Die Gleichen und die Anderen

Die Gleichen und die Anderen – Vermessung der Kampfzone am heimischen Computer: unter diesem Titel untersucht Arne Vogelgesang für Heimatkunde das Thema „Evil Campaigning im Netz“ in einem literarischen Essay. Dabei zeichnet er auch den Arbeitsprozess seiner Perfomance ANDERS nach, in der er sich mit dem norwegischen Attentäter Anders Breivik auseinandersetzt.

 

يُرْسَلُ عَلَيْكُمَا شُوَاظٌ مِنْ نَارٍ وَنُحَاسٌ فَلَا تَنْتَصِرَانِ

Verfassen eines Artikels zum Thema „Evil Campaigning im Netz“: Diesen Auftrag verzeichnet der Vertrag, den ich soeben unterschrieben habe. Ich sitze alleine zuhause vor meinem Rechner und höre eine Koranrezitation von Qari Abdul Basit. Die Wand links von mir bedeckt eine Collage aus fan-art-Bildchen eines adretten norwegischen lone-wolf-Terroristen. Auf dem Boden darunter Muskelaufbaupräparate, Testosteronkapseln, eine Soft-Air-Pumpgun, Stapel ausgedruckter Pamphlete und Manifeste, ein Netzlaufwerk mit katalogisierten und archivierten Propagandavideos. Seit einem halben Jahr esse ich kein Schweinefleisch, trinke keinen Alkohol; mein sexueller Appetit ist nahezu verschwunden. Ich bin kein Wissenschaftler, ich bin kein Journalist, und auch, wenn ich die Sprechweisen dieser Berufsgruppen nachahmen könnte, will ich es angesichts meines Themas aus politischen Gründen nicht tun. „Evil Campaigning“, diesen Begriff habe ich dieses Jahr zum ersten Mal gehört und stelle mir seine Erfinder und Verwender als glückliche Menschen vor. Wer anders als die Guten kann das Böse erkennen? Wer stünde nicht gerne auf ihrer Seite? Ein Netz aber hat keine Seiten und meine Suche nach dem Feind ist ein Vexierspiel geworden.

Echtzeit
Seit dem Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts bin ich mit dem Internet verbunden, einer gigantischen globalen Erweiterung meines kognitiven Systems. Über eine wachsende Anzahl von Schnittstellen ist dieses Datennetzwerk mit meinem Körper und meinem Leben verbunden – meinem Alltag, meinem Gedächtnis, meinen Beziehungen, meinen Wahrnehmungen, meinen Affekten. Was „im Netz“ ist, ist in der Welt. Als Jugendlicher habe ich gehört, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings auf einer deutschen Wiese einen Sack Reis  in China umfallen lassen könne. Mittlerweile weiß ich, dass ein chinesischer Sack Reis, wenn sein Fall nur genug Leute im Netz interessiert, mir schnell Schmetterlinge im Bauch machen kann – oder besser: das Bild des Sacks, das Reden über seinen Fall, das Video, das seinen Aufprall dokumentiert. Das Internet ist eine gigantische Vervielfältigungsmaschine, eine virtuell unendliche soziokulturelle Echokammer, und ich bin einer ihrer Millionen Resonanzkörper.

Zum ersten Mal bewusst wird mir das im September 2001, als ich stundenlang die Loops einstürzender Hochhäuser in New York sehe, wo ich noch nie gewesen bin, der Bildschirm die Netzhaut meiner Imagination, in die ein Flugzeug ums andere fliegt: eine ins Endlose gedehnte, im Moment ihrer Übermittlung bereits zu ewiger Wiedervorlage verdammte Katastrophenkopie in Echtzeit. Fasziniert davon, was angesichts dieser Bilder mit mir geschieht, schreibe ich in Echtzeit in mein Weblog, jenes damals noch neue digitale Befindlichkeitsdiktiergerät, und eine wildfremde Frau beschimpft mich online und in Echtzeit als Psychopathen, weil meine Beschreibung nicht zum Ausdruck bringt, was in diesem Moment in meiner Gesellschaft schon consensus communis geworden ist und es angesichts der Gewalt gegen (westliches) Leben bleiben soll: Bestürzung über das Unfassbare, Empathie mit den Opfern, Verurteilung der Tat und ihrer Täter. Vielen ist es ein Bedürfnis, dies auch mit Gleichgesinnten öffentlich zu demonstrieren. Andernorts gehen die Menschen auf die Straßen und feiern den spektakulär gelungenen Angriff auf den Feind. Ich aber habe nur die ultimative Kondensation Hollywoodscher Katastrophenästhetik gesehen, die Gewalt stürzt in meinen Körper als ästhetischer Schauder. Meine Empathie gilt den Bildern, nicht den Menschen, die auf ihnen und durch sie rennen oder pixelklein aus einem Fenster gen Boden fallen. Die Menschen sind virtuell. Die Bilder sind real. Ich bin nicht der Einzige, dem es so geht.

Ich und Anders
Fast zehn Jahre später, am Nachmittag des 22. Juli 2011, explodiert im Osloer Regierungsviertel eine Bombe, die mehrere Gebäude beschädigt und acht Menschen das Leben kostet. Einige Stunden später streift ein bewaffneter Mann durch ein Sommercamp auf der Insel Utøya und erschießt den Großteil der anwesenden Jugendlichen und Erwachsenen – insgesamt 68 Menschen. Ich habe mittlerweile gelernt, welche Reaktionen auf mediatisierte Dramen und Tragödien von einem gesunden Menschenverstand erwartet werden und welche Les- und Interpretationsarten die in Medienketten verschachtelten Inszenierungen dieser Ereignisse gewöhnlich begleiten. Zu dem Wort Terror gehört, das habe ich gelernt, im 21. Jahrhundert das Bild bärtiger, kalaschnikow- oder messerschwingender Bombengürtelträger, die unsere Werte und unsere Kultur und unsere Freiheit verachten und zerstören wollen, weil Gott größer ist. Der Feind, das habe ich gelernt, ist anders als ich: nicht weiß, nicht zivilisiert, nicht integriert. Die klare Unterscheidung macht es einfacher zu wissen, auf welcher Seite man steht, denn Empathie, das habe ich gelernt, gilt im Zweifelsfall immer jenen, welchen man mehr zu ähneln glaubt: den Gleichen. Identifikation von Freund auf der einen und Feind auf der anderen Seite ist die Brücke zwischen Bildern und dem eigenen abstrakten Mitgefühl. Ich bin betroffen und erwarte die Lieferung der Bilder des Täters.

Doch der Angreifer in Norwegen, das macht seine Identifizierung durch die Polizei und dann die Medien klar, geht in dieser Logik nicht auf. Er ist ein weißer, nordeuropäischer, bürgerlicher Mann Mitte 30, ein adretter, kontrollierter Einzelgänger mit einer Schwäche für Computerspiele und logische Genauigkeit. Anders B. ist, kurz gesagt, wie ich. Meine angelernte Medienempathie versagt wieder, ich habe ein Identifikationsproblem, und das interessiert mich. Also beginne ich zu recherchieren. Ich lese B.s Mammutwerk „2083“, Kern seiner Arbeit, den der selbsterklärte Autor mit Trailer, Emailversand und letztlich auch seinen Anschlägen und dem folgenden Gerichtsprozess planmäßig vermarktet hat. Ich lese, auf wen er sich beruft. Ich lese es auf englisch, bald lese ich weiter auf deutsch. Ich lese Kommentarschwälle in den Online-Ausgaben der deutschen Zeitungen, auf Facebook, auf Twitter und bald vor allem in den Foren der deutschen Szene der Counterjihadisten, von deren Existenz ich bis dahin nichts gewusst habe. Ich atme die giftige Atmosphäre auf „Politically Incorrect“, der „Grünen Pest“, dem „Open Speech“-Forum, dem „Netzplanet“, der „Blauen Narzisse“ und „Compact“. Ich sehe, wie die deutsche Polizei einige Wochen später aus einem ausgebrannten Wohnmobil den NSU an die deutsche Öffentlichkeit zieht und den Verfassungsschutz hinterher. Ich lese Michael „Mannheimer“ M.s Aufruf zum Widerstand gegen die Regierung und sehe Michael „Stürzi“ S. mit einer Gruppe aufrechter Biodeutscher in Stockholm stehen und „No Surrender“ rufen, ich lese Ilona „Kybeline“ S.s Invektiven gegen die muslimische Überfremdungsschwemme und sehe Heidi M. auf Youtube ein ums andere Mal Deutschland wachrufen, ich les Thilo S., Necla K., Akif P., Heinz B., Hamed A.-S., Matthias M. und Henryk M. B. Ich folge der „Achse des Guten“ von den angeblichen Rändern der Gesellschaft bis in ihr Herz. Hallo Deutschland! Doch wer ist der Feind?

Ich und die Jungs
Im Frühjahr 2013 verbrennt Mohamed M. seinen Pass. Kalaschnikow über der Schulter, Plastik-Clogs an den Füßen und Kufiya auf dem Kopf, etwas nervös von einem Bein auf das andere tretend in einer Ruine in Libyen oder der Türkei, hält er für die Kamera eine Rede, in der er seine „Lossagung von der österreichischen Staatsbürgerschaft“ und den westlichen „aidsverseuchten Gesellschaften“ den Krieg erklärt. Danach zerreißt er in mühevoller Kleinarbeit das Büchlein mit dem Doppeladler und verbrennt die Schnipsel.

Abu Usama Al-Gharib: Die Staatsbürgerschaft der Kreuzzügler ist unter meinen Füssen (2013)

Überblendet von Explosionseffekten und Maschinengewehr-Feuer, sehe ich erneut die Flugzeuge von 2001 in die Türme des World Trade Centers fliegen und Menschen auf der Straße davonrennen. Das postpolitische Gedächtnis wird regiert vom Terror des Flashbacks. Ich sehe die zerfetzten Züge von Madrid, ich sehe M.s Freund Denis C. unter Touristen auf dem Stephansplatz den Dom anschauen und erinnere mich an meine Studienzeit in Wien, ich sehe den Pass brennen, ich höre M.s Ankündigung, „wir“ oder „unsere Kinder“ würden „dieses Feuer in Eure Länder tragen“, und ihn dann vom Sterben sprechen mit einer sich überschlagenden Stimme, die klingt, als wäre er nie ganz aus dem Stimmbruch gekommen. Abu Usama al-Gharib („der Fremde“), wie M. sich nennt, war 2011 nach seiner Entlassung aus dem österreichischen Gefängnis nach Deutschland gekommen. Einige Monate nach B.s Anschlag in Norwegen gründete er mit C., dem mittlerweile zum deutschen Vorzeigejihadisten avancierten Ex-Rapper, die Millatu Ibrāhīm – erst als Website, dann als Hinterhofmoschee in Solingen. Die Millatu-Videos und die Publikationen von Abu Usamas Globaler Islamischer Medienfront (GIMF) sind meine „Einstiegsdrogen“ in die Szene.

So wie die Islamhasser sich als ganz normale deutsche Bürger sehen, als Volkes erwachte Stimme, betrachten sich „die Jungs“, wie ich sie halb herablassend, halb zärtlich bei mir nenne, als ganz normale Muslime, die lediglich ihre Pflicht erkannt haben. In den ersten Sekunden von Abu Usamas bombastischem Passverbrennungsvideo drängt eine Stimme über anschwellender Musik: „Wacht auf, wacht auf!“ Michael M., der den verallgemeinerten Michel mit genau den gleichen Argumenten zur Revolution ruft, mit denen Anders B. seine politische Praxis begründet hat, leitet sein Pflichtbewusstsein in neurechter Rekuperationsmanie nicht nur aus dem Grundgesetz ab, sondern auch von Bert Brecht. Ich drehe und wende den blinden deutschen Spiegel: Vorne wie hinten ein Computerscreen mit Zugriff aufs historische Archiv. Und ich sitze zuhause vor dem Rechner und studiere. Ich lese, was die in einem Zeugenschutzprogramm zum Verschwinden gebrachte erste Frau von Reda S. über den Jihad in Bosnien in den 90ern schreibt in einem Taschenbuch, dem der Verlag in seiner Programmschiene neo-exotischer Frauenliteratur einen vielsagenden Einband verpasst hat. Ich sehe auf Youtube Bekkay H. die al-Qaida mittels einer Kurvendiskussion erklären und höre ihn versprechen, dass Kiel vom heiligen Krieg verschont werden wird. Ich sehe Hasan K. 2012 in Solingen fisabilillah Fußball spielen und höre ihn 2014 nach mehr Männlichkeit rufen. Ich höre ihn und Mohamed M. sich auch mit Hassan D. aus Leipzig erbitterte Youtube-Video-Battles liefern: D. ist als puristischer Salafist  gegen eine politische Einmischung der Muslime und beschimpft M. und die Millatu Ibrāhīm als Hetzer und Verführer der Jugend. Die Jungs kontern mit Spott und werfen D. fehlende Wissenschaftlichkeit vor.

Millatu Ibrahim: Training mit dem Fussball! (2012)

Wissen und Wissenschaft sind wichtige Stichworte in der Szene und meinen den Beleg der eigenen Wut mit Suren, Hadithen und Fatāwā. Doch von den Konflikten innerhalb der muslimischen Gemeinschaft oder gar den verschiedenen salafistischen Strömungen bekommt die „deutsche Öffentlichkeit“ nichts mit, deren Aufmerksamkeit den jeweiligen Verfassungsschutzverlautbarungen folgt. Und auch ich sehe lieber Denis C. mit Schneebällen werfen, Robert B. mit erhobenem Zeigefinger am MG stehen, höre Mounir C. die Mujahideen für die vernünftigsten Wesen des Planeten halten und Oliver N. mich zum Schlachten einladen. Diese Bilder und Texte sind einfacher, sie geben Gut oder Böse ein Gesicht – je nach Perspektive. Ihre Adressierungen bringen mir auch mehr und mehr Aufklärung über meine ursprüngliche Frage: Wer ist der Feind?

Ich und Ich
Straßenschlachten und wechselnde Attentate zwischen den militanten Vorkämpfern der Scharia und den Verteidigern des Abendlandes gegen die anbrandenden muslimischen Horden sind in Deutschland bislang eher die Ausnahme. Kufr und Shirk sind die Dämonen des neoliberalen Integrationsimperialismus, der im Homeland den Frauen das Kopftuch abreißen will, während seine Drohnen auf der anderen Seite der Erdkugel die Rechtgläubigen bombardieren. Anders B. war nicht schießend durch Holmlia oder Grønland gezogen, sondern griff den Nachwuchs der regierenden Sozialdemokratie an. In seiner „Unabhängigkeitserklärung“ spielt er gar ein Zweckbündnis durch, in dem Tempelritter sich als Beweis ihrer politische Identität freiwillig kastrieren lassen würden, um von Mujahideen Atomwaffen kaufen zu können, denn schließlich wären weiße Europäer wegen ihres Aussehens leichter in der Lage – so viel systemischen Rassismus gesteht er dem verhassten Multikulturalismus zu –, sie in einer europäischen Hauptstadt auch zu zünden. Es gibt Gegner, es gibt Feinde, und es gibt das Schreckgespenst der ganz Anderen. Bei B. heißen die Feinde Kulturmarxisten. In der deutschen Szene nennt man sie links-grün versiffte Gutmenschen. Ich habe gelernt: Der Feind bin ich.

Die Integrationsklone sind immer schon da: EU Enlargement Ad (2012)

Wie werde ich mich im kommenden Bürgerkrieg schlagen? Für abendländische Ritter und die Krieger des Jihad ist jemand wie ich ein Weichei und Verräter: jemand, der seine politische Potenz und Gewaltbereitschaft an einen korrupten desintegrierenden Staat und seine propagandistische Medienmaschinerie abgegeben hat. Das kann man schon so sehen, denke ich. Wer aber bin ich für solche wie ich? Ich lese Verfassungsschutzberichte und Gesetzentwürfe zur Überwachungsverstärkung, ihre Kritik und die Kritik ihrer Kritik. Ich höre die verschiedenen journalistischen Experten, von denen mir nicht wenige wie Verlängerungen des Verfassungsschutzes vorkommen. Ich sehe europäische Identität in einem Werbetrailer zur EU-Osterweiterung als Klonprojekt beworben, ich sehe Bilder der europäischen Außengrenzen, ich sehe Andi und seine Freunde auf dem Boden der FdGO die Extremismustheorie üben. Ich sehe an der Islamkonferenz, wie sich mit einer Handvoll Jihadisten demokratiepolitisch Druck auf die deutschen Muslime machen lässt. Ich sehe HoGeSa, Pegida und die zugehörigen Eiertänze. Ich sehe plötzlich alle Charlie werden und so den Begriff von Solidarität in Identifizierung auflösen. „Wir“ ist eine ständige Frontlinie, und „ich“ bin es auch. Die wehrhafte Demokratie mit Klonideal erzeugt ihre extremistischen Bedrohungen ebenso, wie an radikaler Haltlosigkeit Leidende durch Des-Integration und Selbstreinigung zu einem gesunden, kämpferischen Weltbild finden, in dem Gut und Schlecht und Richtig und Falsch wieder als glasklare Orientierungsmarken aufscheinen. Ich lerne: In dieser Win-Win-Situation sich verstärkender Radikalisierung werde ich das Opfer spielen müssen, wenn ich nicht beizeiten etwas unternehme. Im exklusiven weltoffenen Freundeskreis über einem Teller Hummus die eigene Toleranz beschwören, wird im kommenden Bürgerkrieg nicht reichen. Also greife ich zur kulturellen Hauptwaffe kapitalistischer Demokratie: der Integration.

Integration 2.0
Um Deutscher zu sein, reicht es nicht aus, sich mit der deutschen Bürgerschaft zu identifizieren. Man muss auch von dieser Bürgerschaft als Gleicher identifizierbar sein. Wer hier lebt, muss sich anpassen, habe ich gelernt. Oder, wie es ein Kommentar auf „Politically Incorrect“ in einem  angeschwollenen Bocksgesang formuliert, der die Minderwertigkeit türkischer Kultur (wo schließlich sind die türkischen Operetten?) nachweisen soll: Integration ist eine Bringschuld. Als Kulturmarxist fühle ich mich gleich selbst schuldig und denke: Wenn Integration keine Einbahnstraße sein soll, muss ich selbst mit anpacken. Wenn immer mehr Bürger aus der Mitte der Gesellschaft fliehen, als hätte sie sich in eine große Zentrifuge verwandelt, in der es stetig wachsender Anstrengung bedarf, um nicht an den Rand gedrückt zu werden, dann muss die Zivilgesellschaft eben ihre Grenzen erweitern. Die kulturellen clone wars machen jeden lifestyle zur vir¬tuellen Kommunikationsguerilla. Bürger, schwärmt aus, kopiert, stürmt die Barrikaden des Extremismus¬modells! „Ich“ bin das Kollektivsubjekt der Zukunft. So beginne ich mit meiner persönlichen Hipster-Variante der vielbeschworenen blitzschnellen Internet-Radikalisierung.

Von Anders B. lerne ich die konsequente Politisierung all dessen, was ich als guter Bürger der Neuen Mitte eigentlich sowieso schon tue: Projektmanagement und Selbstmotivation für die gute Sache, körperliches Workout zur Steigerung der Kampfbereitschaft, Computerspiele als Freund-Feind-Schießübungen und pseudopolitische Theoretisierung der eigenen Ohnmacht zur Aufpäppelung meines dauergekränkten postmoder¬nen Egos. Die andere Hälfte meines Programms finde ich in der posthum im Netz veröffentlichten Autobiographie von Eric B. alias Abdulghaffar al-Almani, jenem deutschen Konvertiten, den als Mitglied der „Deutschen Taliban Mujahideen“ schon vor Anders' Märtyeroperation eine US-Drohne erlegt hatte. Eric beschreibt in „Mein Weg nach Jannah“ in anrührend einfacher Sprache den Prozess von seiner ersten Begegnung mit einem muslimischen Kollegen beim Kistenstapeln bis zum Raketenschießen auf eine Basis der Kuffar in den Bergen Afghanistans. Seine Biographie ist für mich das Gegenstück jener spektakulären Bilder von 9/11. Nirgends besser als in ihr verstehe ich, welch ein Glück es bedeuten könnte, endlich klar und einfach erklärt zu bekommen, was warum zu tun und zu lassen ist, dem eigenen Leben damit einen Zweck und einen Sinn geben zu können, und das heißt auch: endlich das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden. Dieses Gefühl durch Taten nähren zu können.

Ästhetik des Widerstands
In der Zeit meines Studiums beobachte ich fasziniert, wie die Propaganda der Mujahideen sich entwickelt. War es der deutschen Medienöffentlichkeit vor einigen Jahren noch möglich, sich über die seltsamen Botschaften von Bekkay H. – dem ersten Abu Talha al-Almani – lustig zu machen, kommt nach dem Treueschwur von Denis C. – dem zweiten Abu Talha al-Almani – an den „Islamischen Staat“ keine Heiterkeit unter den Kuffar mehr auf. Bald täglich erscheinen neue Videos mit Interviews, Gesängen, Kriegsberichten und dokumentierten Massenhinrichtungen – in Full HD, kontrastreichen Farben und effektreichem Ton. Die verschiedenen Abteilungen für Public Relations dokumentieren neben dem routiniertem Einsatz von embedded journalists vor allem den unbedingten Willen zur inszenatorischen Überhöhung des Kampfes und ein beunruhigend vertrautes Gespür für ästhetische Ironie. Denis zieht in einem Trailer mit dem Titel „Urlaubsgrüße“ mit einem Trupp Mujahideen durch eine Waldlandschaft, die auch irgendwo in Brandenburg liegen könnte. Der jordanische Pilot Muʿādh al-Kasāsba ist Hauptdarsteller im Film seiner eigenen Hinrichtung: Zeuge vor einem Kamera-Tribunal, das sein Gesicht nach ästhetischem Belieben in Pixelwolken auflöst und neu zusammensetzt, umgeben von Videospiel-Animationen, die Luftwaffenstütz¬punkte, Angriffsrouten und Bilder bei Angriffen getöteter Kinder zeigen, bevor er durch ein Amphitheater stummer Gotteskrieger zum Käfig seiner Verbrennung schreitet. Gefangene in orangenen Overalls werde in langer Reihe an der Küste des Meeres aufgeführt, jeder von einem maskierten Kämpfer, nach der erklärenden Ansprache simultan zu Boden geworfen und das gurgelnde Schreien beim ebenso simultanen Durchschneiden ihrer Kehlen bis zur Unerträglichkeit plastisch verstärkt. Der als Geisel gehaltene Journalist John Cantlie kritisiert in einer Reihe von Videos die westliche Kriegsführung gegen die islamische Welt in freier eloquenter Rede, immer mit Bezug zu aktuellen Ereignissen, und jedes Video wird mit einem Titelbild veröffentlicht, das die Nummer der Folge in einer Serie von 8 Videos anzeigt, wodurch unweigerlich jenes Cliffhanger-Gefühl entsteht, das die Zielgruppe von westlichen Fernsehserien so gut kennt. Cantlie führt die Zuschauer auch in einer dreiteiligen propagandistischen Doku-Serie durch Kobane, Mossul und Aleppo, so frei und selbstverständlich, dass ich nicht sicher sein kann, ob er am Ende seiner Botschaften, nach der achten Folge, seinen Treueeid auf den IS schwören oder enthauptet werden wird.

Al Furqan Media: Heilung der Brüste der Gläubigen (2015)

Diese Propagandamaschinerie wird unterstützt von professionell gestalteten farbigen Periodika – mittlerweile existieren allein für Deutsche drei verschiedenen Propagandamagazine – mit Reportagen, Merksprüchen, Interviews, Fotostrecken, Pressespiegeln, Seiten nur für Frauen und Bombenbauanleitungen. Dazu kommen einzeln veröffentlichte Texte zur Rechtleitung der Gläubigen, stets mit individuell und bunt gestaltetem Titelblatt. All dies wird verteilt und diskutiert durch ein Netzwerk aus Onlineforen, Twitteraccounts und Weblogs. In diesem Netz bekomme ich auch einen Eindruck von den verschiedenen Fraktionen innerhalb der jihadistischen Szene und den gegenseitigen Anschuldigungen, Geld und Technologie durch westliche Geheimdienste zu erwerben. Für mich als Außenstehenden ist unerkennbar, ob die dezidiert „westliche“ Qualität der für eine „westliche“ Zielgruppe produzierten jihadistischen Propaganda Ausdruck internationalisierten Kampfes und des Zustroms ausgebildeter Kämpfer, strategische kulturelle Ironie oder Ergebnis geheimdienstlicher Steuerung ist – wahrscheinlich ist alles wahr. Dem Widerschein eines massiven globalen Konfliktes auch im deutschen Netz ist aber entgegenzuhalten, dass die Szene erkennbar klein ist, die Zahl der Aktivisten überschaubar.

Demgegenüber sind die Leserkommentarbereiche der Onlineausgaben fast aller deutschen Tageszeitungen fest in der Hand eines islamfeindlichen deutschen Mobs, der seinen Vernichtungswillen dort mit einer Energie und Insistenz verschriftlicht, dass die wenigen hilflosen Gegenstimmen im Hass förmlich erstickt werden. Dort wird ein Brodeln in der deutschen Identitätssuppe spürbar, das mir jeden Tag aufs Neue klarmacht, wie furchtbar die nächsten Jahre in diesem Land und in Europa werden. Ausgefeilte Ästhetik ist dafür nicht nötig, solange die  Grundprinzipien argumentativer Rekuperation und Feind-Freund-Umkehr aus dem Effeff beherrscht werden – die jahrelange zähe Arbeit der Aktivisten trägt seit einiger Zeit erkennbar Früchte in der Nation. Zu den geschulten Islam- gesellen sich die selbsternannten Asyl- und die Staatskritiker, also Nazis und besorgte (Reichs)bürger, die sich auch praktisch endlich (wieder) bereit fühlen, Sturm und Feuer dorthin zu tragen, wo sie den Feind sehen – in die Flüchtlingsunterkünfte und vor den Reichstag. Wenn ich es der Zivilgesellschaft kurz und bündig sagen sollte: Die größte Gefahr in Deutschland sind die Deutschen.

Mobilmachung
Was also tun? Alle, die da kämpfen an den Fronten der Bürgerschaft, tun es für die gute, die richtige Sache. Mehr oder minder gläubige Anhänger wehrhafter Demokratie erkennen ihre praktische Kampfposition in theoretisch anerkannter Komplexität dagegen ex negativo: Es ist alles nicht so einfach, und weil man selbst das aushält, gehört man zu den Guten. Damit Gutmenschen wie ich, die sich so und anders die eigene gesellschaftliche Ohnmacht zur Tugend der Gewaltlosigkeit zurechtdichten, auch ihr identitäres Abgrenzungsbedürfnis befriedigen können, fördert der Staatsschutz die Feinde der Demokratie zum Steuerungsinstrument zurecht, denn in dem Maße, in dem repräsentative bürgerliche Politik sich im technokratischen Krisenmanagement postnationaler Sachzwang-Environments auflöst, muss mehr Bewegung ins „politische“ Feld kommen. Rund um den NSU entpuppen sich Neonazi-Netzwerke als eine Art staatliche Förderlandschaft, was zuvorderst wegen der tatsächlichen Opfer des zum Schutze der deutschen Verfassung gedeckten rassistischen Terrors grauenvoll ist. Auf der anderen Seite lässt sich etwa mit der Sauerland-Gruppe eine jihadistische Bedrohung vor Gericht stellen, die nicht nur unter Beobachtung und Kontrolle des deutschen Staatsschutzes und der CIA wie in einer Petrischale aufwachsen durfte, sondern deren vorgebliches internationales Drahtziehernetzwerk auch nur von einem Geheimdienst im Dienste nationaler Politik gegründet wurde – in diesem Fall dem usbekischen. Neben all den undurchsichtigen Zwecken, die derartiges Realtheater im Rahmen globaler und nationaler Politiken verfolgt, stellt es auch die theoretischen Bedrohungsszenarien kybernetischer Postdemokratie ihren Bürgerinnen und Bürgern anschaulich dar.

Ich bin in diesem Theater nicht nur, wie oft betont wird, ein potentieller Terrorist, ich bin auch ein potentieller Verfassungsschützer. Wer erkennt in der kommenden Gesellschaft im Zweifelsfall schon den Unterschied? Je willfähriger ich meine psychischen Mangelerscheinungen politisch zu kompensieren versuche, desto leichter bin ich operationalisierbar. Widerstand ist zwar selten zwecklos, aber ich habe über seinen Zweck so viel oder wenig Macht wie über mein eigenes Leben. Ich bin nur Teil der Bewegung, nicht ihr Anfang, nicht ihr Ende. Je mehr ich mich mobilisiere, desto deutlicher spüre ich die Ohnmacht, die mein Handeln bekämpfen soll, desto größer wird meine Wut. Aus der Ahnung unerfüllbarer Sehnsucht führt die Flucht folgerichtig in den Tod, der in der Märtyreroperation zu seinem politischen Sinn und Zweck kommt. Der Tod ist die Pointe terroristisch gesteigerter Lebensqualität. Nie, gibt Anders B. in seinem Logbuch zu Protokoll, habe er sich so gut gefühlt wie in den letzten Wochen höchster Aktivität vor seinen Anschlägen. Tod den Feinden, Tod mir selbst – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Ein Körper
Wenn das aktuelle Bild gelingender Integration die Auflösung des Feindes im uniformem Pluralismus europäischer Festungsidentität ist, das Unsichtbarmachen seines Körpers in der Alltagschoreographie ständiger Selbstklonung, so begegnen die Helden der Desintegration dieser Zumutung mit Techniken körperlicher Selbstermächtigung. Anders B. in der Ritteruniform, in der schusssicheren Weste, im antrainierten Muskelpanzer, ist peinlich auf die Kontrolle der Bilder von sich bedacht. Als virtuelles Leitbild der neuen europäischen Rechten muss der Knight Commander den künftigen erwachten Volkskörper repräsentieren. Er sagt zu seinem Publikum: Seht her, ich bin wie ihr, und das heißt: auch ihr könnt werden wie ich. Das bedeutet auch, dass er sich nicht zu sehr von seinen Feinden unterscheiden darf: Die Neue Rechte ist die Neuere Mitte. Die alte Neue Mitte sitzt vor den Gerichtsbildern von Anders B. oder Beate Z. und rätselt, warum ihre radikalen Repräsentanten ihr so ähnlich sehen, also so normal. Dabei ähnelt die Banalität des Bösen der Banalität des Guten nicht aus Zufall – es ist schlicht die gleiche. Deswegen muss ich auch nicht viel tun, um mich wie Anders zu fühlen. Fitness genügt.

Dem weißen Körper im „Europa der Nationen“ oder auf der kulturalistisch gelagerten „Achse des [demokratischen] Guten“ steht der Körper der Umma al-islāmīya als multiethnisches und inklusives Projekt entgegen. Was ihn zusammenhalten soll, ist der vereinende Glaube, das Versprechen der Missionare in den Einkaufszonen westdeutscher Städte: Sprich die Shahāda und Du bist in Echtzeit Teil einer weltumspannenden Familie. In den meisten Fällen bist Du dann ein Bruder, denn hier wie dort ist der kämpfende Körper vorzugsweise männlich. Er reckt den Finger in die Höhe oder die Faust, er verspritzt Lobpreisungen, Hassreden und Kugeln. Und doch ist es nicht der gleiche Körper: Ich sehe die Mujahideen lachen, weinen und sich umarmen, und ihr Lächeln verspricht mir ein neues Leben, in dem der Verzicht auf die falschen Freuden der Dunya nicht nur mit dem Glauben an die wahren Freuden des Paradieses aufgewogen wird, sondern mit der emotionalen und sinnlichen Fülle einer Gemeinschaft, die das Leben feiert und tötet, tötet und feiert. In den Propagandavideos des Islamischen Staates stehen rührende Gläubigkeit, persönliche Bekenntnisse, enthusiastische Feiern der Waffen und zelebrierte Akte äußerster Gewalt unvermittelt nebeneinander. Sie widersprechen sich nicht: Allah ist der große Vermittler. Wenn ich mir dagegen die deutschen und europäischen Counterjihadisten anschaue, sehe ich unter ihrer Haut den geschlossenen Kampfverband marschieren. Das Glück des Tempelritters ist nicht teilbar. Seine Unbeweglichkeit erwächst aus der Einschränkung und Kanalisierung des eigenen Gefühlslebens, denn mangels Gott oder religiösem Vermögen muss er seinen Kampf auf den eigenen harten Willen gründen. Die Fluchtversuche des Begehrens scheitern an der eigenen Körpergrenze. Anders B. weint ein Mal vor Gericht: Als er seinen eigenen Videotrailer ansieht. Selbst sein Weinen ist geschlossen, es sind Tränen der Rührung über die ideologische Klammer des eigenen Tuns und sentimentaler Erinnerung an die Zeit des größten Glücks als Freedom Fighter mitten im Kampf: vor dem Computer, zuhause, allein.

فَبِأَيِّ آلَاءِ رَبِّكُمَا تُكَذِّبَانِ
Qari Abdul Basit singt ar-Rahmān. Die Wand links von mir bedeckt eine Collage aus fan-art-Bildchen eines adretten norwegischen lone-wolf-Terroristen. Auf dem Boden darunter Muskelaufbaupräparate, Testosteronkapseln, eine Soft-Air-Pumpgun, Stapel ausgedruckter Pamphlete und Manifeste, ein Netzlaufwerk mit katalogisierten und archivierten Propagandavideos. Seit einem halben Jahr esse ich kein Schweinefleisch, trinke keinen Alkohol; mein sexueller Appetit ist nahezu verschwunden. Ich integriere, ich desintegriere. „Evil Campaigning“, diesen Begriff habe ich dieses Jahr zum ersten Mal gehört und stelle mir seine Erfinder und Verwender als glückliche Menschen vor. Wer anders als die Guten kann das Böse erkennen? Wer stünde nicht gern auf ihrer Seite? Ein Netz aber hat keine Seiten.