Von Sabine Schiffer
Gott sei Dank gibt es Islam und Muslime – sonst müssten wir uns nämlich mit unseren eigenen Problemen beschäftigen! Man stelle sich vor, wir sollten daran gehen, die Ideale der Aufklärung zu verwirklichen?! Etwa die Gleichstellung von Mann und Frau – und nicht nur die der Frau. Viel einfacher ist es da, auf „die muslimische Frau“ schlechthin zu verweisen, auf deren Conditio humana, die kontinenteübergreifend, soziale und geografische Faktoren ausblendend, angeblich überall völlig gleich ist. Wie gut, dass wir in diesem Zusammenhang über Islam und Scharia diskutieren können, statt es tatsächlich angehen zu müssen, wie die Benachteiligung von Frauen weltweit und im individuellen Einzelfall denn tatsächlich anzupacken sei. Übrigens auch bei uns sind bestimmte Wunschvorstellungen solche geblieben – ob mit oder ohne anders lautenden Gesetzen – und teils erreichte Errungenschaften sind zudem wieder rückläufig.
Führen wir einmal zwei Argumentationsstränge zusammen, die da heißen „Emanzipation bedeutet Berufstätigkeit“ und „Akademikerinnen verweigern das Kinderkriegen“, dann wird schon einmal ein Teil der Misere deutlich. Das unbewusste Ablenkungsmanöver auf „die dort“, die freilich wie alle anderen Menschen auch unser Mitgefühl verdienen, lenkt leicht ab von der Situation hier und vor allem von den Möglichkeiten, die systemischen Unterdrückungsstrukturen zu durchbrechen, die weltweit die Mehrzahl von Frauen als nichtbeachtete Arbeitskraft ohne Ansehen halten und oft als rechtlose Untergebene. Etwa in der Zeitschrift Contacts wird die Situation von Frauen in vielen verschiedenen Ländern geschildert und kritisiert – nur in Bezug Afghanistan wird die Religion der Frauen miterwähnt, in Lateinamerika nicht, wo vielen Frauen sowohl die Familien- als auch die Erwerbsarbeit überlassen wird. Der Machismo wird als Problem erkannt, für seine Herkunft werden aber keine Erklärungen angeboten.
Es mag ein Hinweis auf das Vakuum einer Wohlstandsgesellschaft sein, dass wir mit Belanglosigkeiten wie Kopftuchmoden unsere Gerichte beschäftigen. Vielleicht ist dies aber auch ein deutlicher Hinweis auf zunehmende Unsicherheitsgefühle in einer beängstigenden rasanten Weltentwicklung, die wir nicht durchschauen. Es gibt historische Vorbilder für die Verweisung eigener Probleme auf eine markierte Gruppe – eine solche waren etwa die Juden hier und die Armenier in der Türkei. Während wir also vor unseren medial verblendeten Augen die Schaffung eines „Sündenbocks“ hinnehmen, werden in der Welt und bei uns von ganz anderen Kräften irreversible Fakten geschaffen.
Es bringt auch nichts, den weit verbreiteten Informationsausschnitten weniger verbreitete Fakten aus der sog. islamischen Welt gegenüberzustellen – etwa die von sehr hohen Studentinnenzahlen im Iran, von dreimal so viel Professorinnen in der Türkei wie in Deutschland, von weiblichen Regierungschefinnen in Bangladesch, Pakistan und Fernost. Denn alles verbleibt in zwei festgefahrenen Schemata: 1. das Klischee von der „Eroberung der Männerdomänen als Zeichen für Emanzipation“ lässt die Emanzipation der Männer einfach aus. 2. das Schema „Anklage und Verteidigung des Islams“ verbleibt eben bei der Verweisung – der Projektion – allgemein relevanter Fragestellungen auf diesen. Auch unbewusst ein geschickter Schachzug zum Erhalt der eigenen Ordnung.
Und ein altbekanntes Muster, das den Orient entweder als exotisch oder gewalttätig erscheinen ließ und lässt – also immer als anders – als vermeintlich homogener Gegenpol zu unserer davon angeblich völlig unabhängigen Zivilisation. Hier gießt gerade der Papst Öl ins Feuer der Abgrenzung, den versöhnlichen und erfolgreichen Weitblick seines Vorgängers lässt er bisher vermissen. Dabei bestätigen die aktuellen Bilder wieder die Erwartungen – und zwar gegenseitig. Missverständnis, Unverständnis und Ablehnung, wenn man medial die Aufmerksamkeit auf diese Ausschnitte lenkt. Die Enttäuschung von evangelischer Kirche und Ökumene wird an dieser Stelle überspielt und auf die sog. islamische Welt projiziert. Eine „vernünftige“ Diskussion über einen „vernunftbegabten (christlichen) Gott“ steht nun der „muslimischen Unvernunft“ gegenüber – bildlich und verbal.
Allerdings gibt es ja tatsächlich genügend brisante Fakten in bzw. aus der sog. islamischen Welt – und durchaus auch im Zusammenhang mit Terror und Gewalt. Diese wirken als vermeintlich plausibler Beweis von Aggression und Expansionismus nur dann, wenn man den historischen und aktuellen politischen Kontext ausblendet. Die meisten Bewegungen gibt es schon länger als ihre „islamische“ Begründung. Erst in den letzten Jahren setzen sich zunehmend die Sichtweisen von Extremisten durch, während die Konflikte schon vorher da waren und – wenn wir uns genau erinnern – anderen Ursprungs waren.
Wenn wir nicht die Auswahlkriterien der Berichterstattung reflektieren, dann drängt sich der Verdacht eines Zusammenhangs zwischen Islam und Gewalt zunehmend auf – aber nur dann. Wenn wir flächendeckend über terroristische Bombendrohungen und Anschläge erführen, sowie von allen Selbstmordattentaten weltweit, dann ließe sich die Behauptung nicht mehr halten, hierfür sei der Islam an sich oder auch nur sein Missbrauch verantwortlich. Allein das Beispiel der vielen Selbstmordattentate, die von Tamilen in Südindien verübt werden, bezeugt, dass hier keine Monokausalität vorliegen kann. Inzwischen ist aber „Islamisches“ zum Nachrichtenwertfaktor geworden und dies führt zu einer verstärkten Auswahl und Präsentation von Ereignissen, an denen Muslime beteiligt sind.
Außerdem bleibt bei der sprachlichen Zuordnung von Begriffen wie „Verhaftung“, „Kidnapping“, „Liquidation“ oder „Mordversuch“ die Frage danach, wer hier wem Legitimation zu- oder abspricht, oft undiskutiert. Wer definiert, was wann „Terror“ ist und von wem er verübt wird? Das Völkerrecht würde hier eine klare Richtschnur bieten, aber das wird durch die Eskalationen in Irak, Afghanistan und Libanon einhergehend mit propagandistischen Wiederholungsargumentationen immer weniger greifbar. Wenn wir zulassen, dass Anlässe als Angriffsbegründungen gegenüber Staaten umgedeutet werden, dann verlieren wir die juristischen Grundlagen für ein Urteil über die Berechtigung und damit über die Lösung.
Es geht hier nicht darum, die Auswüchse von Gewalt bestimmter Gruppen wo auch immer gutzuheißen – ganz im Gegenteil, es muss darum gehen, nicht beim Starren auf einzelne solcher Fakten stecken zu bleiben, sondern einen Überblick über alle Akteure terroristischen und machtpolitischen Handelns zu bekommen. Dann wird deutlich, wo in der hierarchischen Weltordnung die Verantwortlichkeiten liegen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Umdeutung des Begriffs „Asymmetrie“. Während eindeutig eine asymmetrische Weltordnung dahingehend vorliegt, dass hochgerüstete, gut organisierte Staaten verbündet mit den Interessen großer Konzerne vorgeben, was Thema und was Sache ist, können andere weniger gut organisierte Staaten und Gruppierungen darauf nur reagieren – wenn überhaupt.
Mächtig sind nicht terroristische Organisationen oder Einzeltäter, indem sie ganz nach Manier von Verzweiflungstätern noch den Rest auch eigener Infrastruktur zerstören. Mächtig sind die Drahtzieher des Great Game, der großen Weltpolitik – dennoch wird die Bezeichnung „asymmetrischer Krieg“ zunehmend zur Rechtfertigung des militärisch-hochgerüsteten „Kriegs gegen den Terror“ verwendet, als wären die Gegner in der Übermacht. Hier findet eine Umkehrung der Bedeutung statt – aus Reagierenden und teils Ohnmächtigen werden plötzlich Potentaten. Die vorliegende Asymmetrie sollte die tatsächlich Mächtigen desavouieren, nicht die vermeintlichen.
Die Fokussierung auf einen Teil der relevanten Fakten ist Teil einer großen Ablenkungsstrategie, die bestimmten Kräften in die Hände spielt. Die auszumachenden Verwirrspiele durch gezielte Informationsstreuung selektierter Fakten vernebelt unsere Sinne und erschwert es zu erkennen, was wirklich wichtig ist. Dabei funktioniert dies, einmal angestoßen, wie ein Selbstläufer – gespeist aus einem großen Missverständnis, Ängsten und so entstandenen Überzeugungen. Wenn wir erkennen können, dass die Drahtzieher der Ordnung der Welt weder nationale, ethnische noch religiöse Berührungsängste haben, dann ist schon ein wichtiger Schritt in Richtung aufgeklärter Emanzipation gelungen – dann hat die aufgezwungene Kulturdebatte ihre opiate Wirkung auf das jeweilige Volk verloren.
Kein Grund also, sich zurückzulehnen – das Gefühl eines erreichten hohen zivilisatorischen Standards gab es bereits im 19. Jahrhundert in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen. Die beiden Weltkriege und der Holocaust sind danach passiert und Krieg herrscht nach wie vor und wird derzeit verstärkt von den „zivilisierten“ Mächten weiter vorangetrieben, wie Dokumente neokonservativer Kreise über das „New American Century“ belegen, wo perfiderweise von der „Reinstallation der Verteidigungskapazitäten“ gesprochen wird. Auch China und Russland nutzen den Kulturkampf, um von nicht ganz legitimen Methoden ihrer Machtsicherung abzulenken.
Hier also ein erster Hinweis, wovon denn die Debatte über Islam und Muslime ablenken soll? Die weiche Wertediskussion, die naturgemäß und auf immer unbeendet bleiben muss, ersetzt erfolgreich eine Diskussion und ein Entgegenstellen gegen harte politische Fakten, die im Windschatten von Leitkulturdebatten und Antiterrorkampf geschaffen werden. So etwa die Aufrüstung: Die Ausweitung militärischer Potenziale ist u.a. angelegt im Text der neuen EU-Verfassung, der Nato-Doktrin von 1999 sowie durch die Pläne für den neuen Bundeshaushalt, der die Aufstockung des Militärhaushalts vorsieht. Das ist aber keine Zukunftsmusik, denn während man vor ungebauten „islamischen“ Atombomben warnt, schreitet die atomare Verseuchung durch bereits eingesetzte Uranmunition auf dem Balkan und im Mittleren Osten fort – neuestes Einsatzgebiet wird der Südlibanon gewesen sein, was eine Kontamination der umgebenden Länder wie Syrien und Israel in Kauf nimmt. Hier werden die tatsächlichen Bedrohungen für die gesamte Menschheit deutlich. Kurzfristige militärstrategische Verblendung mit nicht mehr gut zu machendem Schaden für uns alle, bei Halbwertzeiten von 4,5 Mrd. Jahren. Wir sitzen alle im gleichen Boot der Bedrohung durch langfristige radioaktive Bestrahlung – um nur auf eine Art der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen einzugehen.
Aber auch von Harmloserem wird erfolgreich abgelenkt. Warum verheimlichen uns unsere Wirtschaftspolitiker das längst bekannte Faktum des „jobless growth“? „Wachstum ohne Arbeit“ ist keine neue Erkenntnis wirtschaftswissenschaftlicher Forschung und bezeugt, dass Wirtschaftswachstum und das Schaffen von Arbeitsplätzen nicht in Korrelation stehen. Durch die Globalisierung von Hierarchien wird vor allem die massenhafte Armut gefördert, während einige wenige horrende Gewinne abschöpfen – hier sind andere Wege möglich, die wir aber nicht beschreiten sollen.
Die Verantwortung für die daraus entstehenden Unzufriedenheiten übernimmt angesichts der Wirtschafts-Propaganda aber der einzelne für sich und ist unbewusst froh, wenn er seinen Frust entlastenderweise einem anderen – vielleicht einem Ausländer? – in die Schuhe schieben kann. Wenn wir nicht erfahren, dass durch europäisch-subventioniertes Obst und Gemüse derzeit lokale Märkte in Afrika zerstört werden, weil die Bauern ihre Produkte nicht mehr verkaufen können, dann erscheinen die Bootflüchtlinge in einem anderen Licht. Überhaupt wird uns verheimlicht, dass täglich mehr Geld von der dritten in die erste Welt fließt als umgekehrt. Auch im Boot wirtschaftlicher Ausbeute sitzen wir alle gemeinsam, auch wenn man uns gar noch erfolgreich gegeneinander ausspielt.
Falls aber der einst gebildete Bürger europäischer Staaten doch noch erkennt, wo die richtigen Zusammenhänge liegen, ist vorgesorgt, damit von dessen demokratischen Handlungsmöglichkeiten keine Gefahr für das Funktionieren des profitmaximierenden Systems ausgeht. In der Schweiz entwickelt sich eine Pseudo-direkte-Demokratie durch die faktische Unterordnung des Landes unter die WTO. Die umstrittene EU-Verfassung fördert auch nicht gerade demokratische Strukturen – es fehlt eine Gewaltenteilung, wie auch jetzt schon. Durch die Abschaffung wichtiger Bürgerrechte in den USA und bei uns wird seit dem 11. September 2001 verstärkt das Potenzial für einen Überwachungsstaat geschaffen. Von Kameravorrichtungen etwa an den Autobahnbrücken in Deutschland spricht zwar niemand und diese können natürlich auch zur Regulierung des Verkehrs dienlich sein, sie erinnern aber bereits jetzt erschreckend an die Visionen George Orwells in seinem Buch „1984“. Zu glauben, dass derlei Kontrollmöglichkeiten der freien Bewegung kein Problem seien, wenn man eine weiße Weste habe – sprich ein „Weißer“ sei – ist eine Naivität, die jede historische Erfahrung ignoriert. Wir sitzen tatsächlich alle im gleichen Boot – der politischen Entmündigung.
Darüber sollten auch keine Themenstellungen hinweg täuschen, die derzeit so beliebt sind, wie etwa ob „Islam und Demokratie“ oder „Islam und Freiheit“ vereinbar seien. Die Fokussierung des Islams in den genannten Kontexten suggeriert, dass eine Bedrohung von Demokratie und Freiheit „nur dort“ – also möglichst weit weg – gegeben ist. Angesichts dessen, was sich im Kleinen und im Großen abspielt, muss man auch die teils gut gemeinten Initiativen, die versuchen Differenziertheit in die Debatte zu bringen, als Beschäftigungstherapie entlarven. Sie helfen dabei, Ängste und Bedenken umzulenken, statt sie für gesellschaftliche Verantwortung nutzbar zu machen. Ein klassischer Fall von Projektion eigener Probleme auf eine vermeintlich andere Gruppe, negierend, dass die Mehrheit aller Menschen – auch die in der sog. islamischen Welt und auch die hier bei uns lebenden Muslime – die gleichen Wünsche in Bezug auf (Meinungs-)Freiheit und (Bürger-)Rechte haben, dass andere sie ihnen verweigern und uns bald auch.
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Sabine Schiffer ist Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin am Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg.