Die Sprache der Gewalt

von Andreas Merx

Wieder einmal sind französische Vorstädte Schauplatz gewaltsamer Jugendkrawalle geworden. Auch wenn die Unruhen nun abzuebben scheinen, sind Ausmaß, Dauer und Brutalität der nächtlichen Ausschreitungen erschreckend. Woher kommt dieser Hass und diese Wut der jungen Franzosen aus den Vorstädten? Viele der Jugendlichen stammen aus Einwandererfamilien aus dem Maghreb oder Westafrika, die oft bereits in der dritten, vierten oder fünften Generation in Frankreich leben. Spricht das für ein Versagen der französischen Integrationspolitik? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die deutsche Integrationspolitik ziehen?

Last Exit Banlieue – die französischen Vorstädte als Orte der Verbannung marginalisierter und diskriminierter Bevölkerungsteile

Viele der im Blickfeld stehenden Vorstädte liegen weit außerhalb der Zentren und wurden als räumlich von ihnen isolierte Wohnsiedlungen aufgebaut – zur Arbeit sollte man in die Stadt fahren.

Mit der zunehmenden Modernisierung und der Tertiarisierung des Arbeitsmarkts wurden ganze Bevölkerungsteile aus den Vorstädten, insbesondere wenn sie über schlechte Ausbildungsqualifikationen verfügten, aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Der größte Teil der in den Vorstädten lebenden Mittelschichten ist in diesem Wandel weggezogen, „einheimischen“ Franzosen aus den Unterschichten gelang dies oft nicht. Belegt wurden die Wohnungen in den 70er und 80er Jahren dann vor allem mit sozial schwachen und auf dem innerstädtischen Wohnungsmarkt diskriminierten Franzosen mit Migrationshintergrund.

Diese Prozesse verwandelten viele Vorstädte zunehmend in Orte einer massiven sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausgrenzung mit einer scharfen Trennlinie zwischen „innen“ und „aussen“, geprägt von Langzeitarbeitslosigkeit, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Armut und Sozialhilfe. Viele Vorstädte erfuhren dabei eine generelle sozialräumliche Diskriminierung, ihre Bewohner gelten oft als Franzosen zweiter oder dritter Wahl, sie werden als „Vorstädter“ häufig benachteiligt oder schlicht nicht beachtet. Dies betrifft Vorstädter mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen und lässt manchen Beobachter von „sozialer Apartheid“ sprechen.

Defizite der französischen Integrationspolitik

Die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen verschärften durch eine zunehmend bedeutender werdende ethnisch-kulturelle Konfliktlinie die Problemlagen vor allem für die postkolonialen magrehbinischen und westafrikanischen Franzosen. Sie sind besonders häufig Vorurteilen, Diskriminierungen, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ausgesetzt, die sie verstärkt in der Konkurrenz um knapper werdende Güter benachteiligt sowie ein Gefühl des Eingesperrtseins in den Vorstädten produziert haben. Die Zunahme der Ethnisierung und Kulturalisierung sozialer Probleme wurde dabei durch Besonderheiten der französischen Integrationspolitik begünstigt.

Das französische Staatsbürgerschaftsrecht basiert auf dem jus soli, dem „Bodenrecht“, das im Kern alle in Frankreich geborenen Menschen zu Franzosen macht. Gemäß des republikanischen Selbstverständnisses Frankreichs betrieb man keine gezielte Minderheitenpolitik wie etwa Großbritannien oder die Niederlande, sondern eine Politik der individuellen Gleichstellung.

Die französische Integrationspolitik war aus diesem Selbstverständnis heraus lange Zeit gewissermaßen „farbenblind“ gegenüber den ethnisch-kulturellen Konfliktlinien und begünstigte somit eine Tabuisierung der zunehmenden Probleme. Sie beinhaltet implizit einen ethnozentristischen Assimilationsgedanken, eine explizite Gleichstellungspolitik für die besonderen Problemlagen der ethnisch-kulturellen Bevölkerungsgruppen fehlte oft. Eine spezifische Form der Anerkennung der Identitäten der postkolonialen Franzosen fand meist kaum statt.

Wut auf ein gebrochenes Versprechen - die Jugendkrawalle sind auch ein negativer Anerkennungskonflikt

Der Lebensalltag vieler Jugendlicher in den Vorstädten ist massiv geprägt von Perspektivlosigkeit und vielfältigen Diskriminierungserfahrungen, was oft zu enormen Anerkennungsdefiziten führt: beengte, manchmal trostlose Wohnverhältnisse mit oft auseinanderbrechenden Familienstrukturen, eine enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Erfahrung vieler Jugendlicher, dass sie auch bei entsprechender Qualifikation aufgrund ihrer Herkunft, ihres Namens, ihrer Hautfarbe oder als „Vorstädter“ erst gar keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben. Das Gefühl, keine Möglichkeit  auf ein normales Leben zu haben sitzt tief. Das republikanische Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, in den Schulen stets vermittelt, scheint ihnen aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse hohl und gebrochen.

Viele Jugendliche haben in dieser marginalisierten Situation einen starken Ehrenkodex ausgebildet, die Verteidigung der brüchigen eigenen Identität wird häufig mit Gewalt ausgefochten, die Forderung nach „Respekt“ ist allgegenwärtig, nicht nur in den Rap-Songs der Bands aus den Vorstädten. In einer Situation, die vielen ausweglos scheint und in der wenig positive Identifikationsanreize (arbeitslose Väter oder Brüder sind es nicht) vorhanden sind, dient oft die Zugehörigkeit zu Cliquen oder Banden sowie eine starke Identifikation mit dem Viertel als Ersatz für das unbefriedigte Bedürfnis nach Anerkennung und Identität. Manchmal auch für den Zugang zu Ressourcen, die Konsumtempel der Stadtzentren sind oft weit entfernt. Jugendkriminalität und Devianz in Form von Drogenhandel, Einbrüchen und eine hohe Gewaltbereitschaft sind die indirekten Folgen.

Nachdem die sozialistische Vorgängerregierung gewisse Erfolge mit der Unterstützung von meist interethnischen Vereinen und dem Einsatz von in den Vierteln verwurzelten Polizeikräften, einer Art Nachbarschaftspolizei, erzielen konnte, ließ die konservative Regierung die Gelder für die Vereine auf Eis legen und setzte in Person von Innenminister Sarkozy auf eine Politik der harten Hand. Das Nachbarschaftspolizeikonzept wurde abgelöst von oft martialisch auftretenden Spezialeinheiten, die auf reine Strafverfolgung ausgerichtet sind und häufig Jugendliche schikanieren oder grundlos stundenlang auf der Wache ausharren lassen. Eine zunehmende Anspannung und Stimmung von wechselseitigem Mißtrauen und wachsender Gewalt (auch mit Übergriffen auf die Polizei) waren die Folgen dieses Wechsels der Polizeistrategie.

In dieser aufgeladenen Lage war der tragische Unfalltod der beiden Jugendlichen für viele Vorstadtjugendliche ein Symbol und scheinbare Bestätigung für mangelnde Anerkennung und Respekt. Für die Banden war es ein willkommender Anlass, die offene Konfrontation mit der Polizei zu suchen. Da eine politische Repräsentation der marginalisierten Vorstadtjugendlichen kaum vorhanden ist, Möglichkeiten dazu eher gering oder unbekannt sind, scheint vielen Gewalt auch die einzige Sprache zu sein, der angestauten Wut und Frustration über das Gefühl der Bedeutungslosigkeit Ausdruck zu verleihen.

Das Zusammenkommen der sozialen und ethnischen Diskriminierung bildet den Nährboden für das explosive Gemisch das sich nun entladen hat. Innenminister Sarkozy hat mit seinen auf den rechten Wählerrand schielenden Entgleisungen, in denen er die Jugendlichen pauschal als „Abschaum“ und „Gesindel“ diffamierte, Öl auf das schwelende Feuer eines negativen Anerkennungskonflikts gegossen. Die rein repressive erste Reaktion der Regierung auf die Gewaltausbrüche begünstigte die Eskalation in einer Dynamik von Gewalt und Gegengewalt. Worte des Ausgleichs und der Befriedung fehlten weitestgehend.

Französische Verhältnisse in Deutschland? Tendenzen zunehmender Exklusion

Die Situation in deutschen Städten ist mit der in Frankreich  nicht zu vergleichen. Die sozialräumliche Segregation hat bei weitem noch nicht die Ausmaße wie in Frankreich angenommen, die Integration etwa türkischer Jugendlicher in den Arbeitsmarkt ist vergleichbar besser als die magrehbinischer Franzosen, die Jugendarbeitslosigkeit insgesamt niedriger als jenseits des Rheins.

Dennoch gibt es alarmierende Zeichen: die jüngste PISA-Studie verzeichnete eine erschreckende Zunahme des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und schulischen Chancen. Die Sprachkompetenzen von Kindern mit Migrationshintergrund haben sich deutlich verschlechtert, die Zahl etwa türkischer Jugendlicher, die ohne Abschluss die Schule verlassen oder keinen Ausbildungplatz finden nimmt zu, die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund ist auf einem hohen Niveau angelangt.

Die ethnisch-kulturellen Minderheiten sind dazu noch von den Diskriminierungen und Ausgrenzungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt potentiell am stärksten betroffen. Die Tendenz zu einer immer stärker fragmentierten und ausgrenzenden Stadtgesellschaft nimmt auch in Deutschland zu. Bei aller Unvergleichbarkeit gilt es daher aus der französischen Misere zu lernen.

Lösungsansätze: Bildung, Arbeit, Anerkennung und Respekt in einer Kultur der Vielfalt

Da weiterhin von einer Zunahme des Anteils der Menschen mit Migrationshintergrund vor allem in den großen Städte auszugehen ist, wird sich auch die Frage der Integration in Frankreich wie in Deutschland weiterhin in den Städten entscheiden. Die erschreckenden Gewaltausbrüche in den französischen Vorstädten und die ihnen zugrundeliegenden Integrationsdefizite zeigen, dass nur durch die Sicherung von gleichberechtigten Zugangschancen zu den zentralen Bereichen in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Freizeit und Kultur eine gelingende Integration ethnisch-kultureller Minderheiten erreicht werden kann.

Im Mittelpunkt stehen hier wie in Frankreich dabei Modelle einer erfolgreichen Integration in Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt, die den ethnisch-kulturellen Minderheiten echte Perspektiven einer gerechten Teilhabe an diesen zentralen Lebensbereichen verschaffen. Stadtteilorientierte Integrationskonzepte und eine weitere interkulturelle Öffnung der Verwaltungen können dabei eine hilfreiche Rolle spielen. In Deutschland muss die rechtlich-politische Gleichstellung weiterhin verbessert werden.

Mit dem Zuwanderungsgesetz mit seinen Sprach- und Orientierungskursen und der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts sowie erleichteten Einbürgerungsregelungen hat die rot-grüne Regierung wichtige Schritte zu verbesserten Rahmenbedingungen für Integration umgesetzt. Ein umfassendes und wirksames Antidiskriminierungsgesetz sowie die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige wären weitere deutliche Zeichen, dass man unter Integration nicht nur eine Einbahnstrasse zu erbringender Anpassungsleistungen versteht. An diesen Punkten ist die große Koalition mit ihrer Ankündigung einer „verstärkten Integration“ gefordert.

Das Beispiel Frankreich zeigt aber auch deutlich, dass eine bloß formelle rechtliche Gleichstellung nicht ausreicht, die revoltierenden Jugendlichen sind französische Staatsbürger und die Familien sprechen seit Generationen französisch. Über die soziale, wirtschaftliche und politische Integration hinaus geht es auch um Fragen der Anerkennung und des Respekts unterschiedlicher Identitäten sowie der politischen Repräsentation. Eine moderne und nachhaltige Integrationspolitik muss daher auch eine Politik der positiven Anerkennung und Wertschätzung ethnisch-kultureller Vielfalt sein.

Mit den leidigen Debatten um eine deutsche Leitkultur, der blossen Androhung ausländerrechtlicher Konsequenzen oder inhaltsleeren Mahnapellen nach „mehr Integrationwillen“ seitens ethnisch-kultureller Minderheiten wird man keine positive Lösung von Anerkennungskonflikten erreichen. Ein Perspektivenwechsel in der Integrationsdebatte ist gefordert, in dem verstärkt die Chancen und Potenziale, die in der ethnisch-kulturellen Vielfalt liegen herausgestellt werden.

Ausblick

Ob es der französischen Regierung gelingt, mit einer Mischung aus repressiven und sozialpolitischen Maßnahmen die Situation in den ausgegrenzten Vorstädten längerfristig zu verbessern, muss abgewartet werden. Der ausgerufene Ausnahmezustand wurde jetzt auf drei weitere Monate verlängert und viele der angekündigten Maßnahmen werden erst im Laufe des nächsten Jahres anlaufen können. Bereits in den vergangenen Jahrzehnten gab es eine Vielzahl oft zu kurz greifender Aktionspläne für die Problemviertel, die Frage der zunehmenden Ghettoisierung der Vorstädte blieb letztlich unbeantwortet.

Präsident Chirac, der nicht zuletzt wegens seines Versprechens gewählt wurde, die Überwindung der „fracture sociale“ zur Hauptaufgabe seiner Präsidentschaft zu machen, sah die jetzigen Ereignisse in seinem Buch „France pour tous“ von 1995 gewissermassen voraus: „Wenn zu vielen Jugendlichen nur die Arbeitslosigkeit oder kleine Praktika nach ungewissen Studien in Aussicht gestellt werden, werden diese am Ende revoltieren. Noch versucht der Staat die Ordnung aufrechtzuerhalten und mit der sozialen Abfederung der Arbeitslosigkeit das Schlimmste zu verhindern. Falls sich die sozialen Beziehungen aber verhärten, kann die Ordnung aus den Fugen geraten.“

Die Fragen der Integration werden diesseits und jenseits des Rheins konfliktreich bleiben. Sie mit einer umfassenden, nachhaltigen und differenzierten Integrationspolitik zu bearbeiten ist auch in Zeiten knapper Kassen und der Krise des europäischen Wohlfahrtsstaates alternativlos. Die hohen Kosten einer kurzatmigen oder einseitigen Politik gegenüber marginalisierten Bevölkerungsgruppen und einer mangelnden Beachtung der Fragen von Anerkennung und Respekt sind derzeit in Frankreich zu sehen.

 

Ihre Meinung interessiert uns! Schreiben Sie uns an
MID-Redaktion@boell.de

Lesermeinung

Dies ist - wie ich finde - ein ausgezeichneter Artikel von Herrn Merx. Endlich jemand der, durch fundiertes Wissen, intelligent analysiert. Er hat alles gesagt und geschlussfolgert, was es zu den Thema zu sagen gab. Ich hoffe, dass Politiker in unserem Lande diese Informationen bekommen und verstanden haben, und sich vor allem gegen den vermehrt zu hörenden Anti-Immigrations-Rassismus nach dem Motto "Seht ihr: Die wollen sich ja nicht integrieren" mit Argumenten und Wissen, wie von Herrn Merx, zu Wort melden.
Nochmals: Toller Artikel!
 
Hochachtungsvollst,
Daniel Kolpatzik

Bild entfernt.

Andreas Merx ist Politologe und arbeitete bis 2005 als Projektreferent im Bereich der Antidiskriminierungsgesetzgebung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.