Am 25. Mai 2014 hat die Europäische Union ihr neues Parlament gewählt. Europaskeptische Parteien haben dabei in vielen Ländern deutlich mehr Stimmen erhalten als noch vor fünf Jahren. Für viele Menschen hat die Zukunft der EU jedoch längst begonnen. Griech_innen, Spanier_innen, Italiener_innen verlassen ihre von der Wirtschaftskrise betroffenen Heimatländer. Sie nutzen die Freizügigkeit des europäischen Staatenverbunds und suchen in den Großstädten im Norden Europas nach Arbeit, besserer Lebensqualität und Zukunftsperspektiven. Dabei ist Deutschland zu einem ihrer beliebtesten Ziele geworden. 370.000 kamen allein vor zwei Jahren. Die höchste Zuwanderungsrate, die die Bundesrepublik seit 15 Jahren zu verzeichnen hat. Über 60.000 der Neueinwander_innen stammen aus Italien.
Auf der Veranstaltung „Andiamo! Europa in Bewegung“ (am 20. Mai 2014) in Zusammenarbeit mit dem Italienischen Kulturinstitut Berlin diskutierten die Fachleute am Beispiel italienischer Migrant_innen für die neue europäische Mobilität. Es ging vor allem um die Situation der europäischen Einwander_innen, ihren Einfluss auf den deutschen Arbeitsmarkt sowie die Folgen der Auswanderung in ihren Herkunftsländern und das Entstehen einer neuen europäischen Identität. Sind diese Menschen, die ihre vertraute Umgebung, ihre Familien und sozialen Netzwerke zurücklassen, um in Deutschland, Großbritannien oder Dänemark ein neues Leben zu beginnen, tatsächlich die Lost Generation, als die sie häufig bezeichnet werden?
Der griechische Filmemacher Gabriel Tzafka, der seit einiger Zeit in Kopenhagen lebt, ist anderer Meinung. Er sagt: „Ich glaube nicht, dass wir es mit einer verlorenen Generation zu tun haben. Es ist einfach eine Generation, die in Bewegung ist und sich mit anderen Menschen verbindet, die neue Gesellschaftsformen hervorbringen wird“. Mit „RE:Union“ hat Tzafka (mit der Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung) einen Dokumentarfilm gedreht, der sich mit den Lebenswelten genau dieser Generation befasst. Bei seiner Arbeit hat er griechische, spanische und italienische Einwander_innen in Kopenhagen, London und Berlin begleitet. Der Film, mit dem die Veranstaltung eröffnete, macht deutlich, wie vielschichtig die Erfahrungen der Einwander_innen sind.
Die Griechin Efi Kalogeraki kommt nach Kopenhagen und kann sich dort einen Traum erfüllen: Sie findet eine Anstellung in einer Kanzlei für internationales Recht. Die beiden Spanier_innen Susana und José müssen in London länger auf ihr Glück warten. Sie arbeitet als Kindermädchen und möchte eigentlich in ihrem Fach Kunst unterrichten. Er arbeitet als Kellner in einem argentinischen Restaurant. Kevin stammt aus Italien. Er ist nach Berlin gekommen, um in Immobilien zu investieren und stößt dabei auch auf das Unverständnis der Einheimischen. Über seine neue Heimat sagt er: „Berlin ist wie ein Hochseehafen. Die Menschen kommen und gehen. Es ist schwer, stabile Beziehungen aufzubauen“.
Was aber alle Protagonist_innen in „RE:Union“ gemeinsam haben, ist, dass es sie in die großen Städte zieht. Ein Trend, der sich in Zukunft noch verstärken wird, wie der Globalisierungs- und Entwicklungsforscher Ian Goldin meint. Goldin sagt: „Großstädte werden in Zukunft immer wichtiger sein und die Menschen werden ihre Identität zunehmend über sie definieren“.
Sie wollen im Mainstream der Zeit leben
Die Fachärztin für Psychiatrie Dr. Luciana Degano Kieser hat eine Erklärung, warum sich Eingewanderte von Metropolen wie London oder Berlin angezogen fühlen. „Sie wollen im Mainstream der Zeit leben, und die Bilder, die uns jetzt erreichen, kommen eben aus diesen Städten und nicht aus Syrakus oder Rom“. Die Vorstellungen der Einwander_innen dieser Generation seien in gewisser Weise ähnlich, sagte sie. Es ginge ihnen um Funktionalität, Modernität und neue Dimensionen, die sie in diesen Städten zu finden glaubten.
„Was Berlin und Deutschland betrifft, gibt es Medien, die die Situation bezüglich der Sozialsysteme idealisieren“, kritisierte Dr. Francesco Marin von der italienischen Botschaft. Er sehe eine Kluft zwischen den Erwartungen und der Realität auf die, die jungen Einwander_innen dann treffen.
Gerade in Berlin stießen viele von ihnen auf erhebliche Probleme. Dr. Edith Pichler, Soziologin von der Universität Potsdam, sagte: „Viele Italiener, Spanier und Griechen kommen nach Berlin, die Arbeitsplätze sind aber in West- und Süddeutschland“. Aufgrund der hohen Arbeitslosenquote unter jungen Menschen in Berlin stelle sich die Frage, in welchen Bereichen die Zuwander_innen eine Beschäftigung fänden. Auf der anderen Seite habe die Wahl der Menschen nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern es ginge dabei auch sehr oft um die Möglichkeit, eigene Vorstellungen und Lebensentwürfe zu verwirklichen. Wer aus Abenteuerlust nach Deutschland komme gehe eben nach Berlin.
Im Vergleich zur Einwanderung, die in Deutschland in den 50er Jahren begann, ist die heutige Situation weitaus komplexer. Für Francesco Marin hängt dieser Umstand vor allem damit zusammen, dass die heutigen Zuwander_innen höhere Bildungsabschlüsse hätten und mit anderen Ansprüchen und Lebensentwürfen nach Deutschland kämen. Während frühere Generationen von Einwander_innen zumeist in festen Arbeitsverhältnissen über einen längeren Zeitraum in Deutschland beschäftigt gewesen wären, gebe es heute eine Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, in denen sich Festanstellungen, Selbstständigkeit, Honorartätigkeiten und Mischformen dieser Beschäftigungsarten fänden. Das fällt Marin immer wieder dann auf, wenn er die Italiener_innen, deren Zahl sich in Berlin im Verlauf der letzten fünf Jahre verdreifacht hat, berät. Neu sei auch, dass immer mehr Nicht-EU-Bürger_innen, die in Italien sozialisiert seien, dort studiert hätten, in der Botschaft Rat suchten.
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Deutschland kann von den Kenntnissen der Einwander_innen profitieren
Die neue Mobilität stellt nicht nur die europäischen Botschaften in Deutschland vor größere Herausforderungen. Aufnahmegesellschaften, Herkunftsländer, die Einwander_innen selbst und die europäischen Institutionen werden sich auf die zunehmenden Wanderbewegungen im EU-Raum einstellen müssen. Ein Beispiel dafür brachte Luciana Delgano Kieser: „Manche der Einwanderer fahren nach Mailand, um zum Zahnarzt zu gehen oder gehen gar nicht zum Arzt, weil sie nicht versichert sind und mit diesen sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen nicht zurecht kommen“.
Auch gebe es, mit Ausnahme Englands, in den EU-Staaten kaum Daten über psychische Belastungen, die mit Migration und Mobilität verbunden seien, wie es den heutigen Einwander_innen und den Menschen mit Migrationsgeschichte in dieser Hinsicht gehe. Die Frage stellt sich aufgrund der neuen Mobilität in verstärktem Maße, wie die Neuankommenden aufgenommen werden und welche speziellen Anforderungen ihre Lebenssituation mit sich bringt. „Es ist klar, dass Deutschland von den Kenntnissen der Einwanderer profitieren kann“, sagt Edith Pichler. „Andersherum müssen wir aufpassen, dass die Auswanderungsländer nicht darunter leiden, dass diese Arbeitskräfte fehlen, wenn sich die Wirtschaft in diesen Ländern wieder erholt hat“.
Seit Beginn der Wirtschaftskrise haben sich Italiens Abwanderungszahlen mehr als verdreifacht. Der Migrationsforscher Alvise Dal Pra' vom Turiner Centro Altreitalie sagte dazu: „Das Einwanderungssaldo Italiens ist deutlich negativ“. Er berichtete von einer Umfrage, die sein Forschungsinstitut unter jungen Italiener_innen, die ihr Land nach der Jahrtausendwende verlassen haben, durchführte. „Die große Mehrheit wünschte sich zwar eine Rückkehr nach Italien, aber der Tenor war, dass das nicht möglich sei, weil sie dort nie die gleichen Chancen auf einen Arbeitsplatz oder vergleichbare Verdienstchancen haben würden“.
Die Arbeitslosenzahlen seien unter jungen Menschen und Jugendlichen in Italien seit Beginn der Wirtschaftskrise von 20 auf 43 Prozent gestiegen. Die Generation der unter 35-jährigen, die nach dem Studium ihre Zukunft plane, sehe im Heimatland schlechte Chancen und wandere aus. Der Brain Drain, die Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften, sei aber nicht das Hauptproblem Italiens, meinte Dal Pra' und verwies darauf, dass die Zahl der Rückkehrer_innen nicht geringer sei als zum Beispiel in England. „Das Problem ist, dass keine neuen Einwanderer aus OECD-Staaten reinkommen“. Man verschwende außerdem das Potenzial derer, die aus Nicht-EU-Staaten ins Land kämen, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt würden.
Es wird keine nationalen Identitäten mehr geben
In Gabriel Tzafkas Film RE:Union bringt der Politikwissenschaftler Ivan Krastev seine Sorge zum Ausdruck: Laut Umfragen glaubten 60 Prozent der Europäer_innen, die Lebenssituation ihrer Kinder werde sich gegenüber ihrer eigenen verschlechtern. Er sagt: „Diese Art von Angst ist neu in Europa und das ist etwas, was wir ändern sollten“. Die EU-Parlamentswahlen haben gezeigt, dass solche Ängste in Europa tatsächlich eine Rolle spielen, und sie haben auch mit dem Wandlungsprozess zu tun, dem nationale Identitäten in dieser Zeit unterliegen. Ian Goldin, der Globalisierungsforscher, geht sogar so weit, zu sagen: „Es wird eine Zeit geben, in der wir keine nationalen Identitäten mehr haben werden“.
Den Filmemacher Gabriel Tzafka überrascht es, dass Menschen, die das Versprechen der Europäischen Union seit ihren Anfängen leben, als Lost Generation bezeichnet werden. Auf die Frage, ob diese Generation Europa den Weg zu neuen Lebensformen zeigen könne, antwortete er: „Nichts bleibt so, wie es ist. Wir bewegen uns immer weiter. Auch die Idee der Nation wird zu etwas Neuem transformiert werden“.
Die Menschen, die sich in dieser Zeit auf der Suche nach Arbeit, Zukunft und Lebensqualität in Europa bewegen, fordern die Europäische Union heraus, sich den neuen Lebensrealitäten zu stellen. Die Einwanderungsländer, die Herkunftsländer, die Institutionen der EU, das wurde in der Diskussion im Italienischen Kulturinstitut Berlin deutlich, stehen gleichermaßen vor der Aufgabe, Antworten auf die Fragen zu finden, die sich aus ihren Biografien ergeben.