von Sibylle Raasch und Daniela Rastetter
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) trat in Deutschland am 14. August 2006 in Kraft. Vorausgegangene Entwürfe für ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz waren immer wieder an fehlenden politischen Mehrheiten gescheitert. Inzwischen verlangten jedoch insgesamt vier Antidiskriminierungsrichtlinien der EU eine gesetzliche Umsetzung: die Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG, die Rahmenrichtlinie 2000/78/EG, die Gender-Richtlinie 2002/73/EG und die Gender-Richtlinie 2004/113/EG.
Wegen Nichtumsetzung der ersten beiden Richtlinien aus dem Jahr 2000 war Deutschland durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft 2005 bereits verurteilt worden. Bei weiterer Verzögerung drohten 2006 nun umfangreiche Bußgelder. Erst dieser Umstand schuf den notwendigen Druck zur Verabschiedung des AGG.
Im „neuen“ AGG 2006 wurden die schon seit 25 bzw. 10 Jahren existierenden Schutznormen der §§ 611a ff. BGB (Verbot von Geschlechtsdiskriminierung im Arbeitsverhältnis) und des Beschäftigtenschutzgesetzes (Schutz vor sexueller Belästigung) sowie der § 81 Abs. 2 SGB IX (Diskriminierungsverbot zugunsten schwerbehinderter Menschen) in einem Gesetz zusammengeführt und auf die weiteren durch die neuen EU-Antidiskriminierungsrichtlinien vorgegebenen Merkmale zugeschriebene „Rasse“, ethnische Herkunft, Religion und Weltanschauung, allgemein Behinderung, Alter und sexuelle Identität ausgedehnt.
Richtlinienbedingt wurden dabei im Detail Konkretisierungen und Verbesserungen eingeführt. Galt der Diskriminierungsschutz bislang nur für den Erwerbsbereich, so wurden jetzt auch öffentlich angebotene Güter und Dienstleistungen in den Diskriminierungsschutz einbezogen. Dabei ging der Gesetzgeber insoweit über die Umsetzungsgebote der EU-Richtlinien hinaus, als alle Merkmalsgruppen auch in den zivilrechtlichen Schutz einbezogen wurden und nicht nur die Merkmale zugeschriebene Rasse, ethnische Herkunft und Geschlecht, für welche die Antidiskriminierungsrichtlinien 2000/43/EG und 2004/113/EG das zwingend verlangten.
Widerstand in der Wirtschaft gegen das neue AGG
Doch die Wogen gingen in Deutschland, selbst bezogen auf das Arbeitsrecht, hoch: Es war vom „Hammergesetz“ die Rede, das dazu einlade, „es schamlos auszunutzen“. Es werde daher „Klagen hageln“. Zudem enthalte das Gesetz „zu viel Regelungs- und Überwachungsbedarf“1. Diese Empörung dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die zuvor existierenden Diskriminierungsverbote bislang eher im Verborgenen geschlummert hatten und den Unternehmen zumeist noch gar nicht aufgefallen waren.
Ende 2008 räumte nun das Institut der Deutschen Wirtschaft (IWD) ein, dass die prognostizierte Klageflut ausgeblieben ist. Die Datenbank JURIS verzeichnete bis August 2008 lediglich 251 Klagen zum AGG. Das IWD begründet das Ausbleiben der Klagflut allerdings nicht mit der Zahnlosigkeit des Gesetzes, sondern mit dem umfangreichen Vorsorgeaufwand, den die deutschen Unternehmen inzwischen hätten betreiben müssen und der zu exorbitant hohen Kosten geführt habe.2
Diese These wird jedoch durch eine Studie 3 widerlegt, die im März an der Universität Hamburg von den Autorinnen dieses Beitrags, den Professorinnen Sibylle Raasch und Daniela Rastetter,4 veröffentlicht wurde. Um das Hauptergebnis vorwegzunehmen: Die Unternehmen haben vor allem ihre Stellenanzeigen umformuliert und geben zumeist keine Auskunft mehr an BewerberInnen über die Hintergründe ihrer Personalentscheidungen. An den eigentlichen Auswahlkriterien und insgesamt der betrieblichen Personalpolitik wird hingegen festgehalten. Dabei benennen die Befragten viele Bereiche, in denen die durch das AGG eigentlich zu schützenden Gruppen noch heute in den Betrieben benachteiligt sind.
Es besteht also durchaus Handlungsbedarf. Der Vorsorgeaufwand, den die befragten Unternehmen betrieben haben, ist gering und hat nur wenige Kosten verursacht. Viele Befragte klassifizieren das AGG als weitgehend wirkungslos
Die Hamburger Unternehmensbefragung
Die Hamburger Befragung zur Umsetzung des AGG in den Unternehmen der Privatwirtschaft erfolgte im Frühsommer 2008, also eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes. Im Fokus standen die Vorgaben des AGG für den arbeitsrechtlichen Bereich, nicht das völlig neue Diskriminierungsverbot im allgemeinen Zivilrecht. Die Untersuchung beschränkt sich auf den Großraum Hamburg, liefert aber auf andere städtische Ballungsräume übertragbare Ergebnisse.
Untersucht wurden 41 Unternehmen der Privatwirtschaft, die sich über alle Branchen bis auf Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei ziemlich gleichmäßig verteilen und etwas mehr kleine und mittlere Betriebe (zwischen 21 und 250 Beschäftigten) als große Betriebe einschließen. Befragt wurden nicht nur die Personalverantwortlichen bzw. die Geschäftsführung, sondern auch Betriebsräte, Behindertenbeauftragte und die – wenigen – Antidiskriminierungsbeauftragten. (Vgl. Studie S. 9: 4. 4.1 Zusammensetzung der befragten Unternehmen) Ausgewertet wurden 52 Interviews: 36 aus der Geschäftsführung oder Personalleitung (zwei Drittel), 8 aus Betriebsräten und 8 von Behinderten- bzw. Gleichstellungsbeauftragten. (S. 11: 4.2 Zusammensetzung der Befragtengruppe)
Befragungsinstrument war das leitfadengestützte persönliche Experteninterview. (S. 6: 2.3 Befragungsinstrumente) Die Interviewerinnen gingen in der Regel persönlich in die Betriebe und sprachen zwischen 40 Minuten und zwei Stunden mit den ExpertInnen. Die Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet, abgeschrieben und danach detailliert ausgewertet. Dieses Vorgehen war sehr zeitaufwändig, liefert nun aber im Vergleich zu anderen Befragungen zur Umsetzung des AGG einen besonders unmittelbaren und differenzierten Einblick in die aktuelle Unternehmenspraxis.
Ergebnisse der Unternehmensbefragung: Information, Schulungen, Beschwerdestellen
Das AGG verlangt von den Unternehmen nur wenige ganz konkrete Aktivitäten: Das Gesetz ist im Betrieb bekannt zu machen und ebenso, wo man sich wegen Verletzung des Gesetzes im Betrieb beschweren kann (§ 12 Abs. 5 AGG). Eine neue, besondere Beschwerdestelle hingegen muss nicht eingerichtet werden.
Die Beschäftigten sollen darüber hinaus in „geeigneter Art und Weise“ auf die Unzulässigkeit von Diskriminierung hingewiesen werden, insbesondere in Rahmen betrieblicher Aus- und Fortbildung (§ 12 Abs. 2 Satz 1 AGG). Das Interesse der Unternehmen an der Bekanntmachung des Gesetzes ist jedoch zwiespältig: Einerseits kann durch Information und insbesondere Schulungen die Haftung für später dennoch erfolgte Diskriminierung begrenzt werden. Andererseits kosten diese Aktivitäten Geld und könnten künftige KlägerInnen quasi neu heranziehen.
Daher gingen die meisten Unternehmen selektiv vor: 83 Prozent der Betriebe informierten über das AGG, zumeist via Rundschreiben oder betriebliches Intranet. Immerhin 13 Prozent, überwiegend Klein- und Mittelbetriebe, informierten jedoch nicht. (S. 13: Frage 3) Schulungen zum AGG führten nur noch 71 Prozent der befragten Unternehmen durch, zumeist selektiv nur für Führungskräfte und Personalverantwortliche. 25 Prozent, also ein Viertel der Betriebe, schulten nicht. (S. 13: Frage 4)
Beschwerdestellen benannt hatten ebenfalls nur 71 Prozent der Betriebe. 23 Prozent, also knapp ein Viertel der Betriebe, blieben auch hier untätig. (S. 14: 5.2 Beschwerdestelle) Zur Beschwerdestelle ernannten dann allerdings 57 Prozent der befragten Unternehmen die Personalabteilung oder gar die Geschäftsleitung selbst. Das sind Stellen, welche die Beschäftigten – selbst ohne AGG-Beschwerde – ungern aufsuchen.
Änderungen in der betrieblichen Personalpolitik
In den Unternehmen gibt es massiven personalpolitischen Handlungsbedarf. Zwar sagten einleitend viele Befragte, in ihrem eigenen Unternehmen werde nicht mehr diskriminiert, in den anderen Unternehmen aber sehr wohl. Nach ihrer persönlichen Beobachtung befragt benannten dann allerdings zwei Drittel der Befragten klar umrissene Benachteiligungen bestimmter Gruppen, die durch das AGG gegen Diskriminierung geschützt werden sollen. (S. 28: 5.9 Vorhandene Benachteiligung in Unternehmen) Benachteiligungen sahen 42 Prozent bei Frauen.
Hauptbereiche waren erschwerter Zugang zu gewerblichen und technischen Positionen sowie Führungspositionen; Benachteiligung wegen der Schwangerschaft oder Elternzeit und fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie. 31 Prozent sahen Benachteiligung wegen der Religion, insbesondere wegen des Kopftuchs. (S. 22: Frage 10.3) 21 Prozent der Befragten sahen Ältere benachteiligt, insbesondere wegen bevorzugter Einstellung Jüngerer.
Benachteiligung wegen der Behinderung, der ethnischen Herkunft oder der sexuellen Identität nannten hingegen nur ganz wenige Befragte, obwohl andere Passagen der Befragung sehr wohl Anhaltspunkte dafür liefern, dass auch diese Gruppen in den Unternehmen benachteiligt werden. Was man aber als Gruppe im Betrieb gar nicht sieht, wird offenbar auch nicht als diskriminiert wahrgenommen. Dennoch hat sich die Personalpolitik der Betriebe seit Inkrafttreten des AGG kaum verändert.
Lediglich im Einstellungsverfahren (S. 15: 5.3. Änderungen im Bereich der Personaleinstellungen), insbesondere bei der Abfassung von Anzeigen, wurde wegen des Gesetzes nachgebessert. Denn hier wären ansonsten diskriminierende Praktiken nach außen leicht erkennbar geblieben. Daher wurden bei 80 Prozent der befragten Unternehmen die Ausschreibungstexte überprüft und geschlechtsspezifische Bezeichnungen sowie der Zusatz „jung und dynamisch“ ersetzt bzw. gestrichen. Zur besseren Beweissicherung werden Einstellungsgespräche inzwischen häufiger zu zweit geführt und auch öfter Protokolle erstellt. Andere wägen schon hier zwischen den Kosten ab, die eine Änderung verursacht, und denen, die im Fall der eher seltenen Klagen zu erwarten wären, und veranlassen im Ergebnis nichts.
Die eigentlichen Einstellungskriterien hat jedenfalls wegen des AGG kein einziges der befragten Unternehmen verändert. In der Praxis gilt verbreitet noch immer: männlich, jung, dynamisch und also nicht behindert als Einstellungsideal. Stattdessen werden Ausweichtaktiken erkennbar: 19 Prozent der Unternehmen geben nach außen keinerlei Auskunft mehr, warum eine Person nicht eingestellt wurde.
Auch bei der Auswahl für die Weiterbildung, bei Beförderungen (S. 18: 5.4 Personalentwicklung) und bei Kündigungen (S. 18: 5.5 Kündigungen) gab es keine Veränderungen. Im Entgeltbereich (S. 19: 5.6 Entgeltpolitik) wurden lediglich in zwei Fälle genannt.
Klagen auf Grund des AGG
Es dürfte kaum überraschen, dass eine derartig sparsam dosierte Umsetzung des AGG den Unternehmen auch nur wenige Konflikte oder gar Klagen gebracht hat. (S. 32: Frage 16: Konfliktfälle und Klagen) Man hat wenig informiert und kaum etwas verändert. Und durch systematisches Schweigen nach außen sind vorhandene Diskriminierungen weiterhin nicht beweisbar. 75 Prozent der Befragten verneinen, dass es wegen des AGG im Betrieb Konflikte gegeben hat. 17 Prozent berichten von Konfliktfällen. Diese wurden aber in der Regel intern gelöst. Nur einmal kam es zu einer Klage.
Zeitaufwand und Kosten durch das AGG
Der Zeitaufwand hat sich bei den Befragten AGG-bedingt nicht stark erhöht. (S. 31: Zeitaufwand) Nur 54 Prozent sahen überhaupt einen erhöhten Zeitaufwand durch das AGG, verursacht zumeist durch einmalige Einführungsmaßnahmen wie das Überarbeiten von Stellenanzeigen, das Verfassen von Rundschreiben und die Durchführung von Schulungen. Dem entsprechend meinten 90 Prozent der Befragten, die Arbeit werde unverändert mit demselben Personal erledigt.
Kostensteigerungen (S. 31: Kosten) sahen sogar nur 48 Prozent der Befragten für ihr Unternehmen, zumeist auch nur in der Einführungsphase. Als dauerhafte Kostensteigerungen wurde u.a. der erhöhte Dokumentationsaufwand genannt. Anhaltspunkte dafür, dass den deutschen Unternehmen durch das AGG Kosten in Milliardenhöhe entstanden sind, liefert die Hamburger Studie jedenfalls nicht.
Fazit
58 Prozent der Befragten hatten anfangs gegenüber dem Gesetz Befürchtungen und Ängste wie allgemeine Unsicherheit, AGG-Hopping (also Missbrauch der Klagemöglichkeiten) oder allgemein eine Klagewelle oder höhere Administrationskosten. Doch nur eine einzige Befragte meinte noch 2008, dass sich ihre Ängste auch bestätigt hätten. (S. 32: Frage 16: Befürchtungen und Ängste)
Persönlich wird das Gesetz jetzt eher als „wenig wirksam“ beurteilt. (S. 34: 5.11 Persönliche Einschätzungen des AGG) Dennoch bewerten inzwischen 48 Prozent der Befragten das Gesetz positiv: Es sei gut, dass es das Gesetz überhaupt gäbe, dass sensibilisiert werde und Bewusstsein geschaffen. Das AGG sei zumindest ein Anfang. Es werde allerdings noch Jahre brauchen, bis tatsächliche Veränderungen einträten. 37 Prozent lehnen das AGG weiterhin ab.
Dem Gesetz fehlt jedenfalls bislang jeder Umsetzungsdruck. Dadurch drohen die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen zur Antidiskriminierung in Deutschland erneut ins Leere zu laufen. Damit geraten auch das menschenrechtliche Gebot zur Nichtdiskriminierung und die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit wieder aus dem unternehmerischen Blickfeld. Nur wenige Unternehmen betreiben freiwillig sogar Gleichstellungspolitik oder Managing Diversity. (S. 25: Frage 11: freiwillige Gleichstellungspolitik)
Die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien im Bereich Beschäftigung und Beruf böten eigentlich die Möglichkeit, dass die deutschen Unternehmen sich weitgehend im Gleichschritt und unter Ausschluss von Konkurrenz quasi ungestört personalpolitisch modernisieren und könnten. Doch diese Chance wird in Deutschland durch ein viel zu schwach ausgestattetes Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz gerade kollektiv verpasst.
Endnoten
1 Personalmagazin, Titelthema: das AGG im Urteil der Personalmanager, 7/2006 S. 28 f.
2 IWD: Kaum Klagen wegen Diskriminierung, in: iwd 11. Dez. 2008, S. 8
3 Raasch, S.; Rastetter, D.: Die Anwendung des AGG in der betrieblichen Praxis . Projektbericht Universität Hamburg März 2009
4 Projektmitarbeiterinnen waren: Nina Bielau, Diana Fazari, Ursula Kisse. Katarzyna Najlepsza, Emma Patrignani, Tika Rieckhoff und Regine Starck.
Sibylle Raasch ist Professorin für Öffentliches Recht und Gender Studies mit Schwerpunkt Gleichstellungsrecht. Daniela Rastetter ist Dipl. Psychologin und Professorin mit Schwerpunkt Gender und Mikropolitik. Beide lehren an der Uni Hamburg.