Sprachvariationen in deutschen Ghettos

Von Donja Amirpur

Deutschland ist schon lange kein „einsprachiges“ Land mehr. Allerdings hat sich die Sprachwissenschaft bisher hauptsächlich mit der Sprache der Gastarbeiter beschäftigt und nur selten mit einem bestimmten Sprachphänomen, das zwar migrationsspezifisch ist, aber schon längst den Sprung von Deutschlands Schulhöfen und Vorhöfen in die Medien geschafft hat: mit Kanaksprak.

Der Begriff „Kanak Sprak“ (hier im Folgenden als „Ghettodeutsch“ bezeichnet) wurde von Feridun Zaimoglu geprägt. Der bekannte Autor türkischer Herkunft bearbeitete diesen Sprachstil künstlerisch und machte als erster aufmerksam auf das Sprachphänomen. Inzwischen haben sich ihm zahlreiche Comediens angenommen. Es erscheinen Wörterbücher, die als Übersetzungshilfe dienen sollen und auf zahlreichen Internetforen wird ausschließlich in der neuen Sprache gechattet.

Kanak is beautiful
„Jeder Ausländer, sei es ein Türke, Jugoslawe, Marokkaner oder was weiß ich, ist ein Kanake für mich, weil er in seinem eigenen Land nicht akzeptiert ist und hier nicht“, so ein Frankfurter Rapper namens H-Run.

Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die über wenig Bildung verfügen und somit den Weg aus dem Ghetto nicht finden, bezeichnen sich heute selbst oft als „Kanaken“. Der Begriff „Kanake“ stammt aus dem Polynesischen und bedeutet „Mensch“. Er wurde von den Europäern übernommen und abschätzig benutzt zur Bezeichnung der Südsee-Insulaner, die sich nicht den Kolonialherren beugen wollten. In der Unabhängigkeitsbewegung der Einwohner gegen die Kolonialherren in den 60er Jahren wurde der Begriff Kanake zu einem politischen „Kampfbegriff.“

In der deutschen Gesellschaft ist das Wort Kanake nicht ethnisch definiert. Indem MigrantInnen oder Menschen mit Migrationshintergrund sich selbst als Kanaken bezeichnen, wird die eigentlich negative, rassistische Bezeichnung positiv gefüllt. Das zumindest ist Ziel der bundesweiten Vereinigung Kanak Attak: Die rassistischen Zuschreibungen sollen in eine politische Form transformiert werden, der Begriff soll also aus seinem rassistischen Zusammenhang gelöst werden.

Ahmed, 15, aus Bonn-Tannenbusch, dem Stadtteil mit Bonns größtem Migrantenanteil, erzählt, warum „Kanaken so toll sind“: Man habe Angst vor ihnen, alle hätten endlich Respekt vor ihnen, vor allem die Deutschen. „Die Weiber wollen auch alle nur Kanaken haben“, fügt er hinzu, und schimpft über diejenigen, die versuchen, die Kanaken zu imitieren, indem sie sich kleiden wie sie. Meistens seien es „Kartoffeln“, die danach strebten wie Kanaken zu sein. „Kartoffel“ ist eine Bezeichnung von Kanaken für Deutsche, abgleitet von der rassistischen Bezeichnung „Kümmeltürke“ oder „Spaghettifresser“ für Türken und Italiener. Und ein weiteres Mitglied der Bonner Jugendgruppe zitiert den Text eines Rappers, der für das Zusammengehörigkeitsgefühl  spricht: „Wir sind eine Gruppe. Nix bringt uns auseinander.“ Sie definieren sich darüber, dass andere sie nicht wollen. Sie bekennen sich zur Gruppe der Kanaken. „Die Kanaken müssen nich ins Sonnenstudio gehen. Wissen sie, wir sin naturbraun un so“, sagt Ahmed ganz im Stile der Afroamerikaner in Amerika („black is beautiful“) und ihrer black power-Bewegung.

Ghettodeutsch
Betrachtet man das „Ghettodeutsch-Korpus“, entstanden aus Gesprächen mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus Bonn-Tannenbusch, erinnert es zunächst an die Sprache ihrer Eltern und Großeltern, den Gastarbeitern, die das so genannte Gastarbeiterdeutsch sprachen: ein durch analytische Wortbildungen und Weglassungen von Präpositionen vereinfachtes Deutsch, das mit Elementen ihrer Herkunftssprachen kombiniert wird. Allerdings ist kanakisch, die Sprache der Jugendli¬chen, sehr viel anspruchsvoller und kreativer als die der Gastarbeiter – wenn auch ähnlich auf Reduktion angelegt wie diese.
 
Reduzierte Sprache ist im Allgemeinen auf Ergänzung durch den Aufnehmenden angelegt. So gibt es in der gesprochenen Sprache z.B. eine Reduktion in der Satzfolge, eine Reduktion der Satzmorpheme. Allerdings ist bei den Reduktionen in der gemeinen Umgangssprache Voraussetzung, dass es sich um entsprechende Situationen handelt, die typisch wiederkehren, und dass bei der Reduktion eine Struktur verbleibt, die dem Empfänger die entsprechende Ergänzung nahe legt und ermöglicht.

Auch das Ghettodeutsch weist diese Merkmale der reduzierten Sprache auf, allerdings mit einem noch viel höheren Grad an vorausgesetztem Vorwissen, da die Sprache nicht nur morphologisch reduziert wurde, sondern auch syntaktisch und morphosyntaktisch. Auch für das Verständnis der Lexik, der benutzten Wörter, ist ein Vorwissen notwendig, denn die Wendungen und Diskursmaker stammen aus den Herkunftssprachen der Migranten.

Doch was verleitet Jugendliche mit einem Migrationshintergrund dazu, eine solche Sprachvarietät zu kreieren? Die Jugendlichen kommunizieren alle in einer Fremdsprache, nämlich in Deutsch, miteinander. Sie bauen aber in dieses Ghettodeutsch Codeswitching/Codemixing-Elemente ein: sie schimpfen in ihren Herkunftssprachen (in arabisch, persisch, türkisch), sie begrüßen sich in ihren Herkunftssprachen, sie benutzen Diskursmaker aus ihrer Herkunftssprache (inshallah, mashallah etc.), um ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu symbolisieren.

Hinzu kommt: Die meisten Jugendlichen sind durchaus in der Lage, Hochdeutsch zu sprechen, doch um ihre Zugehörigkeit zu erklären, sprechen sie da, wo sie es für notwendig empfinden, Ghettodeutsch. Es handelt sich hier nicht um ein Nichtkönnen, sondern um Solidaritäts- und Identitätsgründe, die sie dazu veranlassen.

Ghettodeutsch dient einerseits zur gruppeninternen Verständigung, aber auch zur Abgrenzung von der deutschen Gesellschaft. Wie die Bezeichnung schon sagt, hatte Ghettodeutsch zwar seinen Ursprung in Migrantenghettos. Es handelte sich aber um einen Ethnolekt, der schon längst seinen Weg aus den Migrantenghettos gefunden hat: Nicht nur, dass es jetzt „aufstiegsorientierte“ Jugendliche sind, die Ghettodeutsch sprechen. Es fand in den letzten Jahren auch eine De-Ethnisierung statt. Inzwischen wird der Ethnolekt zunehmend auch von Jugendlichen mit deutschem Familienhintergrund verwendet, mittlerweile sprechen auch viele Frauen und Mädchen Ghettodeutsch.

Ghettosprache und soziale Situation
Ghettosprachen sind keine neue und keine deutsche Erscheinung. Betrachten wir z.B. Frankreich und die Banlieue: Entstanden in den 60er und 70er Jahren und heute hauptsächlich bewohnt von Maghrebinern und Schwarzafrikanern, ist dort auch eine Sprache entstanden, genannt die „Sprache der Banlieue“. Jedes einfache, normale Gespräch klingt wie ein heftiger Streit. Die Sprache beinhaltet Entlehnungen aus dem Arabischen, Afrikanischen und Angloamerikanischen. Themengebiete sind illegaler Handel, Polizei, Drogen, Sex. Auch dort nehmen sich Sprachwissenschaftler vermehrt dem Phänomen an.

Diese Varietät des Französischen wurde in den letzten Jahren salonfähig und ist Inhalt von Fernsehserien und Radiosendungen. Ein besondere Ausprägung wird verlan genannt: Ein Wort wird in Silben zerlegt und in umgekehrter Reihenfolge wieder zusammengesetzt, français wird zu cefran, bonjour zu jurbon und musique zu siquema. Dadurch werden einzelne Wörter im Satz betont und verschlüsselt.

Viele sehen die Varietät als Reaktion auf die staatliche Vereinheitlichung und Reglementierung der Sprache. Es entsteht eine Kultur, die zwischen derjenigen der Eltern der Jugendlichen und der französischen stehe.

Subkulturen bilden sich da, wo Ausgrenzungen zum Alltag gehören und die jugendlichen Migranten definieren sich über diese Ausgrenzungen. In der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Literatur werden diese Jugendlichen mit Migrationshintergrund als „entwurzelt“ und als Jugendliche mit Identitätskrisen oder geteilten Identitäten bezeichnet. Sie seien desorientiert. Dieser Sichtweise widerspricht aber das enorme Selbstbewusstsein der Jugendlichen. Von einer Identitätskrise ist hier nichts zu spüren. Sie haben sich eine Identität aus zwei Kulturen aufgebaut und verfügen über ein neues Selbstbewusstsein. Ihre Identität artikuliert sich als Antwort auf die tatsächliche oder vermeintliche Ausgrenzung.

Die Kanaken sind gegen eine multikulturelle Gesellschaft. Und ihre Selbstsicherheit drücken sie unter anderem durch Ghettodeutsch aus, das somit nicht nur sprachlich interessant ist, sondern auch die soziale Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund verdeutlicht.

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Donja Amirpur ist Kommunikationsforscherin und Islamwissenschaftlterin und lebt in Bonn. Zurzeit arbeitet sie bei AktionCourage e.V. im Bereich Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und macht diese Arbeit zum Thema ihrer Dissertation.