Abschottung ist keine Alternative

von Ralf Fücks

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Die Tatsache, dass eine renommierte Zeitschrift für Internationale Politik das Thema „Transnationalism and Conflict“ zum Gegenstand einer Ausgabe wählt, gibt zu denken. Schien „Transnationalismus“, also die Überwindung einer strikt nationalstaatlichen Ordnung  zugunsten der grenzüberschreitenden Integration von Märkten und  Politik, nicht der Königsweg für die Überwindung von Kriegen und Konflikten in der Staatenwelt zu sein? Und liefert nicht die Europäische Union das beste Beispiel für die segensreichen Wirkungen transnationaler Integration – auf einem Kontinent, der wie kein anderer von nationalistischen Exzessen geschüttelt wurde? In der Tat hat die EU ein neues Zeitalter des Friedens,  der Sicherheit und Zusammenarbeit ein Europa eingeläutet, und diese friedensstiftende Wirkung wurde potenziert durch das Ende des Ost-West-Konflikts und die Erweiterung der Union nach Mittel-Osteuropa. Auf absehbare Zeit ist der Staatenkrieg innerhalb Europas gebannt.

Dennoch ist auch Europa kein Paradies des ewigen Friedens geworden. Spanien, England, die Türkei wurden zum Schauplatz terroristischer Anschläge, und in den Einwanderungs¬gesellschaften Westeuropas nehmen die sozio-kulturellen Spannungen und Konflikte zu. Dabei verschränken sich Gewaltpotentiale „von innen“ mit Bedrohungen „von außen“. Dies gilt in besonderem Maße für den militanten Islamismus, der als transnationales Netzwerk organisiert ist, dessen Ausläufer bis nach Skandinavien, auf den Balkan und in den Kaukasus reichen. Die Attentäter des 11. September 2001 lebten zum Großteil in Europa (mit einem Schwerpunkt in der Bundesrepublik), ebenso die Terroristen von London oder Madrid. Aber ihre Loyalitäten galten der „Nation of Islam“, der grenzüberschreitenden Gemeinschaft der radikalen Muslime. Sie gehörten nicht zu den sozial Deklassierten aus den Vorstädten, sondern zur neuen Elite von Migranten mit Hochschulstudium und guten Sprachkenntnissen. Einige sind Staatsbürger des Landes, in dem sie lebten – und zugleich verachten sie die liberale politische Ordnung und den westlichen Lebensstil. Sie haben kein irdisches Heimatland – sowenig wie die kommunistischen Berufsrevolutionäre Anfang des letzten Jahrhunderts. Ihre geistige und emotionale Heimat ist der radikale Islamismus - die revolutionäre Internationale unserer Zeit.

Islamismus versus säkulare Demokratie

Insofern ist der radikale Islamismus ein höchst modernes Phänomen – eine globale Antwort auf die Globalisierung des westlichen Gesellschaftsmodells, die als antagonistischer Prozeß verläuft, der Gewinner und Verlierer, Anhänger und Gegner produziert, wobei die Gegner nicht unbedingt auch Verlierer der Globalisierung sein müssen. Auch die Ideologen der kommunistischen Weltbewegung gehörten in der Regel nicht selbst zu den „Verdammten dieser Erde“. Es sind Wertentscheidungen, die zur Parteinahme für oder gegen die offene Gesellschaft und das liberale Modell führen – der Islam ist lediglich das Medium, nicht die Ursache der Opposition gegen die säkularen, individualistischen und konsumistischen  Gesellschaften des Westens.

Die Entscheidung für eine Identität als Gotteskrieger mag durch Erfahrungen persönlicher Diskriminierung, durch enttäuschte berufliche Ambitionen oder durch die Empörung über den „Neokolonialismus“ des Westens ausgelöst und durch fundamentalistische Imame befördert werden, aber sie gründet nicht in der Religion. Dass der militante Islamismus sein Epizentrum in der arabischen Welt hat, entspringt nicht der islamischen Tradition, sondern der blockierten gesellschaftlichen und politischen Modernisierung dieser Region und dem gekränkten Nationalismus einer ehemaligen Weltmacht. Der Konflikt, der auch in der arabischen Welt ausgetragen wird, besteht nicht zwischen Islam und Demokratie, sondern zwischen Islam als Politik (also dem Streben nach der Errichtung eines Gottesstaats und einer islamischen Gesellschaftsordnung) und der säkularen Demokratie.
 
Die Herausbildung einer radikalislamischen Opposition in Europa ist Ausdruck einer Krise der europäischen Einwanderungsgesellschaften, genauer: der nur partiell gelungenen Einbürgerung von Migranten aus der islamischen Welt. Einbürgerung ist hier nicht nur im politisch-rechtlichen Sinn gemeint. Es geht um Chancengleichheit im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik ebenso wie um gleiche Religionsfreiheit für Muslime und Christen. Es geht darüber hinaus um einen Prozess der Identifikation der Einwanderer und ihrer Kinder mit Land ihrer Wahl. Mit anderen Worten: um einen permanenten Prozess des „Nation Building“, der aus Migranten Bürger eines politischen Gemeinwesens macht. Es scheint so, als ob dieser Prozeß in den USA besser gelingen würde (oder zumindest in der Vergangenheit besser gelang) als in Europa.

Während die USA (wie Kanada und Australien) sich von Anfang an als Einwanderungs¬gesellschaften entwickelten, herrschte in Europa eher das Konzept ethnisch relativ homogener „Kulturnationen“ vor. Am ausgeprägtesten war dieses Verständnis der ethnisch-kulturellen Nation in Deutschland, das erst mit der rot-grünen Koalition 1998 ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht einführte, in dem das „ius soli“ gleichberechtigt neben das „ius sanguinis“ trat. Dennoch tut sich die deutsche Gesellschaft immer noch schwer mit der Einbürgerung von Migranten aus anderen Kulturkreisen. Der Islamismus liefert ein Identifikationsangebot für junge Migranten, die sich (noch) nicht als „Deutsche“ und nicht (mehr) als Bürger ihrer Herkunftsländer definieren; er vermittelt ihnen Sinn und Selbstbewusstsein, die sie im bürgerlichen Leben nicht finden.

Neubürger oder nationale Minderheiten?

Ein zweites Phänomen tritt hinzu, das die Identifikation von Migranten mit ihren Einwanderungsländern erschwert: die Herausbildung „nationaler Minderheiten“, die sich stärker mit ihrer Herkunft identifizieren als mit ihrer neuen Heimat. Zwar bildeten Migranten schon immer ethnische Gemeinschaften, die ihnen halfen, sich in der neuen Gesellschaft zu behaupten. Das galt auch für die unterschiedlichen Wellen von Einwanderern in die USA, seien es Iren, Deutsche, Italiener oder Chinesen. Es macht aber einen Unterschied ums Ganze, ob diese ethnischen Gemeinschaften eine Brücke in die neue Gesellschaft bilden, oder ob sie sich dauerhaft als nationale Minderheiten konstituieren. Im ersten Fall wird die Herkunftsidentität zu einer Art kulturellen Schattierung, manchmal auch zur bloßen Folklore. Im zweiten Fall bleibt sie dominant und blockiert den Prozess der Einbürgerung.

In Deutschland stellt sich dieses Problem bei den Immigranten aus der Türkei, die neben den Russlanddeutschen die größte Gruppe unter den Einwanderern bilden. Unter ihnen ist der türkische Nationalismus weit verbreitet, und er wird geschürt durch türkische Medien wie durch türkisch-nationalistische Vereinigungen, die zielstrebig die Kultivierung des „Türkentums“ betreiben. Sie pflegen einen Hyperpatriotismus, der so wenig mit dem realen Leben in der Türkei zu tun hat wie mit einer realen Rückkehr-Perspektive. In vieler Hinsicht erleichtert die Globalisierung diese Konservierung der Herkunftsidentität: Fernsehprogramme aus dem „Mutterland“ sind über Satellit problemlos zu empfangen, Zeitungen aus der Türkei sind an jedem Bahnhofskiosk erhältlich, billige Flugtarife ermöglichen einen regen Reiseverkehr zwischen beiden Ländern, und die fortbestehenden familiären Bindungen ermöglichen die Heirat von Bräuten aus der türkischen Provinz, die in keiner Weise auf das Leben in Deutschland vorbereitet sind. Auch die Imame der türkischen Muslime in Deutschland werden vom türkischen Religionsministerium entsandt. Der Diaspora-Nationalismus ist ein größeres Hindernis für die Integration von Migranten aus der Türkei als der islamische Fundamentalismus, auch wenn sich die öffentliche Debatte fast ausschließlich auf den Islam fixiert. Tatsächlich spielen sich  deutscher Kulturkonservatismus, der in türkischen Einwanderern keine potentiellen deutschen Bürger sehen will, und türkischer Nationalismus gegenseitig in die Hände. Beide treffen sich in der Parole „Einmal Türke, immer Türke!“. Darin liegt die Gefahr, dass soziale und kulturelle Konflikte der Einwanderungsgesellschaft als „nationale Konflikte“ ausgetragen  werden, statt sie als Probleme innerhalb der Nation zu verhandeln.

Abwehr gegen Arbeitsmigration

Eine dritte Konfliktebene transnationaler Migration ist die soziale Konkurrenz, die mit der Einwanderung billiger, aber leistungsbereiter Arbeitskräfte vor allem für die gering qualifizierten Schichten der einheimischen Bevölkerung verbunden ist. In den Augen vieler Arbeiter und Angestellten erscheint der Arbeitsmigrant als ein Konkurrent um knappe Jobs und Einkommen, und die Gewerkschaften fürchten eine Erosion von Löhnen und Arbeitsbedingungen als Folge durchlässiger Grenzen. Dass der „polnische Klempner“ zum Schreckgespenst für das französische „Non“ zum europäischen Verfassungsvertrag werden konnte, sagt alles über die vorherrschende Stimmung in Westeuropa. Nicht anders in der Bundesrepublik, die eine treibende Kraft dabei war, die Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union außer Kraft zu setzen. Außerdem wurde in Deutschland der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge versperrt, die im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention aufgenommen wurden. Lieber zahlt man ihnen Sozialhilfe, statt sie legal arbeiten zu lassen – und schürt damit den Sozialneid auf die „Ausländer, die auf Kosten des deutschen Steuerzahlers leben“, wie ein gängiges Vorurteil lautet.

Dass bessere Arbeitsmöglichkeiten für Migranten die ökonomische Dynamik erhöhen, das Wirtschaftswachstum vorantreiben und unter dem Strich auch zu mehr Beschäftigung führen, ist für Kontinentaleuropa ein exotischer Gedanke. Hier setzt man auf Befestigung der Außengrenzen der EU und auf eine stärkere Abschottung der einheimischen Arbeitsmärkte gegen Konkurrenz von außen. Ausnahmen gibt es allenfalls für hochqualifizierte Experten. Der Ausbau Europas zu einer Festung, die sich gegen Armutswanderung aus dem Osten und Süden abschottet, ist  kein bloßes Zerrbild, sondern eine reale Tendenz.

In all diesen Konflikten wird deutlich, dass nationale Grenzen im wörtlichen wie im übertragenen Sinn ihre zwei Seiten haben. Sie trennen, schließen aus, unterscheiden zwischen „uns“ und den „Anderen“. Gleichzeitig verleihen sie Sicherheit und konstituieren die Nation als politisches und soziales Subjekt. Transnationale Prozesse wie die globale Migrationsbewegung sind  mit Risiken und Unsicherheit verbunden. Kosmopolitismus ist ein Versprechen vor allem für die Gebildeten, Wohlhabenden, Polyglotten. Für die Unterklassen erscheint er vielfach eher als Bedrohung denn als Gewinn. Deshalb ist die soziale Einbettung und politische Regulierung transnationaler Prozesse elementar für ihre Akzeptanz. Dabei hat der Nationalstaat als politische Instanz noch lange nicht ausgedient – selbst in der Europäischen Union bleibt er die Basis demokratischer Partizipation und politischer Willensbildung. Gleichzeitig wächst angesichts der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Interdependenz der Staaten die Notwendigkeit effektiver supranationaler Zusammenarbeit. Das gilt sowohl für die transatlantische Sicherheits-Kooperation wie für eine abgestimmte europäische Migrationspolitik, die Kanäle für legale Einwanderung öffnet und zugleich die Partizipationschancen für Migranten im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik verbessert. Denn bei allen mit transnationaler Migration verbundenen Problemen ist klar: Europa braucht Einwanderer, aus ökonomischen wie aus demographischen Gründen. Abschottung ist keine Alternative.

 

* Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift Internationale Politik, Ausgabe Frühjahr 2006

 

 

 

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Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich Böll Stiftung und gehörte der Zuwanderungskommission der rot-grünen Bundesregierung an.