Weltflüchtlingstag 2023: Verantwortung lässt sich nicht abschieben

Kommentar

Der Weltflüchtlingstag ist ein guter Tag, um uns einen Überblick über die brutale Realität an unseren EU-Außengrenzen zu verschaffen. Wir können uns der Verantwortung für Humanität nicht entziehen oder Verantwortung auslagern.

Pylos - Eine griechische Tragödie?

Die Bilder gingen um die Welt: Fadi und Mohamad, die beiden Brüder aus Syrien, küssen und umarmen sich, soweit es ihnen trotz der sie trennenden Stahlgitter möglich ist, beide sichtlich angeschlagen und emotional. Der jüngere Mohamad wurde von griechischen Behörden zwecks sogenanntem „Erstscreening“ im Hafen von Kalamata festgehalten, er ist einer der 104 Überlebenden des bislang tödlichsten Bootsunglücks vor der Küste Griechenlands seit dem Ende des zweiten Weltkrieges.



750 Geflüchtete befanden sich Schätzungen zufolge auf dem Boot, das in der Nacht zum 14. Juni vor der griechischen Stadt Pylos gekentert ist. Die griechische Übergangsregierung hat eine dreitägige Staatstrauer angeordnet.



Der ältere Bruder war aus den Niederlanden angereist, um seinen kleinen Bruder zu suchen. Er hatte Glück. Zahlreiche andere, die aus Deutschland und anderen Ländern angereist sind, suchen ihre Lieben vergeblich. 78 Leichen wurden bereits geborgen, weitere Überlebende werden sich kaum mehr retten lassen, selbst das Bergen der Leichen ist schwierig.



Das tödliche Ausmaß dieses Unglücks ist historisch. Von einer Katastrophe zu sprechen, auf die niemand hätte Einfluss nehmen können, wäre jedoch falsch. Wir müssen uns fragen, wie es dazu kommen konnte.

Systematische Gewalt

Es gibt zahlreiche Hinweise, die auf eine Mitschuld der griechischen Küstenwache deuten: Das Recherche-Kollektiv „We are Solomon“ hat dokumentiert, dass die Organisation Alarmphone bereits Stunden vor dem Schiffsunglück Hilfe angefordert hatte. Frontex, die griechische Küstenwache, der UNHCR – alle waren informiert, selbst italienische und maltesische Behörden. Die hellenische Küstenwache behauptet, sie habe nicht gehandelt, weil das von den Bootsinsassen nicht gewünscht worden sei. Völkerrechtler*innen, aber auch ehemalige Offiziere der Küstenwache selbst, bewerten das als fahrlässig und erklären, dass alle informierten Akteure in der Pflicht waren, zu handeln.



Doch die Vorwürfe gehen über unterlassene Hilfeleistung hinaus. Überlebende sprechen davon, wie griechische Behörden mehrfach versucht hätten, das Boot aus griechischen Gewässern wegzuziehen. Damit steht der Vorwurf von illegalen Pushbacks im Raum. All dies wiegt schwer und muss unabhängig untersucht und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Untersuchung durch den griechischen Generalstaatsanwalt ist bereits im Gange.



Dass Schutzsuchende auf seeuntauglichen Booten aus griechischen Gewässern und von der griechischen Grenze weg „gepusht“ werden, unter Inkaufnahme akuter Lebensgefahr für die Betroffenen, hat lange schon System.



Nicht ohne Grund versuchen Fliehende auf Booten zunehmend, Italien statt Griechenland anzusteuern. Auch in diesem Falle hatte das Schiff Kurs auf Kalabrien genommen, obwohl das der deutlich längere und gefährlichere Weg ist. Der Zusammenhang zwischen der Politik der Abschottung mit dem Credo, Grenzen statt Menschen zu schützen – eine Politik die im Übrigen auch von der EU-Kommission und anderen EU-Mitgliedsstaaten zumindest mitgetragen wird -  und der Zahl der Menschen, die auf der Flucht nach Europa ums Leben kommen, ist kaum zu leugnen. Wer angesichts des Schiffsunglücks vor Pylos überrascht reagiert, ist bestenfalls naiv und verschließt die Augen vor der Realität an den EU-Außengrenzen.

Kriminalisierung mit fatalen Folgen

Nicht nur das aktive Zurückdrängen und die Gewalt gegenüber Menschen auf der Flucht haben tödliche Konsequenzen, sondern auch die zunehmende Kriminalisierung von Migration per se und all jener, die sich mit Schutzsuchenden solidarisch zeigen. Im Falle des Schiffsunglücks vor Pylos hat die Staatsanwalt neun Männer angeklagt, ihnen wird unter anderem Menschenschmuggel vorgeworfen. Auch Ex-Premier Mitsotakis, genau wie EU-Ratspräsident Charles Michel, hatte unmittelbar nach dem Unglück die Notwendigkeit Menschenschmugglernetzwerke zu bekämpfen betont, nicht etwa die Schaffung sicherer und legaler Wege – zum Beispiel.



Derzeit verbüßen Tausende in griechischen Gefängnissen zum Teil lebenslängliche Haftstrafen, weil sie des Menschenschmuggels beschuldigt werden, häufig auf Grundlage nur sehr kurzer Gerichtsverfahren und unzureichenden Rechtsbeistands. Dass Menschen auf der Flucht systematisch von Schmugglern gezwungen werden, als Bootsführer zu agieren und das Boot, auf dem sie fliehen, über Wasser zu halten, dafür aber sowohl in Italien als auch in Griechenland der Schlepperei bezichtigt werden, ist vielfach dokumentiert.  



Neben der Kriminalisierung von Migrant*innen ist gerade im Zusammenhang mit dem jüngsten Schiffsunglück die Kriminalisierung ziviler Seenotrettung relevant. Ehrenamtliche Seenotrettungsorganisationen verhindern vielfaches Sterben auf dem Mittelmeer; doch werden sie in griechischen Gewässern derart kriminalisiert, dass sie längst nicht mehr retten können. Selbst das Monitoring griechischer Küsten wird Menschenrechtsverteidiger*innen zunehmend erschwert beziehungsweise unmöglich gemacht.



Zu der fortschreitenden Kriminalisierung gehört auch die Einschränkung von Pressefreiheit und das Verhindern journalistischer Recherchen zu Flucht und Migration. Journalist*innen, die beispielweise von der Grenzregion am Evros berichten oder auch von den griechischen Inseln, werden systematisch an ihrer Arbeit gehindert, als Landesverräter verleumdet und gezielt angegriffen.



In Griechenland fanden jüngst Parlamentswahlen statt. Um das Thema Migration und Flucht blieb es im Wahlkampf auffällig still. Die bislang regierende konservative Nea Dimokratia hat ein beachtliches Ergebnis eingefahren. Dass sie in der zweiten Wahlrunde die zum Regieren nötige Mehrheit holt, ist sehr wahrscheinlich. Ob sie trotz oder wegen ihrer geflüchtetenfeindlichen Politik so viele Stimmen gewonnen hat, ist schwer zu sagen, aber der Regierung um Premierminister Mitsotakis ist es offensichtlich gelungen, den Eindruck zu erwecken, das „Problem“ der Migration gelöst zu haben. Dafür wurden regierungsseitig auch bis zuletzt sinkende Ankunftszahlen proklamiert, auch wenn die offizielle UN-Statistik einen klaren Anstieg von Schutzsuchenden verzeichnete.

Weltflüchtlingstag: Der globale Überblick

Das passt zum globalen Trend. Der UNHCR hat kürzlich wieder die alljährlichen Zahlen zum Weltflüchtlingstag veröffentlicht. Seit Jahren scheint es hier nur eine Tendenz zu geben: Jahr für Jahr müssen mehr Menschen vor Krieg, Verfolgung und Not fliehen. Noch immer tun die meisten dies innerhalb ihrer Landesgrenzen und nach wie vor kommt das Gros derer, die auf der Suche nach Schutz über Grenzen fliehen, in Ländern des globalen Südens an, nicht in Europa. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Zahl der in Europa Schutzsuchenden jedoch stark ansteigen lassen. Das Thema Migration und Flucht ist damit wieder nach oben auf die Agenda der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten gerückt. Während eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) jahrelang an nicht zu überbrückenden Differenzen zwischen den Positionen der Mitgliedsstaaten gescheitert war, hat sich der Justiz- und Innenministerrat jüngst unter schwedischer Ratspräsidentschaft auf einen Kompromiss einigen können, der bei Inkrafttreten wesentliche Verschärfungen für Schutzsuchende und systematische Inhaftierung an den Außengrenzen mit sich bringt. Die griechische Regierung wertet die Einigung als Erfolg. Zivilgesellschaft und Asylrechtsexpert*innen üben scharfe Kritik an den geplanten Reformen.

„Sichere Drittstaaten“, gesicherte Grenzen, unsichere Menschen?

Ein Aspekt, der dabei besonders in der Kritik steht, ist die Ausweitung des Konzepts „sicherer Drittstaaten“. Hier ist Griechenland weiter als andere Mitgliedsstaaten. Bereits mit der EU-Türkei-Erklärung von 2016 wurde die Türkei als „sicherer Drittstaat“ für Schutzsuchende in den sogenannten EU-Hotspots auf den ägäischen Inseln eingestuft. Vor zwei Jahren wurde die Türkei dann zusätzlich per Ministerialentscheidung für alle schutzsuchenden Menschen aus Afghanistan, Syrien, Somalia, Pakistan und Bangladesch für sicher erklärt.



Gerade die 3,6 Millionen Syrer*innen und die vielen Tausend Menschen aus Afghanistan sind in der Türkei jedoch zunehmend unsicher. Im Vorfeld der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai 2023 haben bis auf wenige Ausnahmen alle Parteien mit Versprechungen, sie würden Menschen nach Syrien und Afghanistan oder in den Iran abschieben, um die Gunst der Wählerschaft gebuhlt. Vor dem Hintergrund wachsender Inflation und der Wirtschaftskrise steht die türkische Bevölkerung den Flüchtlingen im Land zunehmend kritisch gegenüber. Das verheerende Erdbeben vom Februar dieses Jahres hat sein Übriges dazu getan. Auch wenn davon auszugehen ist, dass der wiedergewählte PräsidentRecep Tayyip Erdoğan seine Ankündigung, Tausende Syrer*innen abzuschieben, nicht einfach umsetzen wird, ist die Lage für Flüchtlinge in der Türkei zunehmend prekär.



Die Türkei ist nicht das einzige Land an der Grenze zur EU, das für das sogenannte „Migrationsmanagement“ eine wichtige Rolle spielt. Dem Mittelmeeranrainer Tunesien hat eine Delegation bestehend aus der EU-Kommissionspräsidentin sowie den Regierungschefs Italiens und der Niederlande jüngst großzügige finanzielle Unterstützung, unter anderem für Maßnahmen gegen Schleuser und Rückführungen von Migrant*innen, angeboten. Ausgerechnet der tunesischen Regierung, die Anfang des Jahres mit hetzerischen Reden, in Folge derer es zu rassistischen Übergriffen kam, zahlreiche der zuvor rund 20.000 Migrant*innen aus dem Land trieb. Tunesien ein sicheres Drittland für aus der EU abgeschobene Geflüchtete? Wohl kaum. Doch nicht nur Staaten rund um das Mittelmeer sind relevant im Zusammenhang mit den Externalisierungsbemühungen der EU.



Auch Bosnien-Herzegowina steht seit längerem im Fokus dieser Politik, wie eine Studie der Organisation statewatch im Auftrag des EU-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung zeigt. Zuletzt machte der Plan des International Centre for Migration Policy Development“ (ICMPD) ,einen Internierungstrakt im bosnischen Flüchtlingslager Lipa errichten zu lassen, Schlagzeilen. Laut Presseberichten soll die EU-Kommission 500.000 Euro für diesen Zweck zur Verfügung gestellt haben. Zivilgesellschaftliche Organisationen, auch unserer Partner*innen vor Ort, zeigten sich darüber sehr besorgt. Bereits die Errichtung des Camps Lipa mit EU-Mitteln hatte zu einem erschwerten Zugang für Anwält*innen und Unterstützer*innen und einer weitgehenden Isolierung der Geflüchteten im Land geführt.



Es ist wichtig, all diese Maßnahmen und Politiken im Zusammenhang zu sehen. Der Weltflüchtlingstag ist ein guter Tag, um uns einen Überblick über die brutale Realität an unseren EU-Außengrenzen zu verschaffen. Wir können uns der Verantwortung für Humanität nicht entziehen oder Verantwortung auslagern. Auch wenn in der Debatte um Migration und Flucht suggeriert wird, man könne das Recht wahren, aber es Einzelnen absprechen. „Grundrechte kann man nicht einfach für die einen abstellen, während sie für die anderen weiter gelten”, schreibt die Politologin Judith Kohlenberger in ihrem Buch „Das Fluchtparadox“ zu unserem widersprüchlichen Umgang mit Migration und Asyl. Der Weltflüchtlingstag ist auch ein guter Anlass, um uns auf den Ursprung des Flüchtlingsschutzes zu besinnen und um die Lehren aus unserer Geschichte ernst zu nehmen. Das Schiffsunglück vor Pylos werden wir nicht ungeschehen machen können, aber wir können und müssen die richtigen Schlüsse ziehen für eine Europäische Asyl- und Migrationspolitik, die den Namen verdient hat.