Von Katja Maruhn
„Wir müssen jedem, der in Kyritz bleiben möchte, etwas bieten. Und die, die nicht bleiben wollen, müssen wir vom Gegenteil überzeugen.“ Hans-Joachim Winter, Bürgermeister der Stadt Kyritz, findet deutliche Worte, wenn es um die Zukunftsperspektiven der im Nordwesten Brandenburgs gelegenen Kleinstadt geht. Eine logische Schlussfolgerung.
Die Erwartungshaltung der nach Deutschland zurückkehrenden Spätaussiedler an die Heimat ist groß. Man verspricht sich sichere und gut bezahlte Arbeit, bessere Zukunftsperspektiven für die Kinder und ein Leben im Wohlstand. Leider sieht die Realität in den meisten Fällen anders aus. In der strukturschwachen Region Brandenburgs ist vom so genannten Speckgürtel Berlins nicht viel zu spüren. Mit einer Arbeitslosenquote von 23,3 Prozent (die Dunkelziffer liefert eine noch weit erschreckendere Zahl) und folglich immer weiter sinkenden Einwohnerzahlen minimieren sich die Perspektiven.
Arbeit gibt es so gut wie keine. Weder für die Eltern noch für die Kinder. Die gesetzlich vorgeschriebenen Deutschkurse reichen bei Weitem nicht aus, um die Sprachbarriere zu überwinden. Es bleiben nur die unterbezahlten Jobs im Ernte- oder Produktionsbereich oder aber das Leben von Hartz IV. Auf die großen Erwartungen folgt alsbald die bittere Ernüchterung. Fragt man sie, so wollen sie alle so schnell wie möglich nach Süddeutschland. Also „sitzen sie ihre drei Pflichtjahre ab“ und ziehen dann gen Süden. Kann man es ihnen verdenken? An und für sich nicht.
Doch das will die Stadt Kyritz ändern. Jeder, der in die 10.000 Einwohner große Stadt, eine gute Autostunde von Berlin entfernt, kommt, soll sich hier zu Hause fühlen. Trotz der meist fehlenden wirtschaftlichen Perspektive will die Stadt Kyritz jeden freundlich und herzlich empfangen und ihm das Gefühl vermitteln gut aufgehoben zu sein.
Eine große Herausforderung für die vielen Akteure, die für Integration und Familienfreundlichkeit arbeiten. Sei es haupt- oder ehrenamtlich, alle verfolgen das gleiche Ziel. An Handlungskonzepten mangelt es dabei nicht.
„Entweder du bleibst, nimmst unsere Hilfe an und integriertst dich, oder du fährst zurück nach Russland...“
Erfahrungsgemäß fällt vor allem jugendlichen Spätaussiedlern die Integration oft besonders schwer. Sie müssen gegen ihren Willen alles ihnen Vertraute und ihre Freunde zurück lassen. Mit Deutschland assoziieren sie nur Negatives. Der unbürokratischste, kürzeste Weg ist oft ein effektives Mittel zur Bekämpfung von Problemen.
Als vor einigen Jahren eine Gruppe jugendlicher Spätaussiedler immer wieder durch kleinere kriminelle Delikte auffiel, wählten die Verantwortlichen eben diesen kurzen Weg. Polizei, Ordnungsamt, Eltern und Integrationsberater suchten das direkte Gespräch zu den Jugendlichen. Sie machten ihnen sehr deutlich, dass sich die jungen Männer mit ihrem Verhalten auf direktem Weg ins Gefängnis befänden. Man zeigte ihnen zwei Alternativen auf. Da es den Eindruck machte, als würden sie unter keinen Umständen in Deutschland bleiben wollen, bot man ihnen an, ihnen die Rückkehr nach Russland zu ermöglichen. Oder aber sie würden ihr Leben hier in Deutschland in den Griff bekommen, nicht mehr straffällig werden, und an ihrer Zukunft arbeiten. Dazu versprach man ihnen jede erdenkliche Hilfe.
Die drei entschieden sich für ein Leben in Deutschland. Zwei von ihnen befinden sich derzeit in ihrer Berufsausbildung. Keiner der drei ist nach dem Gespräch noch einmal straffällig geworden.Aus diesem Gespräch mit den Jugendlichen ging das „Netzwerk Spätaussiedler“ hervor. Seitdem treffen sich alle Akteure, die auf diesem Gebiet tätig sind, mindestens viermal jährlich und tauschen ihre Erfahrungen aus. In diesem Rahmen werden auch gemeinsame Veranstaltungen, wie beispielsweise die Interkulturelle Woche, geplant und vorbereitet.
Mein Freund Timor
In einer benachbarten Stadt von Kyritz kam es vor einigen Jahren zu einem tödlichen Übergriff auf einen jugendlichen Spätaussiedler. Von diesem tragischen Zwischenfall an wurden alle dem Landkreis Ostprignitz-Ruppin zugewiesenen Spätaussiedler in Kyritz untergebracht. Die Stadt hat sich darauf eingestellt. Stets wurden die neuen Bürger mit offenen Armen empfangen. Natürlich kann man auch in Kyritz nicht mit Sicherheit sagen, dass es keine fremdenfeindlich orientierten Menschen gibt. Doch die sind eine ganz klare Minderheit, so dass sie praktisch nicht präsent sind.
Hin und wieder kommt es zwar zu Zwischenfällen unter Jugendlichen, doch das hat dann nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun. Man kann in Kyritz eher den Trend beobachten, dass die Jugendlichen völlig unabhängig von Herkunft und Nationalität ihre Freizeit miteinander verbringen und Freundschaften schließen. Und diese Freundschaften sind dann auch von Dauer.
Russisch als Muttersprache und Praktikum beim Bürgermeister
In den Familien der Spätaussiedler wird in den meisten Fällen ausschließlich russisch gesprochen. Lebt kein schulpflichtiges Kind in der Familie, sind die Chancen der sprachlichen Integration gleich null. Das will der Bürgermeister der Stadt Kyritz ändern. Er bietet gewillten und engagierten Spätaussiedlern die Möglichkeit eines dreimonatigen unbezahlten Praktikums in einer der städtischen Einrichtungen. Dazu zählen Kitas, Bibliothek, Baubetriebshof, die Wohnungsbaugesellschaft und selbstverständlich die Stadtverwaltung.
Hier sollen die Spätaussiedler nicht nur die Möglichkeit bekommen, sondern auch dazu gezwungen sein, ihre Sprachkenntnisse anzuwenden. Entsprechend ihrer Vorbildung und ihren Fähigkeiten werden sie in den unterschiedlichen Einrichtungen und Bereichen eingesetzt. Zusätzlich zur sprachlichen Integration bewirken diese Praktika auch eine deutliche soziale Integration. Die Praktikanten erfahren Wertschätzung und finden einen Weg aus der Isolation.
Für die Zukunft planen einige Träger gemeinsam die Einführung von Russisch- und Deutschkursen. Diese Idee beruht auf einem Projekt aus Bamberg, welches davon ausgeht, dass nur der eine Fremdsprache lernen kann, der seine Muttersprache perfekt beherrscht. Und die Praxis bestätigt diese Theorie. Überwiegend bei jugendlichen Spätaussiedlern ist der Trend der „Mischsprache“ zu erkennen. Weder Deutsch noch Russisch werden fließend gesprochen. In Zusammenarbeit mit Referenten der Universität Potsdam sollen Spätaussiedler zunächst in ihrer Muttersprache und anschließend in Deutsch unterrichtet werden.
Parallelwelten
Aus der fehlenden beruflichen Integration der Spätaussiedler resultiert die nicht vorhandene soziale Integration. Es kristallisieren sich förmlich Parallelwelten heraus. Es gibt Wohngebiete, in die die Spätaussiedler bevorzugt ziehen, um „unter sich“ zu sein. Im Supermarkt dieses Wohngebietes bekommt man allerhand russische Spezialitäten. Die anderen Produkte sind größtenteils russisch beschriftet. Der Handel stellt sich auf seine Kundschaft ein. Die Nachfrage bestimmt das Angebot.
Seit einem Jahr kann man über den hiesigen Kabelanbieter sogar russisches Fernsehen empfangen. In Zeiten der fortschreitenden Globalisierung bleibt man via Internet praktisch hautnah mit Freunden aus Russland in Kontakt. Wozu also integrieren? Man nimmt das „alte“ Leben so gut es eben geht mit in die neue Heimat.
Diese Entwicklung bereitet den in Kyritz zahlreich vertretenen Akteuren der Integrationsarbeit die meisten Probleme. Doch kein Problem ohne Lösungsansätze.
Als sich vor zwei Jahren der Verein „Flämmchen e.V.“, gründete rief das zunächst einige Kritiker auf den Plan. Eine Gruppe Spätaussiedler gründet einen Verein als Anlauf- und Beratungsstelle von Spätaussiedlern für Spätaussiedler. Das hat wenig mit Integration zu tun, eher mit Isolation, könnte man meinen. Frau S., Vorsitzende des Vereins, erklärte die Hintergründe: „Wenn ich in ein fremdes Land komme, mit einer anderen Kultur, umgeben von mir unbekannten Menschen strotze ich entweder derart vor Selbstbewusstsein, dass ich freudestrahlend auf alles und jeden zugehe, oder aber ich ziehe mich ängstlich zurück.
Nun gibt es da aber eine Gruppe von Menschen, die die selben Erfahrungen gemacht haben wie ich. Sie hatten mit den gleichen Ängsten und der selben Scheu zu kämpfen. Und sie haben es überwunden. Diese Menschen können mir sicher helfen mich einzugewöhnen.“ Und die Praxis sollte bald Erfolge zeigen. Der Verein wurde aktiv seitens der Stadtverwaltung bei den Vereinsgeschäften und der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten unterstützt. Gestärkt von soviel Zuspruch begann der Verein sich nach außen zu öffnen. Zahlreiche Veranstaltungen, von Neujahrsfesten über Geburtstagsfeiern hin zu Kochabenden, gewährten Interessierten Einblicke in die Kultur und das Leben der Vereinsmitglieder. Diejenigen, die den Schritt auf den Verein „Flämmchen e.V.“ zumachten, wurden und werden herzlich mit offenen Armen empfangen.
Mittlerweile hat der „Flämmchen e.V.“ seinen Sitz in der Begegnungsstätte Brückenschlag. Diese wurde Anfang 2007 ins Leben gerufen. Mit ihren auf Freizeitangebote ausgelegten Räumlichkeiten, will die Begegnungsstätte vor allem zwischen den jugendlichen Spätaussiedlern und anderen Jugendlichen „Brücken schlagen“.
TANDEM (LISA – Lokale Initiativen zur Integration junger Spätaussiedler in Ausbildung und Beruf, gefördert durch die Robert-Bosch-Stiftung)
Die hohe Arbeitslosenquote stellt die Verantwortlichen der Jugendhilfe und die der Integrationsarbeit immer wieder vor enorme Hürden. Was soll man einem perspektiv- und folglich motivationslosen Jugendlichen sagen? Wie soll seine Zukunft Aussehen? Leider kommt es immer häufiger vor, dass man selbst unter 25 jährige Erwerbslose eher in einen der so genannten 1–Euro Jobs vermittelt, als ihnen eine fundierte Ausbildung zu ermöglichen. Damit gibt man sich in Kyritz nicht zufrieden.
Seit Ende 2006 wird durch die Robert-Bosch-Stiftung das Projekt TANDEM gefördert. Entwickelt und umgesetzt durch einen Jugendberufshilfeträger will dieses Projekt die Ausbildungschancen von vorrangig jugendlichen Spätaussiedlern verbessern. Die Jugendlichen werden dabei zunächst in einem einwöchigen Workshop rund um das Thema Bewerbung geschult. Ein Assasment ermittelt dann die allgemeinen und speziellen Fähigkeiten und Neigungen jedes Einzelnen. Im Anschluss daran erhalten die Jugendlichen die Möglichkeit eines mehrmonatigen Praktikums in einem ihren Fähigkeiten entsprechenden Unternehmen. Während des Praktikums werden sie kontinuierlich bei ihrer Ausbildungsplatzsuche unterstützt und begleitet. Außerdem finden in regelmäßigen Abständen Informationsabende statt, bei denen Eltern und Kinder über das duale Ausbildungssystem in Deutschland aufgeklärt werden. Dieses ist nur eines von vielen Projekten, die speziell auf die Bedürfnisse von Spätaussiedlern zugeschnitten sind.
Lebenswerte Stadt Kyritz
Die Verantwortlichen haben sich einer großen Herausforderung gestellt, die Stadt Kyritz für wirklich jedermann lebenswert zu machen. Das ist das Prädikat, durch das sich die Stadt auszeichnet. Mit Hilfe der zahlreichen Akteure und Partner, der guten Zusammenarbeit und Vernetzung, ist das auch trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage ein realistisches Ziel. Der Weg ist oft mühselig zu beschreiten, doch das ist es wert.
Katja Maruhn ist Sachbearbei- terin für freiwillige soziale Aufgaben in der Stadtverwal- tung Kyritz. Sie ist zuständig für alle sozialen Aufgaben, zu denen die Kommune nicht gesetzlich verpflichtet ist. Bild: Familienfest auf dem Kyritzer Marktplatz.