Neukölln knallhart
Vermitteln zwischen parallelen Welten - Gewaltpräventionsarbeit des Quartiersmanagement Rollberg |
von Ayten Köse
Ich lebe und arbeite seit mehr als 10 Jahren im Rollbergviertel. Im Jahre 1998 war die Rollbergsiedlung im Gegensatz zu heute sehr viel mehr von Gewalt im öffentlichen Raum belastet. Vor allem die heranwachsenden männlichen Jugendlichen sorgten für Unruhe. Jugendliche unterschiedlicher ethnischer Herkunft - und zwischen 12 und ca. 25 Jahren alt - traten in Gruppen auf und kontrollierten die Fußgängerzonen, so dass sich Außenstehende nicht mehr in das Viertel hineintrauten. Die Jugendlichen und Heranwachsenden provozierten Andere, gleich welchen Alters und welcher Ethnie. Sie hatten geringes Selbstwertgefühl, ein patriarchales Männlichkeitsbild und waren sehr aggressiv. Ein Zurechtweisen oder ein kritischer Blick genügte und es kam zu gewalttätigen Überreaktionen. Das Wichtigste bei dieser Jugendlichen war es, cool zu sein. Wer Emotionen zeigte, war ein Schwächling.
Die meisten dieser Jugendlichen hatten in den Jugendfreizeitheimen der Umgebung Hausverbot und wurden von Streetworkern betreut. Seit einigen Jahren trafen sie sich in einem selbstverwalteten und ausgebauten Kellerraum. Im Viertel hieß er der Araberkeller. Diese Araber Keller sorgte zusätzlich für Unruhe im Viertel. Im Rollbergviertel lebten mehrere Großfamilien palästinensischer und kurdisch-libanesischer Herkunft, die in die organisierte Kriminalität in Berlin eingebunden waren. Mit teuren Autos, teurer Kleidung, viel Geld und hübschen Mädchen an ihrer Seite präsentierten sich junge Männer auf dem Falkplatz und wurden zu Vorbildern nicht nur für ihre jüngeren Brüder und Cousins, sondern auch für viele andere Kinder und Jugendliche im Viertel. Einige Jugendliche unter ihnen waren Mitläufer, die ihre eigene Meinung nicht durchsetzten konnten. Ein Streben nach Markenartikeln und Luxusgütern machte immer mehr Jugendliche abhängig von illegaler Bereicherung. Mit kriminellen Geschäften glaubten sie zu viel Geld zu kommen. Wer den Chefs der Clique half, für sie erfolgreich klauen ging oder Raubüberfälle ausführte, genoss Anerkennung, wurde materiell belohnt und beschützt. Andere Kinder und Jugendliche wurden erpresst.
Diese Clique besaß die Macht im öffentlichen Raum. Alle Kinder und Jugendlichen hatten Angst vor ihnen. 1998 wurde am Rande einer Party ein Jugendlicher getötet.
Die Jugendlichen und Heranwachsenden nahmen überhaupt keine Rücksicht auf andere Menschen, ihnen fehlte jede Empathie. Sexistische Anmache, pornografische Sprache und Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen war Alltag im Viertel. Männliche Jugendliche und junge Männer belästigten Mädchen, nötigten sie sexuell und schlugen sie öffentlich auf den Straßen. Auch im Araberkeller kam es mehrfach zu Vergewaltigungen, aber die jungen Mädchen trauten sich nicht, Anzeige zu erstatten. Viele Mädchen erlebten in ihren Familien häusliche Gewalt, sexuellen Missbrauch, Alkoholismus und Drogenkonsum und waren von Verwahrlosung betroffen. Anderen wurde jegliche Freiheit vorenthalten.
Manche Mädchen versuchten der Opferrolle zu entkommen, indem sie selbst gewalttätig wurden und sehr schnell in Schlägereien verwickelt waren. Sie verletzten andere Mädchen oder Kinder, die sich nicht wehren konnten, durch emotionale Abwertung, Erpressung, Beleidigung, Erniedrigung und mit entwürdigende Beschimpfungen. Und sie beraubten Schwächere. Mit der Zeit erfuhr ich, dass alle diese Mädchen selbst von körperlicher und psychischer Gewalt sogar von sexuellem Missbrauch betroffen waren. Einige der Mädchen waren die Bräute der Jugendgangs. Das wiederum gab den Mädchen Macht und Stärke gegenüber anderen Jungen und Mädchen. Antiamerikanische und antijüdische Sprüche waren ihre Umgangssprache bei den Jugendlichen. Viele der Jugendlichen waren perspektivlos im Hinblick auf Ausbildung und Beruf, viele unter ihnen waren Schulversager. Zuhälter werden und/oder von der Sozialhilfe und Schwarzarbeit leben, schienen vielen sehr erstrebenswert.
Da niemand eingriff und Kriminalität und Gewalt ein Ende setzte, verwahrloste das Viertel immer mehr. Die Hauswände wurden beschmiert, Hausflure und Spielplätze als öffentliche Toiletten genutzt, Laternen. Bänke, Mülleimer, Fenster usw. aus Langeweile mutwillig zerstört. Viele Bewohner, Deutsche und Migranten, sind seitdem aus Frustration und Hilflosigkeit aus dem Viertel weggezogen. Als immer mehr Wohnungen leer standen, musste gehandelt werden.
Das Jugendamt und die Kinder- und Jugendeinrichtungen, die Polizei, die Wohnungsbaugesellschaft, Beschäftigungsgesellschaften, Migrantenorganisationen und einige einzelne aktive Bewohner und Bewohnerinnen kamen im Laufe der Jahre zusammen zu einem ein Netzwerk gegen Gewalt. Es gab Runde Tische, Vereinbarungen zur gegenseitigen sofortigen Information und gemeinsame Handlungsstrategien. Jugendamt, Jugendarbeit und Quartiersmanagement vereinbarten das Konzept „Kiezdruck“. Die tägliche Präsenz der Polizei auf den Straßen und Plätzen des Viertels und die Vereinbarung von Regeln, auf deren Einhaltung alle achteten, setzte den Gewalttätern Grenzen und schuf wieder Räume für das normale Miteinander der Bewohner. Es wurde vereinbart, alle Straftaten anzuzeigen, die Opfer von Gewalt gezielt zu unterstützen und die Verurteilung von Straftätern durch Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizei, Justiz und Jugendamt zu beschleunigen. Der Araberkeller wurde geschlossen und in der Kinder- und Jugendarbeit für alle sichtbar beschlossen, zukünftig vor allem Kinder und Jugendliche, die positives, vorbildliches Verhalten zeigen, zu stärken. Eine große Rolle spielt die Videoüberwachung im Kiez. Seitdem fühlen sich die Jugendlichen kontrolliert. Das Viertel ist für jugendliche Intensivtäter kein beliebter Treffpunkt mehr. Die Kriminalitätsrate bei Jugendlichen wurde deutlich gesenkt und das Sicherheitsempfinden der Bewohnerinnen und Bewohner des Rollbergviertels erhöht.
Im Rollbergkiez hat sich inzwischen eine breite Präventionsarbeit etabliert. Auch die Polizei arbeitet nicht nur repressiv. Sie organisiert „Fußball“, Fahrradreparieren und Fahrradtouren, kocht bei „Mieter kochen für Mieter“, nimmt an Kiezfesten und an den Gremien im Viertel teil; sie macht Elternarbeit und berät Mädchen und Frauen, wie sie sich vor Gewalt schützen können. Ich kann hier nicht alle erwähnen, die sich mit viel Einsatz um ein ziviles Miteinander im Rollbergviertel bemühen, vom Quartiersmanagement über die Lessinghöhe, Stadt und Land Wohnbauten GmbH, den Bewohnerverein Morus14 und viele mehr.
Mir ist bei der Präventionsarbeit die Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen und die Stärkung der Mädchen und Frauen im öffentlichen Raum besonders wichtig. Im MaDonna Mädchentreff, in dem ich von 1999 bis 2001 arbeitete, gibt es für Mädchen und junge Frauen Unterstützung und Hilfe. Hier können sie sich frei bewegen und sie lernen ihre Rechte kennen. Sie finden Schutz und konkrete Hilfe auch bei Zwangsheirat, Gewalt in der Familie oder in Partnerschaften. Und sie lernen, sich öffentlich zu äußern, Verantwortung im Viertel zu übernehmen und ihre Themen öffentlich zur Diskussion zu stellen.
Seit 2002 gibt es das Frauenfrühstück, das von vielen türkischen Frauen aus dem Viertel besucht wird. Das Frauenfrühstück erlaubt ihnen sich zu öffnen, über ihre Probleme und Wünsche zu sprechen, z.B. über häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Gesundheit, Zwangsheirat und Kinderrechte, über Schutz der Kinder vor Kriminalität, das deutsche Schulsystem, usw. Die Frauen aus dem Frauenfrühstück gehen inzwischen mit Konflikten untereinander sensibler um, stärken sich gegenseitig, reden auch über die Tabuthemen. Durch das Frauenfrühstück sind die Frauen zusammen gewachsen, nehmen ehrenamtlich an Gremien teil, sind im Kiez präsent. Sie beteiligen sich jedes Jahr mit einem eigenem Stand beim Tag der offenen Tür der Berliner Polizei. Es haben sich viele kleine Gruppen gefunden, die unabhängig von Frauenfrühstück sich auch privat treffen und gemeinsam mit ihren Kindern etwas unternehmen.
In Zusammenarbeit mit dem Verein Strohhalm e.V. haben wir den ersten Baustein eines Konzeptes für kieznahe Präventionsarbeit mit Migrantenfamilien gegen sexuellen Missbrauch gelegt. Ein neues Projekt von Strohhalm e.V. ist im Januar gestartet, das Projekt heißt „Heroes“ Helden. Hier sollen männliche Jugendliche als Multiplikatoren gewonnen und ausgebildet werden. Sie sollen Vorbilder für andere Jugendliche sein und ihnen Demokratie und Gleichberechtigung vermitteln. Frauen aus verschiedenen Kulturen feiern gemeinsam den Frauentag, verschiedene Bewohnergruppen zusammen das Opferfest und Weihnachten. Viele gemeinsame Veranstaltungen helfen den alltäglichen Rassismus zwischen den Ethnien abzubauen.
So ist im Rollbergviertel eine Gemeinschaft von Einrichtungen und Projekten und Bewohnern und Bewohnerinnen entstanden, die das Viertel schützt und ein neues Selbstbewusstsein wachsen ließ. Negative Berichte in Medien werden nicht mehr hingenommen. Sicher bleibt noch viel zu tun, aber wir haben gezeigt, dass es Wege aus der Gewalt gibt.
März 2008
Ayten Köse arbeitet seit 2002 im Quartiersmanagement der Rollberg-Siedlung in Berlin-Neukölln.