Schiedsrichter bitte!

Von Henning Wüst

Ende November 2007 wurde bekannt, dass die EU-Kommission ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der mangelhaften Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) eingeleitet hat.

Medienberichten zufolge ist am 17. Oktober bei der Bundesregierung ein Aufforderungsschreiben bezüglich der Richtlinie 2000/43/EG „zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ eingegangen sein. Darin bemängelt die EU-Kommission in erster Linie den mangelhaften Diskriminierungsschutz bei der Vergabe von Mietwohnungen sowie beim Kündigungsschutz für ArbeitnehmerInnen.

Aus juristischer Sicht war die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nur eine Frage der Zeit. Das möchte ich an folgendem Beispiel verdeutlichen:
Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 4 AGG sollen für Kündigungen „ausschließlich die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes“ gelten. Der Gesetzgeber wollte damit zum Ausdruck bringen, dass Rechtsstreitigkeiten bei Kündigungen auch in Zukunft ausschließlich nach dem Kündigungsschutzgesetz entschieden werden sollen. Die Regelung ist allerdings evident europarechtswidrig. Sie verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 c) der EG-Richtlinie 2000/78 vom 27.11.2000.

In dieser Vorschrift ist nämlich geregelt, dass bei den Entlassungsbedingungen und damit auch bei Kündigungen keine Benachteiligung oder Diskriminierung erfolgen darf. Dies ist sogar zusätzlich durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes abgesichert. In seiner Entscheidung vom 11.06.2006 (C 13/05) hat der Europäischen Gerichtshof unter Rz. 36 und 37 folgende Entscheidungsgründe ausgeführt: „Die Richtlinie 2000/78 gilt nach ihrem Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen u. a. in Bezug auf die Entlassungsbedingungen. In diesen Grenzen gilt der durch die Richtlinie 2000/78 zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschaffene allgemeine Rahmen daher für Kündigungen.“

Daran ist folgendes befremdlich: Das AGG blickt auf eine lange (und leidvolle) gesetzgeberische Geschichte zurück. Es handelt sich beileibe um keinen gesetzgeberischen “Schnellschuss”, sondern um eine Regelung, die in allen Aspekten breit öffentlich diskutiert wurde. Der Umstand, dass sich der Gesetzgeber dann doch - in geradezu arroganter Art und Weise - über alle juristischen Einwände hinweggesetzt hat, lässt in Sachen Antidiskriminierung tief blicken.

Ich habe in den vergangenen Monaten über 100 Seminare und Workshops zum AGG gehalten und meine TeilnehmerInnen fast immer mit der im AGG enthaltenen Bereichsausnahme für Kündigungen konfrontiert. Nahezu 100% aller Seminar- und WorkshopteilnehmerInnen - durchweg NichtjuristInnen - ist die Europarechtswidrigkeit der Regelung geradezu ins Auge gesprungen.

Rein juristisch betrachtet ist der Fehler umso schlimmer, als das AGG in seiner geltenden Fassung hier sogar in sich selbst perplex, d.h. widersprüchlich ist. In § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG wird der Geltungsbereich des Gesetzes auch auf „die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich Arbeitsentgelt und Entlassungsbedingungen, insbesondere in individual- und kollektivrechtlichen Vereinbarungen und Maßnahmen bei der Durchführung und Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses sowie beim beruflichen Aufstieg“ erstreckt. Begrifflich ist damit auch die Anwendbarkeit auf Kündigungen verbunden. In Absatz 4 derselben Vorschrift sind dann die Kündigungen ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich herausgenommen.

Wie so häufig müssen nun die Gerichte einspringen. Hatten bundesdeutsche Gerichte früher häufig Probleme mit dem Anwendungsvorrang des Europarechts, scheint sich die Lage nun zu bessern. Zu der angeführten Bereichsausnahme für Kündigungen ist am 22. November 2007 das Landesarbeitsgericht Düsseldorf „in die Bresche gesprungen“ und hat die Frage der Vereinbarkeit von § 2 Abs. 4 AGG mit der Richtlinie 2000/43/EG im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG-Vertrag dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt.

Mit kritischem europarechtlichem Maßstab finden sich im AGG rund 10 Regelungen, die europarechtlich sehr zweifelhaft sind, und etwa 5 Regelungen, die mehr oder weniger offensichtlich europarechtswidrig sind. Welche Schlussfolgerungen muss man aus den - bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des AGG bekannten - europarechtlich äußerst kritischen Regelungen ziehen?

Schlussfolgerung Nummer 1 besteht in einem Armutszeugnis für die Regierungskoalition. Die Erklärung für die im AGG enthaltenen europarechtswidrigen Regelungen kann doch nur dahin gehen, dass bestimmte Interessengruppen einen Schutz ihrer Klientel durchgesetzt haben. Die Alternative dazu bestünde nur darin anzunehmen, dass die Bundesregierung in Punkto Europarecht juristisch völlig unfähig ist. Ich bin mir nicht sicher, welche der beiden Alternativen die schlechtere wäre. Katastrophal sind sie beide.

Schlussfolgerung Nummer 2 ist noch einschneidender: Nach jahrelangem Ringen um das AGG (das früher einmal auf den Namen Antidiskriminierungsgesetz hören sollte) ist ein Gesetz entstanden, das auf offensichtliche europarechtliche Einwänden stößt. Die Schlussfolgerung daraus muss lauten: Konsequenter Diskriminierungsschutz ist für den Gesetzgeber uninteressant, wenn andere Interessen - z. B. wirtschaftliche Interessen von Wohnungsunternehmen oder Arbeitgebern - im Wege stehen.

Als weiterer Beleg für Schlussfolgerung Nummer 2 sei der Entwicklungsstand der Antidiskriminierungsstelle des Bundes angeführt. Der nach dem AGG vorgeschriebene Aufbau einer Antidiskriminierungsstelle des Bundes, zu deren Aufgabe auch die so wichtige Öffentlichkeitsarbeit zählt, ist - wohlwollend beschrieben - nur sehr schleppend in Gang gekommen. Erst seit Februar 2007, also ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes, hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes überhaupt eine Leiterin. Und ein gutes Jahr später war auf der Website der Antidiskriminierungsstelle des Bundes immer noch folgender Text zu lesen: „In Kürze finden Sie hier ausführliche Informationen zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und zur Antidiskriminierungsstelle des Bundes.“ Erst seit November 2007 hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes einen „richtigen“ Webauftritt erhalten. Fazit: Antidiskriminierung genießt keine hohe politische Priorität bei der gegenwärtigen Regierungskoalition.

Schlussfolgerung Nummer 3 ergibt sich aus Schlussfolgerung Nummer 2: Politisch wurde das Ziel der EU-Antidiskriminierungspolitik überhaupt nicht verstanden. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung ist ein tragender und überragender allgemeiner Grundsatz des EU-Rechts. Dies zeigt sich schon darin, dass dieser Grundsatz bereits in Artikel 13 des EG-Vertrages vom 25.03.1957 („Römische Verträge“) ausdrücklich benannt ist. Dort ist zu lesen:
“Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“

Der Gedanke der dem AGG zugrunde liegenden EG-Richtlinien ist es, ein benachteiligungsfreies Umfeld im Rechtsverkehr zu schaffen. Über Regelungen zum Diskriminierungsschutz soll - auf lange Sicht - eine “faktische Kraft des Normativen” bewirkt werden. Kritiker der Regelungen sprechen von einem „gesellschaftlichen Umerziehungsprogramm“ und haben damit - ungewollt - den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn gerade darum geht es: Einstellungen und Werte zu verändern und - bildlich gesprochen - das “Raubtier im Menschen zu zähmen”. Das nunmehr gegen die Bundesrepublik eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren ist daher nur zu begrüßen.

Link: Website von Henning Wüst zum AGG

 

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Henning Wüst ist Experte für Antidiskriminierungsrecht. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Rechtsanwalt lehrt und publiziert er seit 2007 als Dozent und Fachautor. Er hat u.a. ein Standardwerk zum AGG verfasst.