von Gari Pavkovic
Diversität – eine neue Sicht auf die Gesellschaft?
Mit dem Begriff Diversität wird seit einigen Jahren die Pluralisierung moderner Gesellschaften beschrieben. Die Koexistenz von Vielfalt an Lebensentwürfen ist insbesondere ein Merkmal von urbanen Gesellschaften – übrigens nicht erst in heutiger Zeit und nur in westlichen Kulturen. Die neuen Ausprägungen von Migration, Mobilität und medialer Vernetzung über nationale Grenzen hinweg verändern jedoch in rasantem Maße die Bevölkerungsstruktur, aber auch die Interaktionen zwischen den Menschen und sozialen Gruppen in den Städten.
Individualisierung, Differenzierung von sozialen Milieus sowie kulturell-religiöse Pluralisierung infolge von Einwanderung haben zur Folge, dass moderne Stadtgesellschaften eine Summe von heterogenen „Minderheiten“ werden. Eine soziokulturell homogene „Mehrheitsgesellschaft“, die in wiederkehrenden Integrationsdebatten als Gegenpol zu den MigrantInnen als den kulturell Anderen/Fremden beschworen wird, gibt es bei genauerer Betrachtung gar nicht. Allerdings sind die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe von Teilgruppen unterschiedlich ausgeprägt.
Kommunen stehen daher zunehmend vor der Herausforderung, wie sie diese Diversität gestalten können – nicht nur in Bezug auf die wachsende Bevölkerungsgruppe mit Migrationsgeschichte.
Das Konzept der Diversität geht von der Annahme aus, dass jene Gesellschaften, die Vielfalt als einen Motor für gesellschaftliche Entwicklung begreifen und die mit Verschiedenartigkeit der Menschen auf eine kreative Weise umzugehen verstehen, auf Dauer erfolgreicher sind als andere (Warnfried Dettling).
Für den sozialen Zusammenhalt ist es jedoch auch entscheidend, dass sich möglichst alle Bevölkerungsgruppen mit der Gesellschaft und ihren Grundwerten verbunden fühlen. Das Gefühl der Zugehörigkeit hängt in hohem Maße davon ab, inwieweit Menschen als Einzelpersonen und als Mitglieder von sozialen Gruppen gleichberechtigte Möglichkeiten der Teilhabe und des gesellschaftlichen Aufstiegs haben. Es ist eine Aufgabe des Staates, Gleichstellung und Inklusion der benachteiligten Teilgruppen (Frauen, MigrantInnen, Arme, Behinderte, Ältere) aktiv zu fördern und strukturelle Diskriminierungen abzubauen.
Das Konzept der Diversität geht davon aus, dass all diese Teilgruppen besondere Stärken haben, die bei der Gestaltung der Gesellschaft berücksichtigt werden sollen: Frauen in Führungspositionen fördern kooperative und effiziente Arbeitsstrukturen. MigrantInnen als Personal tragen zur Erweiterung der interkulturellen Kompetenzen bei. Ältere bringen wichtiges Erfahrungswissen mit, von dem jüngere MitarbeiterInnen profitieren können. Begabungen der Ärmeren und der Behinderten können entfaltet werden, wenn sie die notwendige Unterstützung bekommen und wenn sie Verantwortung übernehmen dürfen. Alle erweitern ihre sozialen Kompetenzen in heterogen zusammengesetzten Teams.
Dies gilt nicht nur für die Arbeitswelt sondern auch für das Zusammenleben im Alltag. Gemeinsame generationen- und nationenübergreifende Begegnungen und Aktivitäten fördern das gegenseitige Verständnis und die Integration.
„Vielfalt als Chance“, „Vielfalt tut gut“, „ungleich besser“ sind die programmatischen Leitsätze des Diversitätsmanagements. Hat die hier kurz skizzierte Philosophie der Diversität zu einer erkennbaren Neuausrichtung kommunaler Verwaltungspraxis geführt?
Kommunale Diversitätskonzepte – Anspruch und Wirklichkeit in Stuttgart
Im Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung Politics of Diversity wurden von einigen Jahren erste Ansätze kommunaler Diversitätspolitik beschrieben, so auch am Beispiel der Stadt Stuttgart. Der Stuttgarter Beitrag endete mit dem Resümee: „Eine konsistente gesamtstädtische Diversitätspolitik, die zugleich eine wirksame Antidiskriminierungspolitik ist, ist als große Zukunftsaufgabe der Politik erkannt, derzeit jedoch nur ansatzweise entwickelt.“
In der Fortschreibung des gesamtstädtischen Konzepts Stuttgarter Bündnis für Integration von 2009 sind die bisherigen Ansätze für 15 integrationspolitische Handlungsfelder ausführlich beschrieben. Diese Ansätze sind seitdem in Teilbereichen weiterentwickelt worden, aber ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel von Integration zu Diversity ist noch nicht vollzogen worden.
An dieser Stelle können wir seit 2009 erfolgreiche Entwicklungen aufzählen. Weitere Stuttgarter Institutionen haben begonnen, ihre Dienstleistungen für MigrantInnen interkulturell auszurichten und eine interkulturelle Personalpolitik zu betreiben, darunter die Ausländerbehörde, das Sozialamt (in Bezug auf die Altenhilfe), etablierte Kultureinrichtungen (Theater, Museen) sowie der Stadtverband der Caritas als Ganzes. Das Jugendamt entwickelt einen migrationssensiblen Kinderschutz und baut interkulturelle Elternbildungsangebote aus.
Ab 2011 startet eine Kampagne zur Erhöhung des Anteils von MigrantInnen als Auszubildende bei der Stadtverwaltung. Kliniken entwickeln Angebote für MigrantInnen mit behinderten Kindern und für ältere MigrantInnen (darunter Demenzkranke) und suchen die Kooperation mit MigrantInnenvereinen. Die Stadt fördert mit einem eigenen Qualitätsentwicklungsfonds die interkulturelle Entwicklung von Schulen in Kooperation mit außerschulischen Partnern vor Ort. Im Rahmen des Projekts „Migranten machen Schule“ hat ein Netzwerk von etwa 70 Lehramtsstudierenden, Lehrkräften und Schulleitungen (die meisten von ihnen mit Migrationshintergrund) eine Materialsammlung zum Umgang mit kultureller Diversität für den Schulunterricht entwickelt.
Das Kultusministerium Baden-Württemberg baut dieses Stuttgarter Projekt inzwischen landesweit aus. Mehrsprachigkeit wird gefördert, u.a. durch türkische VorlesepatInnen in Kindertageseinrichtungen, durch mehrsprachige Medien der Stadtbücherei und bilinguale Unterrichtsmodelle an Schulen. Interkulturelle Öffnung und Qualifizierung wird im Rahmen von Projekten in Migrantenvereinen betrieben, insbesondere in islamischen Gemeinden. Im Jahre 2010 wurde der gesamtstädtische Arbeitskreis „Muslime und Integration“ gegründet, der Kooperationen zwischen muslimischen Vereinen und verschiedenen kommunalen Institutionen initiiert. Diese Auflistung ließe sich noch fortsetzen.
Impulse zu einer Weiterentwicklung der Integrationsarbeit hin zu einer Diversitätspolitik gehen sehr stark von AkteurInnen des Stuttgarter Bündnisses für Integration aus: der Abteilung für Integration im Geschäftskreis des Oberbürgermeisters, dem Internationalen Ausschuss des Gemeinderats, dem Forum der Kulturen Stuttgart sowie engagierten Personen des mittleren Managements in einzelnen Ämtern und bei freien Trägern und einzelnen Schulleitungen und Lehrkräften, die ihr Schulprofil im Sinne einer „Schule der Vielfalt“ weiterentwickeln wollen.
Die positiven Beispiele könnten den Eindruck erwecken, dass Diversitätsansätze inzwischen Mainstream in Stuttgart sind. Tatsächlich sind es Früchte langjähriger Kooperationen zwischen den genannten Institutionen. Überzeugungsarbeit und konstruktive Auseinandersetzungen mit verschiedenen Arbeitsstrukturen waren notwendige Schritte bei der Entwicklung von Diversitätskonzepten.
Diversitätsmanagement – eine Frage der Haltung im Umgang mit Vielfalt
Am Beispiel der Schulen (die in Stuttgart inzwischen auch eine verstärkte Inklusion behinderter Kinder betreiben wollen) werden die Probleme der Umsetzung von Diversitätskonzepten deutlich. Dazu schreibt Katrin Höhmann:
„Wer von Vielfalt spricht, kommt nicht umhin zu definieren, um welche Begrifflichkeit von Vielfalt es geht. Geht es um Vielfalt auf Systemebene, dann ist unser Schulsystem eines der vielfältigsten weltweit. Oder geht es um die Vielfalt auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler, dann finden sich in Deutschland im weltweiten Vergleich die homogensten Lerngruppen.“ (Höhmann 2008)
Dieses Problem lässt sich auf die kommunale Verwaltung einer Großstadt übertragen. Es gibt eine Vielfalt von Ressortzuständigkeiten und Unternehmenskulturen in den Ämtern. Ein Ordnungsamt, ein Jugendamt, ein Kulturamt, die Beauftragten für Gleichstellung, Bürgerengagement oder Kinderfreundlichkeit arbeiten alle für und mit Stuttgarter BürgerInnen, die in Bezug auf ihre individuellen Bedürfnisse, ihre soziale Lage und ihre kulturelle Orientierung sehr heterogen sind. Die Institutionen haben in der Regel den Anspruch, all ihre Adressatengruppen gleich zu behandeln. Wenn aber die Verschiedenheit der Personen und Teilgruppen ausgeblendet wird, kann die scheinbare Gleichbehandlung zur Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit führen.
Der Schulerfolg in unserem Bildungssystem hängt in hohem Maße von der Lernförderung im Elternhaus ab. Wenn Eltern diese Aufgabe nicht wahrnehmen können (z.B. als MigrantInnen mit unzureichenden Deutschkenntnissen und geringem sozialen Status), haben ihre Kinder bei vergleichbarer Begabung nicht die gleichen Bildungschancen wie Kinder aus deutschen Akademikerfamilien. Wenn Beratungsdienste migrationsbedingte und soziale Faktoren der Ratsuchenden (Aufenthaltsstatus, Diskriminierung, prekäre Lebensverhältnisse) ausblenden oder diese als kulturbedingte Integrationsdefizite definieren, entwickeln sie keine wirksamen Lösungen zum Abbau von gesellschaftlicher Ausgrenzung. Wenn Ehrenamtsbeauftragte mit ihren Angeboten nur auf die Bedürfnisse der engagierten deutschen Mittelschicht eingehen, erkennen und fördern sie nicht die Potenziale des Bürgerengagements von MigrantInnen.
Der Umgang mit Vielfalt und Verschiedenheit bedarf einer veränderten Sichtweise und Haltung. Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die sich weitgehend in homogenen Arbeitsstrukturen und Lebenswelten bewegen, erleben Diversität als eine Störung des Gewohnten, was oft mit einer persönlichen Verunsicherung verbunden ist.
Wenn die Lehrkraft an einer Regelschule die Vorgabe bekommt, behinderte Kinder in ihre Klasse aufzunehmen (weil die Schulbehörde Inklusion fördern will), entwickelt sie die Sorge, wie sie das bisherige Lernniveau halten kann. Sie entwickelt unter Umständen keine Ideen, wie sie die Lernarrangements verändern kann, um allen Kindern gerecht zu werden. Und die Lehrkraft nimmt keine kollegiale Beratung in Anspruch, wenn dies kein Merkmal der „Unternehmenskultur“ der Schule ist. Sie reagiert auf Neues (deutlich erkennbare Diversität) mit bisher bewährten Lösungsstrategien, die aber nicht zur Meisterung der neuen Herausforderung führen.
Der Umgang mit Vielfalt erfordert daher auch eine Diversität in Bezug auf Zugänge, Methoden und Arbeitsstrukturen. Notwendig ist eine kritische Reflexion der Wirkungen der eigenen Arbeit in Bezug auf heterogene Zielgruppen, was im Rahmen von kollegialen und interdisziplinären Arbeitsstrukturen erfolgen kann (Perspektivenvielfalt). Wenn Institutionen Diversität als eine Aufgabe erkennen und anerkennen, deren erfolgreiche Gestaltung in der Verantwortung der eigenen Organisation liegt, führt dies zwangsläufig zu Veränderungen der Institution als Ganzes. Beim letztgenannten Schulbeispiel kommt hinzu, dass ein neuer Ansatz (Diversität durch Inklusion) auch die Eltern verunsichert, die davon ausgehen, dass erfolgreiches Lernen nur in homogenen Lerngruppen möglich ist. Die Schule muss daher eine Verständigung unter allen beteiligten Akteuren erzielen, dass Vielfalt und Verschiedenheit einen Mehrwert für alle SchülerInnen darstellen. Dasselbe gilt für die Implementierung von Diversitätsansätzen in kommunalen Ämtern.
Diese Ausführungen sollen verdeutlichen, dass es einer inneren Überzeugung bzw. Haltung und eines gemeinsamen institutionellen Lernprozesses bedarf, damit das Konzept der Diversität im Arbeitsalltag erfolgreich umgesetzt werden kann. Es reicht nicht, einzelne Mitarbeiter im Hinblick auf interkulturelle Kompetenz und den Umgang mit Vielfalt fortzubilden. In Stuttgart werden interkulturelle Fortbildungen zunehmend als Inhouse-Schulungen für ganze Organisationseinheiten angeboten. In Teams und Arbeitsgruppen wird die Anwendung des erworbenen Wissens anschließend regelmäßig reflektiert. Die interkulturelle Orientierung ist dabei nur ein Teilbereich des Diversitätsmanagements.
Da der professionelle Umgang mit Vielfalt ein persönlicher und institutioneller Entwicklungsprozess ist, dessen Mehrwert oft erst in mehrjähriger Praxis erfahrbar wird, kann dieser nicht ausschließlich als eine Top-Down-Strategie verordnet werden. Aus diesem Grund sind die Fortschritte bei der Umsetzung in Stuttgart, ähnlich wie in anderen Städten, nur langsam zu erzielen.
Diversity als gesamtstädtisches Leitbild und Programm?
In Fachkreisen und in Bürgerumfragen wird Stuttgart eine gute Integrationspolitik bescheinigt. Ein Grund dafür ist die Anerkennung der kulturellen Diversität als Bereicherung für die Gesellschaft und ihre gezielte Förderung durch die Verwaltungsspitze (Oberbürgermeister und beigeordnete Referatsleitungen) sowie durch zahlreiche weitere gesellschaftliche Akteure. Die Stadt will auch ihre Standortqualität als kinderfreundliche Stadt und als ein Innovationszentrum für nachhaltige Mobilität ausbauen.
Ein gesamtstädtisches Diversitäts- und Gleichstellungskonzept mit messbaren Zielvorgaben und einem Diversitätsmonitoring für alle relevanten Teilgruppen bzw. Handlungsfelder (Gender, Migration, Menschen mit Behinderung usw.) gibt es nicht. Daher ist dieser Beitrag als eine Zwischenbilanz auf dem weiteren Weg von der Integrationspolitik zu einer umfassenderen Diversitätspolitik zu verstehen.
Literatur
- Dettling, Warnfried: Diversität als Herausforderung für Kommunen in Deutschland. In: Bertelsmann Stiftung (2011) (Hrsg.): Diversität gestalten. Erfolgreiche Integration in Kommunen.
- Heinrich-Böll-Stiftung (2008) (Hrsg.): Dossier „Politics of Diversity“.
- Höhmann, Katrin (2008): Qualitätsbereich Umgang mit Vielfalt – Thesen und Kommentar. Beitrag zum Exzellenzforum des Deutschen Schulpreises 2008.
- Landeshauptstadt Stuttgart (2009) (Hrsg.): Stuttgarter Bündnis für Integration – Fortschreibung 2009.
- Pavkovic, Gari (2008): Von Integration zu Diversity? Die Stadt Stuttgart auf dem Weg zu einer Diversitätspolitik. In: Heinrich-Böll-Stiftung: Dossier „Politics of Diversity“.
Gari Pavkovic ist seit 2001 Integrationsbeauftragter der Stadt Stuttgart und leitet seit Oktober 2010 auch die Abteilung Stuttgarter Bildungspartnerschaft.