von Matthias Tang
Die Geschichte
Als in den 60er Jahren die ersten Arbeitskräfte aus den Mittelmeerländern nach Deutschland und Berlin kamen, entstanden in der ARD die sogenannten „Gastarbeitersendungen“ – Radiosendungen in verschiedenen Sprachen, die als Gemeinschaftsaufgabe der ARD von verschiedenen Landesrundfunkanstalten produziert und von anderen übernommen wurden. Diese fremdsprachigen Programme richteten sich an meist männliche Arbeitnehmer, die aufgrund der fehlenden Deutsch-Kenntnisse oft isoliert in Deutschland lebten.
Die bis 1973 angeworbenen sogenannten „Gastarbeiter“ sind geblieben, haben ihre Familien nachgeholt, ihre Kinder wurden hier geboren und haben sich hier eine eigene Existenz aufgebaut. Entsprechend mussten die fremdsprachigen Sendungen auch Angehörige der zweiten und dritten Generation versorgen. Obwohl der Auftrag umfassender wurde, fristeten die „Ausländerprogramme“ ein Schattendasein: Häufig mussten sie die Frequenz wechseln und manche wurden gar auf die qualitativ schlechtere Mittelwelle geschoben.
Der Sender Freies Berlin trat dem ARD-Gemeinschaftsprojekt Gastarbeitersendungen im Dezember 1966 bei. 1974 führte er zusätzliche Viertelstunden für türkische und jugoslawische Arbeitnehmer ein. Die Informationsprogramme brachten zehn Minuten Nachrichten über Berlin sowie Musik und Werbung. Bei einer Programmreform 1990 kamen das Sonntagmittagsprogramm »Rendezvous in Deutschland« und die abendlichen Gastarbeitersendungen auf die Mittelwelle.
Diese Sendungen und Programme wurden der gesellschaftlichen Realität immer weniger gerecht. Inzwischen leben Menschen Nicht-Deutscher-Herkunft mehrerer Generationen in Berlin, leisten ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt und zum gesellschaftlichen Leben. Sie sind Berliner und Berlinerinnen geworden und behalten gleichwohl ihre Vergangenheit, ihre Tradition und Herkunft und verändern mit ihrer Kultur die gesamte Stadt. Gleichzeitig sind sie häufig ihrem Heimatland und ihrer Herkunftssprache eng verbunden.
Als Reaktion auf diese neue gesellschaftliche Situation startete der Sender Freies Berlin am 18. September 1994 ein Metropolenradio, das den multikulturellen Anspruch schon im Namen trug. Radio Multikulti sendete auf 106,8 MHz ein multikulturell orientiertes Programm in Deutsch und abends in zwölf Fremdsprachen. Den Anstoß gaben 1993 die Grünen in den SFB-Gremien. Das Programm war anfangs umstritten, passte aber – so zynisch das ist – nach den ausländerfeindlichen Brandanschlägen in Mölln und Solingen in die politische Landschaft. Finanzielle Starthilfe kam von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Radio Multikulti heute
Aus „SFB 4 Radio Multikulti“ wurde mit der Fusion von SFB und ORB Radio Multikulti vom RBB, von der vergleichsweise leistungsschwachen Frequenz 106,8 MHz konnte auf die stärkere Frequenz 96,3 MHz gewechselt werden. Der Anspruch, Menschen aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturbereichen miteinander zu vernetzen, blieb. Dabei sollte die programmatische Vielfalt zur Entfaltung neuer Denkräume beitragen. Seitdem versorgen die Moderatoren ihre Hörer mit Wissen aus aller Welt, aus dem Senegal, aus Brasilien oder aus Neapel. Sie berichten von den Ideen der Musiker und Künstler dort, von dem täglichen Leben auf den Straßen. Sie organisieren Konzerte und Ausstellungen, unterstützen Kultur- und Bildungsprojekte in Berlin und bieten Migranten und Deutschen ein kulturelles und gesellschaftliches Netzwerk. Bis 17 Uhr wird auf Deutsch gesendet, zwischen 17 und 22 Uhr sind Sendungen in siebzehn verschiedenen Sprachen zu hören.
Inzwischen ist Radio Multikulti mehrfach preisgekrönt und aus dem kulturellen Leben Berlins nicht mehr wegzudenken. Denn Radio Mulitikulti ist weit mehr als nur ein Radio für Menschen mit Migrationshintergrund: Die gesamte Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, von ihrer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt über die Vielfalt der Kulturen informiert zu werden – in Berlin und aus Berlin. Diesen Anspruch erfüllt Radio Multikulti, und es ist weit und breit kein Sender und kein Programm in Sicht, das diese Aufgabe in vergleichbarer Qualität übernehmen könnte.
Dennoch will der RBB Radio Multikulti zum Jahresende abschalten und begründet diese Entscheidung mit den Sparzwängen, die in der Gebührenperiode ab 2009 entstehen. Gespart werden muss wegen der ungerechten Verteilung der Gebühren innerhalb der ARD. Denn in Berlin und Brandenburg sind überdurchschnittlich viele Menschen wegen ihrer schwierigen sozialen Lage von der Gebührenzahlung befreit.
Über die multikulturelle Vielfalt Berlins, mit all den guten Seiten und auch den Problemen, zu informieren und diese Vielfalt mit zu gestalten, das ist keine Schön-Wetter-Aufgabe, die je nach Finanzlage erfüllt oder nicht erfüllt werden kann. Gleichzeitig ist der RBB nicht dafür verantwortlich, dass in seinem Sendegebiet der Gebührenausfall wegen der Befreiung von der Zahlung aus sozialen Gründen besonders hoch ist. Deswegen muss es in der ARD einen Ausgleich zwischen Rundfunkanstalten aus vergleichsweise wohlhabenden Regionen und Anstalten aus ärmeren Teilen des Landes geben. Die ARD und die Ministerpräsidenten der Länder müssen einen solchen Finanzausgleich einführen.
Ein Programm wie Radiomultikulti gehört zum Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Berlin. Die Hauptstadt der Bundesrepublik braucht ein Programm wie Radio Multikulti. In Berlin zeigt sich wie in einem Brennglas, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Verständnis, Toleranz und Respekt zwischen den Kulturen sind für die Zukunft von entscheidender Bedeutung. In einer Stadt, in der jedes zweite Kind unter drei Jahren einen Migrationshintergrund hat, darf der Bildungserfolg nicht länger an die Herkunft geknüpft sein.
Matthias Tang war Pressesprecher der Abgeordnetenhausfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin und im Rundfunkrat des SFB von 2001 bis 2003. Zur Zeit ist er Pressereferent der Grünen Bundestagsfraktion.