Globalisierung, Migration und (Des-)Integration

Foto der "Monument to Multiculturalism" Skulptur

Von Christoph Butterwegge

Migration gibt es, seit Menschen auf der Erde leben. Gegenwärtig nimmt sie jedoch neue Züge an und bestimmte Merkmale prägen sich stärker als bisher aus, was die aufgeregte, manchmal hysterisch geführte Diskussion zu den Themen „Massenmigration“, „Kampf der Kulturen“ und „Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ mit zu erklären vermag. So überschrieb das Nachrichtenmagazin Der Spiegel seine Titelgeschichte über den „Ansturm der Armen. Die neue Völkerwanderung“ am 26. Juni 2006 „Welt der Wandernden“, um die aktuelle Migrationssituation zu kennzeichnen. Damit wurde – noch dazu in der für Medienmacher typischen Dramatisierung – aber nur eine Seite der Medaille benannt. Denn die Arbeitsmigration als wichtigster Migrationstyp der Gegenwart teilt sich noch einmal vertikal in eine Luxus- und eine Pariavariante.

Spaltung der Weltgesellschaft, der Wanderer und der Migrationspolitik

Neben die „klassische“ Migrationsform eines definitiven Wohnsitzwechsels, der in aller Regel einer prekären oder Notsituation im Herkunftsland geschuldet ist (Elends- bzw. Fluchtmigration), über nationalstaatliche Grenzen hinweg tritt eine neue Migrationsform, bei der sich Höchstqualifizierte, wissenschaftlich-technische, ökonomische und politische Führungskräfte sowie künstlerische und Sportprominenz heute hier, morgen dort niederlassen, sei es, weil ihre Einsatzorte rotieren, der berufliche Aufstieg durch eine globale Präsenz erleichtert wird oder Steuervorteile zum modernen Nomadentum einladen (Eliten- bzw. Expertenmigration).

Die soziale Spaltung der Weltgesellschaft in Arm und Reich löst nicht nur neue Wanderungsprozesse aus, sondern führt auch zu deren weiterer Ausdifferenzierung. Je mehr die sog. Dritte Welt im Globalisierungsprozess von der allgemeinen Wirtschafts- bzw. Wohlstandsentwicklung abgekoppelt wird, umso eher wächst der Migrationsdruck, welcher Menschen veranlasst, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und nach Möglichkeiten der Existenzsicherung in ferneren Weltregionen zu suchen, was wiederum polarisierend auf die Einkommensdisparitäten zwischen den und innerhalb der einzelnen Gesellschaften zurückwirkt. Gleichzeitig werden soziale Zusammenhänge labiler und die Menschen sowohl beruflich flexibler wie auch geografisch mobiler. Sie überwinden leichter und viel schneller als in der Vergangenheit riesige Entfernungen. Transkontinentale Wanderungen verändern die ganze Welt, deren Gesellschaften immer weniger dem Muster homogener Nationalstaaten entsprechen.

Bedingt durch zunehmende Spaltungstendenzen zwischen den wie innerhalb der einzelnen Nationalstaaten, gestaltet sich die Migrationspolitik immer weniger einheitlich: Während die entwickelten Industrienationen der Triade (Nordamerikas unter Führung der USA, Westeuropas unter Führung der Bundesrepublik Deutschland und Südostasiens unter Führung Japans) gut ausgebildete Fach- bzw. Führungskräfte aus aller Herren Länder im „Kampf um die besten Köpfe“ zu gewinnen suchen, gilt Armutsmigration bzw. Flucht den Bewohnern solcher reichen Länder als „Standortnachteil“, den man tunlichst zu vermeiden oder wenigstens zu verringern sucht. Zu- bzw. Einwanderung wird primär unter dem Gesichtspunkt ihres betriebs- oder volkswirtschaftlichen Nutzens für das als „Wirtschaftsstandort“ begriffene Aufnahmeland bewertet.

Mit den Wanderungsbewegungen erfährt auch die Zuwanderungspolitik in den westlichen Wohlfahrtsstaaten eine Ausdifferenzierung: Elendsmigration unterliegt sehr viel restriktiveren und repressiveren Formen der Regulierung, als sie Eliten- bzw. Expertenmigration zuteil wird. Auch die deutsche Migrations- und Integrationspolitik spiegelt die o.g. Spaltung der Zuwanderung im viel beschworenen Zeitalter der Globalisierung wider. Wenn man so will, entsteht ein duales und selektives Migrationsregime: Die „guten“ (d.h. hoch qualifizierten) Zuwanderer werden angeworben bzw. willkommen geheißen, die „schlechten“ (d.h. niedrig qualifizierten) Zuwanderer systematisch abgeschreckt. Zuckerbrot und Peitsche dienen als Instrumente einer Migrationspolitik, die im Alltag volkswirtschaftlichen und demografischen Interessen folgt, wiewohl die Menschenrechte in Sonntagsreden zur obersten Richtschnur des Handelns erklärt werden. Migrant(inn)en fungieren als Mehrer/innen ökonomischen Wohlstandes und/oder als demografische Lückenbüßer/innen, sofern Arbeitskräfte bzw. kinderreiche Familien fehlen, um eine größere Gesamtgütermenge zu produzieren bzw. sich als „Gesellschaft im Niedergang“ biologisch überhaupt noch zu reproduzieren.

Massenmedien, Migration und Integration

Was unter dem (Tot-)Schlagwort „Globalisierung“ mehr mythologisiert als entmystifiziert wird, verstärkt den Trend zum Einwanderungsland und schafft neue Konfliktlinien innerhalb der Aufnahmegesellschaft. Denn durch das neoliberale Konzept der „Standortsicherung“ als seiner Haupttriebkraft spitzen sich nicht nur die Verteilungskämpfe zwischen Einheimischen und Ausländer(inne)n, wie man die Migrant(inn)en in der Bundesrepublik paradoxerweise immer noch nennt, sondern auch die im traditionellen Wohlfahrtsstaat sozial abgefederten Interessengegensätze zwischen gut oder besser situierten und subalternen Bevölkerungsschichten zu. Migrant(inn)en unterliegen verstärkt der Gefahr sozialer Desintegration und Exklusion. Auch wenn es nicht zur ethnischen Unterschichtung der Aufnahmegesellschaft kommt, verändern sich im Rahmen von Migration die Sozialstruktur und die politische Kultur des betreffenden Landes.

Im globalisierten Kapitalismus der Gegenwart nimmt auch die stadträumliche Segregation zu: Vor allem die Großstädte zerfallen in Luxusquartiere und sozial benachteiligte Wohngebiete. Hier entsteht ein modernes Lumpenproletariat, das sich nicht zuletzt aus Migrant(inn)en rekrutiert. Dies lässt sich in ökonomischen Krisenperioden für eine Radikalisierung der Einheimischen nach rechts ausnutzen. Somit führt die neoliberale Hegemonie nicht nur zu einer sozialstrukturellen Dichotomie, leistet vielmehr auch der Sozialdemagogie rechtsextremer bzw. -populistischer Parteien Vorschub. Die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe und sozialen Konflikte werden ethnisiert, Migrant(inn)en bzw. Minderheiten kriminialisiert.

In der aktuellen Diskussion über Zuwanderung, das angebliche Scheitern der Integration und das Verhältnis des Westens zum Islam bzw. zu den Muslimen spielen die Massenmedien eine Schlüsselrolle. Sie filtern für die Meinungsbildung wichtige Informationen und beeinflussen so das Bewusstsein der Menschen, denen sich die gesellschaftliche Realität zunehmend über die Rezeption von Medien erschließt. Medien liefern nicht nur (Zerr-)Bilder von Migrant(inn)en und ethnischen Minderheiten, die das Denken und Handeln der Einheimischen überwiegend negativ beeinflussen, sondern prägen auch deren Haltung im Hinblick auf Modelle für das Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität, ethnischer Herkunft, Kultur und Religion, indem sie Möglichkeiten bzw. Grenzen der Integration ausloten und öffentliche Debatten darüber organisieren. Die strukturelle Dualisierung der Migration spiegelt sich im medialen Diskurs über „Asylschmarotzer“, die systematisch den deutschen Sozialstaat missbrauchen, einerseits und in der positiven Berichterstattung über ausländische Experten, die den heimischen Arbeitsmarkt bereichern, andererseits wider.

Wenn ethnische Differenzierung als Voraussetzung der Diskriminierung und dominanter Mechanismus einer sozialen Schließung gegenüber Migrant(inn)en charakterisiert werden kann, treiben die Medien den Ausgrenzungsprozess voran, indem sie als Motoren und Multiplikatoren der Ethnisierung wirken. „Ethnisierung“ ist ein sozialer Exklusionsmechanismus, der Minderheiten schafft, diese (fast immer negativ) etikettiert und Privilegien einer dominanten Mehrheit perpetuiert. Je mehr die Konkurrenz im Zuge der Globalisierung bzw. der Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach dem Vorbild des Marktes, etwa durch die von den Massenmedien stimulierte „Standortdebatte“ ins Zentrum zwischenstaatlicher wie -menschlicher Beziehungen rückt, desto leichter lässt sich die ethnische bzw. Kulturdifferenz politisch aufladen.

Seit geraumer Zeit schlägt das Thema „Migration und (mangelnde) Integration von Muslimen“ in den Massenmedien hohe Wellen. Auslöser einer Debatte, die Integration fast nur noch als einseitige Zwangsveranstaltung begreift und von Zuwanderern immer mehr Vorleistungen im Hinblick auf den Besuch von Sprachkursen und die Teilnahme an Einbürgerungstests verlangt, waren der sog. Karikaturenstreit und seine verheerenden Folgen. Am 30. September 2005 hatte die dänische Tageszeitung Jyllands-Posten unter dem Titel „Die Gesichter Mohammeds“ zwölf Karikaturen des Propheten veröffentlicht, obwohl man diesen nach islamischen Glaubenssätzen nicht bildlich darstellen darf. Obwohl sie noch Monate später unter Muslimen in aller Welt zum Teil gewaltsame Proteste und Massendemonstrationen auslösten, wurden die Mohammed-Karikaturen von mehreren anderen westlichen Blättern nachgedruckt. Bei dem Konflikt ging es aber nicht nur um die Grenzen der Pressefreiheit und die Schutzwürdigkeit religiöser Gefühle, sondern auch um die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Nationalität, ethnischer Herkunft und Religion.

Alternativen des Zusammenlebens: „Parallelgesellschaften“ der Migranten und deutsche Leit- oder Multikultur?

Während das Konzept einer „multikulturellen Gesellschaft“ in der (Medien-)Öffentlichkeit vorschnell für gescheitert erklärt wird, bezichtigt man Zuwanderer häufiger, in selbst gewählter Isolation und von der Bevölkerungsmehrheit abgeschotteten „Parallelgesellschaften“ zu leben. Die multikulturelle Realität der Einwanderungsgesellschaft erfährt dabei oft eine Umdeutung zur Bedrohung oder unzumutbaren Belastung für die Einheimischen, was besonders in der Diskussion über die „deutsche Leitkultur“ zum Ausdruck kam. Aber auch durch ihre publikumswirksame Konzentration auf das Kopftuch mancher Muslima, „Ehrenmorde“ und Zwangsheiraten bestärkte die mediale Migrationsberichterstattung den Eindruck, dass Zuwanderer eine Außenseitergruppe bilden, die „uns“ in der (Rütli-)Schule, bei Behörden, im Strafvollzug oder auf der Straße fast ausschließlich Probleme bereitet.

Wenn nach dem 11. September 2001 häufiger vom „Krieg der Kulturen“ oder vom „Streit zwischen westlicher und islamischer Welt“ die Rede ist, wird der von rechten Scharfmachern, religiösen Fanatikern und fundamentalistischen Minderheiten inszenierte Zusammenstoß als unausweichliche, der ganzen (islamischen) Kultur/Religion zugeschriebene Auseinandersetzung von wahrhaft historischer Tragweite interpretiert, wodurch im Grunde keinerlei Raum für politische Kompromisse und das gedeihliche Miteinander aller Erdenbürger/innen mehr bleibt. Es handelt sich um ein Deutungsmuster ökonomischer, politischer und sozialer Konflikte, das an den Kalten Krieg erinnert, weil die Projektion von Feindbildern an die Stelle der Bereitschaft zur Kooperation zwischen großen Teilen der Menschheit tritt.

Nimmt man das (Tot-)Schlagwort „Globalisierung“ wirklich ernst, werden die Hintergründe weltweiter Wanderungsbewegungen verständlich und erscheint Migration als Normalität, die in Zukunft viel mehr als bisher gemeinsam gestaltet werden muss. Annähernd gleiche Chancen für alle Wohnbürger/innen (deutscher wie ausländischer Herkunft), ihr Leben frei und unabhängig von (staatlichem) Zwang, Diskriminierung und willkürlicher Beschränkung der eigenen Handlungsspielräume und persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten durch andere, seien es Individuen oder Gruppen, zu führen,  bilden wichtige Grundvoraussetzungen einer multikulturellen Demokratie, die weniger eine Zustandsbeschreibung als eine äußerst ehrgeizige politische Zielbestimmung ist. Versteht man darunter eine neue Form des Zusammenlebens der Mehrheitsgesellschaft sowie ethnischer, kultureller oder religiöser Minderheiten, gilt es, Gleichberechtigung und Rechtsgleichheit zwischen ihnen herzustellen. Denn zwischen Herrschern und Beherrschten, Unterdrückern und Unterdrückten, Privilegierten und Diskriminierten kann es kein partnerschaftliches Verhältnis geben, das die Basis für eine von wechselseitigem Respekt geprägte Beziehung ist.

Zur demokratischen Multikulturalität gehören die Offenheit einer Republik für äußere Einflüsse, die strikte Ablehnung von Ideologien der Ausgrenzung (Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus), Konformismus und Autoritarismus, aber auch mehr Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensformen, die Akzeptanz der Weltanschauungen und religiösen Grundüberzeugungen von (ethnischen) Minderheiten sowie ein Basiskonsens über die soziale Verantwortung der Gesellschaft für all ihre Mitglieder. Unterschiede müssen (an)erkannt werden, will man sie im dialektischen Sinne aufheben und eine offensive Haltung gegenüber Rechtsextremismus und Neonazismus beziehen. Probleme, die Einheimische mit kulturellen Unterschieden gegenüber „Fremden“ haben, lassen sich kaum überwinden, indem man sie leugnet, wie es auch schwerlich reicht, „die Anderen“ als gleichberechtigte Subjekte zu akzeptieren, ohne sich ihrer Eigenheiten bewusst zu sein. Kulturelle Differenzen dürfen weder im Sinne einer bewussten bzw. ungewollten Ethnisierung sozialer Beziehungen verabsolutiert oder dramatisiert noch leichtfertig ignoriert oder negiert werden, müssen vielmehr auf der Grundlage eines republikanischen Staatsverständnisses als konstitutiver Bestandteil einer Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung begriffen werden.

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Christoph Butterwegge ist Professor an der Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. 2006 gab er gemeinsam mit Gudrun Hentges „Massenmedien, Migration und Integration“ sowie „Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung“ heraus.