„Ein Genozid bleibt, auch wenn man ihn verleugnet, ein Genozid.“

Am 24. April 2015 war der hundertste Jahrestag des Völkermords an den Armeniern. Safiye Can hat den Schrifsteller Doğan Akhanlı dazu und zu seiner eigenen Geschichte interviewt.

Doğan Akhanlı im Gespräch mit Safiye Can
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Doğan Akhanlı im Gespräch mit Safiye Can

Lieber Doğan, Du bist ein türkischstämmiger, türkisch- und deutschsprachiger Schriftsteller und lebst seit 1991 in Köln. Bereits in jungen Jahren warst du politisch aktiv und gerietest als linksorientierter Aktivist nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei ins Visier des Militärregimes. Nach deiner Inhaftierung von 1985 bis 1987 als politischer Häftling bist Du gemeinsam mit deiner Familie (Frau und einjährigem Sohn) nach Deutschland geflohen, wo man dir als politischer Flüchtling Asyl gewährte. Kannst Du uns von Deinen ersten Eindrücken im Kölner Exil berichten?

Ende 1991 landeten wir als mittellose Flüchtlingsfamilie in Köln. Gerade passierten die Pogrome und Brandanschläge in Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen, in Mölln. Wir lebten in einem Asylbewerberheim. Obwohl unser Asylantrag noch nicht anerkannt war, durften wir in eine Wohngemeinschaft ziehen, weil unsere zukünftigen Mitbewohner uns dazu einluden. Sie hatten sich entschlossen, mit einer Asylbewerberfamilie zusammen zu wohnen. Kurze Zeit nach unserem Einzug starben fünf Menschen bei einem Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen. Es war unerträglich für uns, nach so langer Verfolgung im Herkunftsland weiter in einer bedrohlichen Situation leben zu müssen. Aber auf der anderen Seite war mir bewusst, dass wir in dieser WG einen Schutzraum erhalten hatten, der uns ermöglichte, unser Leben noch mal aufzubauen. Das gelang uns auch im Laufe der Zeit.

Welche Bedeutung und besonderen Stellenwert hat die Stadt Köln für Dich als Schriftsteller?

In Köln begann ich zu schreiben. Es war ein absolutes Glück, dass ich das konnte. Das Schreiben hat mein Leben völlig verändert. Ich bin von einem überzeugten Aktivisten, der glaubte, er wisse alles Wesentliche über die Welt, zu einem Menschen geworden, der mehr Fragen als Antworten hat.

Ist die ewige Willkür der türkischen Justiz nicht peinlich für die Türkei, die sich als fortschrittliche Demokratie versteht? Dein Prozess wird zur Farce: auf deine Verhaftung im August 2010 folgt ein Jahr später zu Recht ein Freispruch, doch die Staatsanwaltschaft geht in Revision und bis zum heutigen Tag hat das türkische Gericht noch nicht entschieden, ob der Fall aufgerollt wird oder nicht. Die Unentschlossenheit des Gerichts hat sie aber nicht daran gehindert, einen internationalen Haftbefehl gegen Dich zu erlassen.  Wie gehst Du mit diesen „kafkaesken“ Verhältnissen um?

Mir ist bewusst, dass ich gerettet wurde, weil ich ein deutscher Staatsbürger bin. Als türkischer Staatsbürger wäre das wahrscheinlich anders ausgegangen. Die Türkei führt nämlich seit hundert Jahren fast nur Krieg gegen seine eigenen Bürger. Sie haben die Armenier vernichtet, die Griechen massakriert und vertrieben, dadurch entstand die Türkische Republik. Es gab kaum eine Gruppe in der Türkei, die nicht aus politischem Kalkül Opfer von staatlichen Gewalttaten und Untaten wurde. Es wurden zum Beispiel während des Krieges gegen die Kurden abertausende Menschen getötet oder sind spurlos verschwunden. Wir wissen nicht einmal, wo ihre Gräber sind. Jeder Bürger und jede Bürgerin in der Türkei weiß das. Die Solidarität, die mich gerettet hat, ärgert die Männer in dem Land, die bei der Justiz, der Polizei und anderen hochrangigen Positionen sitzen. Sie können und werden mir nie verzeihen, weil ich der Mehrheitsgesellschaft angehöre und über die sozialen und politischen Themen sehr kritische Meinungen habe.

Ich habe bei einem Interview behauptet, dass ich nicht mehr in der Fremde, im Exil bin, sondern angekommen sei. Und mir ist eingefallen, dass ich seit meiner Freilassung weder einen Roman, noch eine Kurzgeschichte auf Türkisch verfasst habe. Und ich frage mich, ob es ein Zufall ist, dass ich mein Monodrama „Annes Schweigen“ auf Deutsch geschrieben habe. Oder ein Hinweis, der zeigt, dass ich immer noch ein Stück im Exil geblieben bin. Anfang des Jahres habe ich darüber nachgedacht und wollte die Barriere überwinden. Ich begann einen Roman auf Türkisch zu schreiben. Es gelingt mir. Es hat mich sehr gefreut, dass die Willkür der türkischen Justiz mich doch nicht auf ewig ins Exil schickte.

Du bist auch Mitbegründer der Raphael-Lemkin-Bibliothek. Welche Ziele verfolgt diese Institution?

Es ist keine richtige Institution, sondern eine symbolische. Die Lemkin Bibliothek ist nur ein Regal. Und dieses Regal ist eine Institution, die sich in dem interkulturellen Stadtteilzentrum „Allerweltshaus“ in Köln befindet. Das Allerweltshaus verfügt bereits über eine internationale und interkulturell ausgerichtete Bibliothek, die von Stadtteilinitiativen genutzt wird. Die Raphael-Lemkin Bibliothek verfolgt das Ziel, den Bestand der Literatur zu historisch verübten Verbrechen zu ergänzen, deren Spuren und Nachwirkungen in der Gegenwart im kollektiven Gedächtnis präsent sind.

Raphael Lemkin (1900 - 1959) gilt als „Vater der Völkermord-Konvention“ und ist gleichzeitig ein überwiegend vergessener Gerechter. Bereits seit 1930 setzte er sich für die Einführung einer internationalen Konvention zum Schutz kultureller, religiöser, ethnischer Gruppen ein. Er bildete 1944 den Begriff „genocide“ und entwickelte den Entwurf der Völkermord-Konvention, die dann aber erst 1948 von der UNO verabschiedet wurde. Er entstammte einer polnisch-jüdischen Familie, entwickelte seine völkerrechtliche Arbeit aber am geschichtlichen Beispiel des Schicksals der Armenier im Ersten Weltkrieg.

Ziel des Projektes ist die Förderung einer interkulturellen Kompetenz zur Verständigung über die konflikthaften Beziehungsgeschichten von Deutschen und Migranten. Das Projekt setzt einerseits auf einer lokalen Ebene an, greift aber andererseits exemplarisch internationale Kontexte auf. Kurz gesagt: es ist ein Angebot für einen transnationalen Gedächtnisraum in Deutschland.

Dein Roman „Richter des jüngsten Gerichts“ ist eine meisterhafte Erzählung, die sich mit dem Völkermord der armenischen Bevölkerung in der Türkei auseinandersetzt. Wieso hast Du Dich letztendlich für dieses Thema entschieden?

Das hatte mit meiner Biografie, meiner Gewalterfahrung zu tun. Dass ich verfolgt und gefoltert wurde, war vermutlich der Grund dafür, dass ich mich mit der historischen Gewalt meines Herkunftslandes beschäftigt habe. Die Frage war: Wie kann ich mit meiner eigenen Gewalterfahrung umgehen?

Vielleicht finde ich auch deshalb biografische Arbeiten mit Bezügen zur großen Gewalt interessant. Der Schutzraum Deutschland hat mir ermöglicht, über meine Vergangenheit, meine Gewalterfahrung nachdenken zu können. Wenn ich in der Türkei geblieben wäre, hätte ich keine Ruhe gehabt, um über mich und meine Vergangenheit, über die Beziehungen zwischen meiner und anderen Gewaltgeschichten nachzudenken, sie zu bearbeiten. Es war eine wichtige Entdeckung für mich, dass ich nicht das einzige Opfer bin. Wir Linken sind nicht die einzigen Opfer der Gewaltgeschichte. Ich habe hier andere Opfergruppen kennengelernt: die Aleviten mit ihrer Geschichte oder die Kurden. Über die Armenier hatte ich als Kind gehört, dass sie massakriert und vertrieben worden waren, das war es. Das war für mich ein lokales Massaker. Später habe ich hier in Deutschland durch die Genozidforschung und durch Zeitzeugenberichte erfahren, dass es an unterschiedlichen Orten ähnliche Erzählungen gab, und das zeigt, dass es eine zentrale Planung gegeben hatte. Das war für mich eine Schlüsselerkenntnis: Der Staat hat überall gleiche Massaker verübt. Man nennt das nach der Lemkin-Definition Genozid. Und da war die Frage: Was hat das mit mir zu tun, was hat meine Gewalterfahrung mit der Gewalterfahrung der Armenier Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun?

Ich habe als Literat begonnen, über die Gewalterfahrung meiner Generation zu schreiben. Dann bin ich einhundert Jahre zurück gegangen und habe begonnen, das Buch „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ zu schreiben. Ich hatte gespürt, dass es eine Verbindung zwischen meiner Gewalterfahrung und der Gewalterfahrung der Armenier, aber auch Unterschiede, gibt. Anders als ich haben die Armenier eine absolute, totale, ultimative Willkür der Macht erlebt.

Dein Engagement für die Aufarbeitung historischer Verbrechen verdient höchsten Respekt. Du hast es Dir quasi zur Lebensaufgabe gemacht, eine gemeinsame interkulturelle Erinnerungsarbeit zwischen Armeniern und Türken zu fördern. Darüber hinaus bietest Du türkische und deutschsprachige Führungen im EL-DE Haus (ehemaliges Kölner Gestapo-Gefängnis) an. Glaubst Du, dass türkische Mitbürger in Deutschland den armenischen Völkermord besser verstehen oder sich eher mit ihm auseinandersetzen, wenn sie mit den Verbrechen der Nazis und dem Holocaust konfrontiert werden?

Ich hoffe es. Als ich die türkischsprachigen Führungen im EL-DE-Haus im September 2002 begann, wusste ich nur, dass meine Landsleute nicht mit leeren Köpfen nach Deutschland gekommen waren, sondern angenehme und unangenehme Erinnerungen an die Türkei im Gepäck hatten. Gefängnis, Verfolgung, Flucht, Vernehmungen, Verbannung, Folter, aber auch der Völkermord an den Armeniern machte einen erheblichen Teil unserer Erinnerungen aus. Die individuelle wie kollektive Vergangenheitsbewältigung, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit sowie mit der Türkei, ist angstbeladen und wird deshalb gern umgangen.

Die offizielle Türkei hat bis heute nicht mit der Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern begonnen und sich auch nicht für das Schicksal ihrer Staatsangehörigen in der NS-Zeit interessiert. Ich hoffe durch die Führungen, dass die Einwanderer aus der Türkei sehen, dass ein anderer Umgang mit der Geschichte möglich ist. Wenn sich ein Gewaltort zu einem Ort der Erinnerung und Bildung verwandelt, zeigt sich, dass wir die Vergangenheit ändern werden, wie es sich Walter Benjamin vorgestellt hatte.

Dein Theaterstück „Annes Schweigen“ thematisiert die Überwindung des Identitätsverlusts durch die Konfrontation mit der Vergangenheit des eigenen Volkes. Tragen das Nichtverarbeiten und die Verzerrung der Verbrechen aus der eigenen Vergangenheit zu einer fehlerhaften Entwicklung des Nationalbewusstseins eines Volkes bei?

Die Türkische Republik wurde auf einem Keller voller Leichen errichtet, in dem armenische, assyrische, aramäische, Pontosgriechen und andere Bürger und Bürgerinnen liegen. Die türkische Staatsgründung basiert auf einem Genozid. Und weil sich dieser Staat in all diesen Jahren bis heute beharrlich gegen eine Aufarbeitung seiner Schuld stellt, hat er sich zu einem Serienmord begehenden Monstrum verwandelt. 1938 hat er die Kurden und Aleviten in Dersim zerschmettert und mit der Vermögenssteuer und den Pogromen das Alltagsleben der Christen und Juden in eine Hölle verwandelt. Wenn in einem Land genau am Tag des Gedenkens an den Armeniergenozid der armenisch-stämmige Soldat Sevak Balıkçıyan in einer Militärkaserne und wenige Jahre zuvor der Armenier Hrant Dink mitten in Istanbul erschossen werden, wenn in Kurdistan das Leiden kein Ende nimmt, dann auch deshalb, weil eine Politik der Verleumdung des Genozids betrieben wird und weil man die Geschichtsschreibung der Historikerzunft zuschiebt. Das ist nicht nur die Arroganz des Nicht-wissen-wollens und des Nicht-zur-Kenntnis-nehmens, sondern züchtet immer wieder staatliche Mordbereitschaft und nationalistisch begründetes Morden. Ein Genozid bleibt, auch wenn man ihn verleugnet, ein Genozid. Es ist die Pflicht eines jeden Bürgers in der Türkei sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und für die Würde der Opfer, für Gerechtigkeit und gegen künftiges Blutvergießen zivilen Ungehorsam und Widerstand zu leisten.

Gleichzeitig ist es auch eine Aufgabe der gesamten Menschheit, die Türkei zur Auseinandersetzung mit ihrer historischen Schuld zu drängen. Denn Genozide der Vergangenheit wie der Zukunft sind Menschheitsverbrechen, Verbrechen an der Menschheit wie an der Menschlichkeit. Daher zeugt es von Unmenschlichkeit, wenn die Bundesregierung eine revisionistische Haltung zum hundertsten Jahrestag des Genozids einnimmt, ihn relativiert und die deutsche Mitverantwortung gleich mit. Und das, obwohl gerade die Bundesrepublik Deutschland gelernt hat, sich wegen Auschwitz und trotz Auschwitz, ihrer Vergangenheit zu stellen, und darüber hinaus doch dieses Land offiziell anerkennt, dass es „keine deutsche Identität ohne Auschwitz gibt“, wie der Bundespräsident kürzlich richtig gesagt hat.

Was sind Deine neuen Projekte? Können wir uns auf ein neues Werk von Dir freuen?

Im Herbst veröffentlicht mein Verlag in Österreich mein zweites Buch, "Die Tage ohne Vater".

Worum geht es da?

Im ausgehenden 20. Jahrhundert flieht der Musiker Mehmet Nazım aus seinem Heimatland ins politische Asyl nach Köln. Im heutigen Köln lernt Mehmet Nazım Polaris kennen, eine kluge, geheimnisvoll schöne Frau, in die er sich vom ersten Moment an verliebt. Beide erleben eine kurze, aber leidenschaftliche Liebe, die zugleich eine Reise auf den Spuren Heinrich Bölls und James Joyce' ist. Die Geschichte dieser drei Figuren verknüpft auch drei Disziplinen: Die Literatur (Polaris), die Musik (Mehmet Nazım) und die Mathematik (der Vater). Die Erzählweise der Figuren wird durch ihre Berufe beeinflusst. Mehmet Nazims Sprache ist musikalisch und rhythmisch, der Mathematikprofessor erzählt zielgerichtet, argumentiert logisch, und Polaris redet wie eine Literatin.

Klingt sehr vielversprechend! Nun zu meiner letzte Frage an Dich: Wenn man Dich auf eine einsame Insel verbannen würde, wäre die eine Sache, die Du nicht mitnehmen würdest, was?

Das Gefühl von Hass.

Ich bedanke mich für das Interview!

 

Das Interview führte Safiye Can im April 2015