Unsere geistige Heimat: ein Kommentar

In einem Kommentar zum Heimatbegriff setzt sich Sergey Lagodinsky mit dem Konzept "Heimat" als gefühlvolle Beziehung auseinander. In der aktuellen Debatte geht es um mehr als eine Enttabuisierung, es geht um Liebe, Stolz und Hoffnung.

Bushaltestelle am Europaplatz in Berlin
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"Wenn wir Heimat sagen, sollen wir es eher wie Ernst Bloch meinen, für den Heimat nicht eine Frage der historischen Verwurzelung, sondern der Zukunftshoffnung war."

Deutsche Heimatliebe heißt Begriffsliebe. Der kollektive Begriffsfetischismus der Deutschen ist atemberaubend. Wir erinnern uns: Mitten in der schwierigsten und entscheidenden Phase der Aufnahme von Flüchtenden in Deutschland im Jahre 2015 diskutierte das Land, ob wir es »schaffen« (Angela Merkel) oder »nicht schaffen« (Boris Palmer).

Die selbst ernannte progressive Hälfte der Gesellschaft glaubte damals wohl, durch das beharrliche Wiederholen des Satzes »Wir schaffen das« alle Herausforderungen der neuen Migration in Chancen umzuwandeln. Die Skeptiker hingegen durften sich schon durch eine kurze Widerrede als andersdenkende Revoluzzer fühlen. Die beiden wichtigsten Protagonisten agierten ja zumindest im politischen Alltag. Sie trafen Entscheidungen und handelten, um diesen Alltag zu gestalten.

FORMELN Der mediale und öffentliche Rest überbot sich hingegen mit Analysen und Brandmarkungen und hat die Diskussion fetischisiert. Ein Bekenntnis zu der einen oder der anderen Formel wurde nicht nur zu einem (profanen) Test auf ideologische Zuverlässigkeit in der Flüchtlingsdebatte, sondern auch zu einer Umlenkungskommunikation. Für die meisten waren diese Worte eben beides: Formeln als moralisierende Marker und Formeln als Handlungsersatz.

Nun ist eine ähnliche Voodoo-Diskussion entbrannt, diesmal um den Begriff »Heimat«. Wer Tabubrüche wittert, der irrt: Der Begriff »Heimat« ist in Deutschland mitnichten tabuisiert, auch nicht links der CDU.

Das Hamburger Programm der SPD wollte schon 2007 Menschen »Zugehörigkeit und Heimat« ermöglichen, die Grünen sprechen in ihrem Wahlprogramm 2017 mit Selbstverständlichkeit davon, dass Zuwanderer in Deutschland eine neue »Heimat« finden müssten.

Manch einer behauptet gar, die Grünen waren von Beginn an eine naturliebende »Heimatpartei«. Der Begriff selbst war und ist also auch im Nachkriegsdeutschland nie ausschließlich umgangssprachlich, sondern seit eh und je auch politisch gemeint.

KONZEPT Manche machen den neuralgischen Punkt an der Frage fest, ob Heimat ein ausgrenzendes oder ein inklusives Konzept ist. Ganz so, als wären wir Sklaven unserer Begriffe, nicht deren Gestalter. Heimat ist, was man aus Heimat macht. Auch in unseren Köpfen.

Wenn wir den Begriff Heimat positiv, bunt, offen und nachhaltig besetzen, dann ist das die Heimat, die wir haben. Wenn Heimat für uns kein Privileg der wenigen, sondern ein Angebot an viele ist, dann ist eben auch der Begriff Heimat keine Prärogative der Nationalisten.

Wenn wir ehrlich mit uns sind, geht es in der heutigen Diskussion nicht um das Wort an sich und nicht einmal um das Konzept. Es geht um eine Beziehung! Infrage steht nicht, dass Deutschland unser Land ist, sondern das Verhältnis der »Deutschen« zu ihm.

Es geht nicht um die Enttabuisierung eines Wortes, sondern um die Enttabuisierung eines Gefühls. Welches Gefühl soll hier in die politische Diskussion inauguriert werden? Dürfen wir auf die Heimat stolz sein? Dürfen wir Deutschland lieben? Trotz des Holocaust?

Im Endeffekt geht es um unsere kollektive emotionale Intelligenz. Sind wir in diesem Land reif genug, um Gefühle zur Heimat zu empfinden, dabei aber Impulse zu kontrollieren? Folgt auf die Enttabuisierung des Gefühls eine Gefühlsentfesselung? Die Antworten auf diese Fragen werden wir erst im späteren Verlauf der Geschichte bekommen.

NACHFRAGE Heute steht jedenfalls fest, dass es gerade unter den jüngeren Deutschen und unter vielen Ostdeutschen – egal welcher Generation – eine politische Nachfrage nach einem neuen Verhältnis zu diesem Land gibt. Kann die Politik dies ignorieren? Das wird auf Dauer wohl kaum möglich sein. Soll die Politik sich angesichts dieser Nachfrage bei den Nachfragenden anbiedern? Auch das wäre ein Fehler.

Vielleicht verläuft die Grenze zwischen der gesunden und irrläufigen Heimatbeziehung an der Unterscheidung zwischen Liebe und Stolz. Eine Familie kann jemand auch dann lieben, wenn er oder sie auf die Geschichte der Familie nicht stolz sein kann. Liebe ist eine emotionale, keine moralische Wertung, Stolz ist hingegen ein aufwertendes Urteil.

Vielleicht steht es mit Deutschlandliebe wie mit einem Wehrmachtsopa: Man kann einen Großvater lieben, auch wenn dieser in einem Besatzungszug im Osten gekämpft hat. Es ist aber schwerlich möglich, auf einen Wehrmachtssoldaten an der Ostfront stolz zu sein, auch wenn es dein geliebter Großvater ist. Dies sei auch zur moralischen Orientierung an manch eine neu gebackene Bundestagsfraktion und ihre Heimatliebe gesagt.

ZUKUNFTSHOFFNUNG Nein, es wird nicht einfach sein, für uns alle kollektiv eine neue »Heimat« zu finden. Doch Heimat muss nicht völkisch strahlen und nicht auf Blut und Boden gebaut sein. Auch und erst recht in Deutschland nicht! Wenn wir Heimat sagen, sollen wir es eher wie Ernst Bloch meinen, für den Heimat nicht eine Frage der historischen Verwurzelung, sondern der Zukunftshoffnung war.

Es geht um Erfüllung unserer besten Hoffnungen, unserer ehrlichsten Selbstreflexionen, unserer schonungslosesten Analysen, all das mit dem Ziel, etwas aufzubauen, wovon jeder von uns, egal, wo seine Wurzeln sind, träumen kann. Dann erfüllt sich die Hoffnung und »entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«.

Dieser Text erschien zuerst in der Jüdischen Allgemeinen.