung in der Familie oder anderen gesellschaftlichen Bereichen muss, wo immer sie vorkommt, gleichwohl aufgedeckt und bekämpft werden; dies jedoch nicht um den Preis einer doppelten Stigmatisierung der Betroffenen. Toleranz und wechselseitiger Respekt schließen es insbesondere aus, diskrminierende Praktiken oder gar Gewalt gegen Frauen und Mädchen religiös oder kulturell zu legitimieren und zu tolerieren.
Ein weiteres Beispiel: Die Gegner rechtlich anerkannter gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften müssten im Sinne demokratischer Toleranz zeigen, dass sie nicht nur versuchen, eine religiös bestimmte Lehre des rechten Lebens zur Grundlage allgemeiner Gesetze zu machen. Sicher, eine bloße "Duldung" homosexueller Paare ohne rechtliche Gleichstellung kann auch "Toleranz" genannt werden, nach Maßgabe des Prinzips der Wechselseitigkeit und des gleichen Respekts wäre dies aber der Ausdruck eines hierarchischen und kritikwürdigen Toleranzverständnisses.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst müssen in einer freien und pluralistischen Gesellschaft geschützt werden; auf keinen Fall darf auf geschmacklose und eine Religion verletzende Darstellungen mit Verboten oder Gewalt reagiert werden. Auf dieser Basis ist kein friedliches Zusammenleben möglich. Die Gründe für Gewaltausbrüche müssen allerdings sorgsam analysiert werden, denn die Frage der Toleranz steht stets in einem weiteren Kontext der Fairness sozialer Verhältnisse.
Die häufig geäußerte Befürchtung, dass die kulturell-ethische Basis eines Staatswesens, die sich ursprünglich partikularen und eben auch (zumindest teilweise) christlichen Wertvorstellungen verdankt, durch "zuviel" Toleranz ins Wanken geriete, ist unbegründet. Eine demokratische und plurale Gesellschaft braucht zwar unbestritten eine geteilte normative Basis, doch kann diese sich nicht aus den Überzeugungen einer Gruppe allein speisen, denn gerade das führte zu Ausschluss- und Desintegrationserscheinungen und inneren Konflikten. Eine demokratische Kultur darf die ethischen und religiösen Lebensformen, die in einem pluralistischen Gemeinwesen zusammenkommen, weder ignorieren noch negieren, sie muss sie vielmehr in sich aufnehmen und so integrieren, dass der Grundsatz des gleichen Respekts für alle Bürger gleichermaßen gilt. Dies stellt andererseits auch einen unabdingbaren Anspruch an die einzelnen kulturellen Gemeinschaften dar.
Die Grenzen der Toleranz weichen dadurch nicht auf, sondern werden klarer. Sie liegen dort, wo anderen diese grundlegende Form der Achtung und Gleichberechtigung vorenthalten wird, sei es im Namen einer höheren Wahrheit oder einer imaginären "Nation". Die Verantwortung dafür, dass diese Grenzen beachtet werden, kann allerdings nicht vollständig an den Staat abgetreten werden; an erster Stelle sind es die Bürger selbst, die dazu verpflichtet sind, "richtig verstandene" Toleranz zu üben.
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2003 erschien sein Buch "Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs" im Suhrkamp Verlag.