Diversity. Die Macht des Einbezugs

von Paul Mecheril

Wir sollten die Unterschiedlichkeit in unserer Bank bejahen - die Unterschiede zwischen Regionen, Geschäftseinheiten, Funktionen und Personen. Diese Vielfalt ist ein besonderer Vorzug. Nur, wenn wir diese Unterschiedlichkeit anerkennen, respektieren und als Hebel benutzen, können wir bankübergreifend effizient handeln. Ein Faktor muss jedoch überall gelten: Was zählt, ist Leistung. Nur wenn für alle Mitarbeiter Chancengleichheit besteht, können wir eine Leistungskultur schaffen, die für unseren Erfolg von entscheidender Bedeutung ist."

(Joseph Ackermann, Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank, Mai 2002, homepage der Deutschen Bank)

Im deutschsprachigen Raum ist die Vokabel „Diversity“ in etwa seit den 1990er Jahre bekannt. Mit ihr ist - zunächst zumeist in Bildungszusammenhängen -  der Versuch verknüpft, solche grundlegenden Fähigkeiten zu markieren und zu fördern, die einen angemessenen Umgang in und mit gesellschaftlicher Vielfalt ermöglichen. Seit Anfang des neuen Jahrtausends ist der Begriff verstärkt auch im Kontext betrieblichen und verwalterischen Management zu finden. „Managing Diversity“ bezeichnet ein Prinzip der Unternehmensführung, das Differenzen zwischen Menschen als Stärke und die Berücksichtigung von Unterschieden als Schlüssel zum unternehmerischen Erfolg betrachtet.

Gleich, ob Betriebe oder nicht-marktwirtschaftlich orientierte Organisationen, wie soziale Projekte, Verwaltungen, (Hoch-)Schulen – „Diversity“ scheint seit einiger Zeit so sehr das positive Profil von Organisationen nach innen und außen zu kommunizieren, dass es nahezu unvermeidlich ist, die Vokabel als Ausdruck organisatorischen Selbstverständnisses zu verwenden.

Programmatisch geht mit „Diversity“ die Einsicht einher, dass die Vielfalt von Unterschieden konstitutiv für gesellschaftliche Wirklichkeit ist und damit zugleich für die Wirklichkeit des jeweiligen organisatorischen Zusammenhangs. Gesellschaftliche Wirklichkeit lässt sich in dieser Perspektive nicht angemessen beschreiben, wenn sie allein oder in erster Linie beispielsweise als Geschlechterordnung, als ethnische oder kulturelle Ordnung, als Ordnung der Generationen aufgefasst wird. Diese Differenzlinien werden ferner als in ihrem Gehalt und ihrer Bedeutung veränderbare Unterscheidungsformen verstanden, ihre situative und je konkrete Relevanz ist kontextspezifisch. Die programmatische Berücksichtigung der Vielzahl von veränderlichen und kontextrelativ zusammenwirkenden Differenzlinien ist das Grundanliegen der Praxis „Diversity“. Damit artikuliert „Diversity“ auch schon immer ein normatives Moment, das darauf zielt, Vielfalt als etwas Wertvolles anzuerkennen.

Die grundlegende Logik von „Diversity“ besteht somit in zwei Momenten: Zum einen wird Vielfalt als relevant für den jeweiligen Zusammenhang (Unternehmen, Schule, Polizei, Stadtverwaltung etc.) behauptet und weiterhin wird die Anerkennung dieser Vielfalt als sinnvoll oder sogar erforderlich angesehen. Insofern stellt „Diversity“ ein Prinzip organisatorischer Führung und Lenkung dar, das mit empirischen Thesen normative und das heißt disziplinierende Kraft entfaltet. Eine - soweit ich weiß: noch ausstehende - systematische Analyse der organisatorischen Führungspraxis „Diversity“ müsste zumindest auf drei unterschiedlichen Ebenen zu einer differenzierten Einschätzung kommen: „Diversity“ und ihre Programmatik (1), „Diversity“ und ihre Praxis (2),  „Diversity“ und ihre Effekte (3). Zentral ist hierbei die Frage, inwiefern „Diversity“ – programmatisch, in ihrer Praxis und was ihre Wirkungen angeht - eine eher emanzipative oder eher hegemoniale Praxis ist.

Die Antwort, die hier angedeutet werden soll, lautet: beides. „Diversity“ ist sowohl eine Praxis der raffiniert(er)en Annexion von Differenzen/Identitäten (z. B. zur Leistungssteigerung) als auch eine Praxis, die den Ausschluss marginalisierter Positionen/Identitäten mindert. Wichtig ist nun, die hegemonialen Wirkungen des Einschlusses durch „Diversity“ zu problematisieren und dadurch „das emanzipative“ Potenzial -  damit ist hier recht schlicht gemeint: Verhältnisse, in denen Menschen würdevoller leben und arbeiten können - durch kritische Reflexion zu stärken.

(1): Programmatisch verbindet sich mit „Diversity“ ein Ansatz, der darauf zielt, aus der Enge zumeist biploar gefasster Differenzlinien hinauszukommen. Durch diesen Ansatz wird ein Hinterfragen und Aufeinanderbeziehen unterschiedlicher Differenzen möglich. Andererseits tendiert „Diversity“ zu einem entschärfenden und nivellierenden Bezug auf die Differenzlinien, führt zum Mantra gender, race, class, sexuality, handicap, ohne dass hinreichend das Zusammenspiel dieser Differenzhinsichten theoretisch und empirisch geklärt ist.  Mit dieser theoretischen  Unschärfe verknüpft ist, dass der Bezug auf gender, race, class, sexuality, handicap nicht zu einer Überwindung des festlegenden Identitätsdenkens, sondern zu seiner Pluralisierung führt.  „Diversity“ schwächt das Identitätsdenken durch Relativierung der Identitätspositionen und stärkt es zugleich durch Identitäts-Vervielfältigung.

(2): Mit den „Diversity“-Angeboten im Bereich der Bildungsarbeit ist eine wichtige theoretisierende, aber auch selbstreflexive Perspektive auf soziale Verhältnisse und subjektive Positionen verbunden. Zu fragen bleibt hierbei, welches Wissen, welche Ausbildung und welche Qualifikation gegeben sein müssen, um beispielsweise Diversity-Trainings anzubieten. „Diversity“ boomt auf dem Bildungsmarkt, obschon große theoretische Unklarheiten bestehen, was mit „Diversity“ jenseits eines Verständnisses gemeint ist, das Differenzen bloß summiert. „Diversity“ scheint einem vagen Gefühl zu entsprechen, das viele schon immer gehabt haben und nun pflegen können: dass es doch mehr als gender, mehr race, mehr als class, mehr als sexuality, mehr als handicap geben müsste. Die Antwort vieler „Diversity“-Trainings ist: es gibt gender und race und class und sexuality und handicap. Dies ist einerseits theoretisch (und erst recht empirisch; wenn wir beispielsweise an uns selbst hinunterschauen) wenig überzeugend. Die aufsummierten Differenzen sind praktisch auch kaum vermittelbar (wer sich je einmal mit Normalitätskonstruktionen auf der Ebene von Gesundheit/Körper beschäftigt hat, weiß, wie viel es da zu lernen und auf eigene Erfahrungen reflexiv zu beziehen gibt; und Geschlechterverhältnisse und die eigene Position in ihnen und rassistische Verhältnisse und die eigene Position in diesen Verhältnissen ....). Viele Angebote unter dem Etikett „Diversity“ gehen den theoretischen Problemen und praktischen Fragen, die mit dem Versuch, die Vielfalt gesellschaftlicher Dominanz- und Differenzlinien in ihrer Verschränktheit zu begreifen, eher aus dem Weg und setzen auf bekannte Angebote, zumeist mit dem Schwerpunkt „gender“ oder „interkulturell“. Dies heißt auch: Diejenigen, die sich auf dem Bildungsmarkt schon seit längerem tummeln, haben mit dem Etikett „Diversity“ ihre Zugangsmöglichkeiten und Marktstellung bewahren können. Aufschlussreich wäre es, die „Diversity“-Programmatik einmal auf die „Diversity“-Praxis anzuwenden und zu fragen, wie viel Diversität die Angebotstruktur, aber auch die Anbieter und Anbieterinnen tatsächlich aufweisen.

(3): Was sind die Effekte von „Diversity“? In „Diversity“-Ansätzen wird Vielfalt als Ressource bezeichnet, auch um diese Ressource ökonomisch oder sozial zu nutzen.  Die entscheidende Frage aber ist, für wen „Diversity“ eine Ressource darstellt.  Mit Bezug auf migrationsgesellschaftliche Unterscheidungen lässt sich beispielsweise beobachten, dass die Praxis „Diversity“ es Mehrheitsangehörigen ermöglicht, den Diskurs um Differenz für das eigene berufliche Fortkommen zu nutzen und formelle und informelle Privilegien gegenüber Minoritätsangehörigen nunmehr auch auf dem Feld professioneller Differenzpraxis auszuspielen. Bezogen auf das „Managing Diversity“ kann man feststellen, dass durch entsprechende Ansätze einerseits eine gezieltere Rekrutierung des „Humankapitals“, andererseits die effizientere Abschöpfung menschlicher Leistungspotenziale möglich wird: wer nicht diskriminiert wird, arbeitet besser, und Schwarze Mitarbeiterinnen sprechen Schwarze Kundinnen profitabeler an: difference sells.  Sobald nun der Unterschied nicht (mehr) Gewinn bringend eingesetzt werden kann, gerät er – dies ist im Rahmen der ökonomistischen Logik notwendig - aus dem Blick des „Managing Business“.

Es sind somit im Wesentlichen drei Machtmomente, die mit der Praxis „Diversity“ und der mit ihr verbundenen Achtsamkeit für Differenzen einhergehen:

  • das fixierende Identitätsdenken wird nicht überwunden, sondern vervielfältigt,
  • der Zugang zum Bildungsmarkt ist durch komplexe Verhältnisse der Ungleichheit (z.B. Sprache, Qualifikationszertifikate, soziale Netzwerke, physiognomisches Kapital) strukturiert, „Diversity“-Angebote tendieren dazu, diese Struktur zu bekräftigen, was auch auf die Inhalte und die Art und Weise der Angebote, gleichsam nach „innen“ wirkt,
  •  immer da, wo „Diversity“ eingesetzt wird, um bestimmte organisatorische Abläufe zu verbessern, dort wo es als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, ordnet sich „Diversity“ der Logik anderer Zweckkalküle unter.

Die Momente der Identitätsfixierung, der Marktlogik und der Differenzinstrumentalisierung  weisen auf das machtvolle Potenzial des „Diversity“-Ansatzes hin. Macht beschränkt sich nicht auf explizite Formen der Ausübung und Anwendung von Gewalt und Zwang. Die Macht, die von „Diversity“ ausgeht, ist produktiv, weil sie Selbstverständnisse und soziale Praxen konstituiert – eher unmerklich und mit großer Anteilnahme der Beteiligten (wie in Bildungszusammenhängen, in denen man sich als weiße heterosexuelle Frau, die aus einem quasi-akademischen Milieu stammt (er)kennen und kommunizieren lernt) oder eher offensichtlich und instrumentell (wie in großen Firmen, die schwarze Mitarbeiter einstellen, um eine schwarze Kundschaft anzusprechen). Die  Macht der Differenz-Diskurse, zu denen „Diversity“ zu rechnen ist, ist den Individuen nicht äußerlich, sie gestaltet die Individuen vielmehr, macht aus ihnen Subjekte.

Aus den skizzierten Zusammenhängen folgt gerade für Bildungszusammenhänge, dass es sinnvoll ist, die Machteffekte des eigenen Tuns zu thematisieren. Es geht zum Beispiel darum, dafür eine  Sensibilität zu entwickeln und darüber ein Wissen zu kultivieren, wo durch diversity-orientierte Ansätze Festlegungen,  multiple Festlegungen (aber das macht die Festlegung nicht besser) auf der Ebene von Identität und Differenz verbunden sind. Ein Qualitätsausweis von Diversity-Angeboten im Bildungsbereich sollte darin bestehen, dass sie die Frage, wer von ihren Angeboten auf der Ebene der Anbieter/innen und auf der Ebene der Adressat/inn/en einen Gewinn erzielt, sehr genau nachgehen. Welche machtvollen Ausschlüsse und welche machtvollen Festlegungen werden durch „Diversity“ produziert?

Dies sollte die Leitfrage reflexiven „Diversity“-Denkens auch und gerade in Bildungszusammenhängen sein. Es geht also darum, die Macht, die durch Ignorieren und durch Zurückweisung wirkt ebenso zu beachten wie jene Macht, die im identifizierenden Einbezug  zur Geltung kommt. Wie könnte – dies scheint mir eine zentrale Frage für Bildungsangebote zu sein, die auf Differenz rekurrieren  - an den Orten, an denen die Praxis „Diversity“ eine Rolle spielt, eine kommunikative Berücksichtigung von Differenz und Identität, von Fremdheit und Anderssein möglich sein, die dominante Differenzschemata nicht so relevant setzt, dass man gezwungen oder verführt wird, sich in diesen Schemata darzustellen, und einem und einer zugleich die Freiheit gewährt wird, sich in diesen Schemata zu artikulieren?

Erst wenn die Kritik an den Machtwirkungen von „Diversity“ ernst genommen und auf die eigene Praxis bezogen wird, wenn also die Frage gestellt wird, wer von „Diversity“ wie profitiert und wer durch den „Diversity“-Einbezug auf Identitätspositionen festgelegt oder gar in einer eher inferioren Position bestätigt wird, kann „Diversity“ etwas anderes sein als die raffinierte Fortsetzung von Machtverhältnissen mit auf den ersten Blick „irgendwie achtbar“ wirkenden Mitteln.

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Paul Mecheril ist Hochschuldozent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. 2006 erschien sein Buch "Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule ".