Lilian Scarlet Löwenbrück hat mit der Illustratorin Tasnim Baghdadi über Identitätsbegriffe, Eigen- und Fremdzuschreibungen sowie den selektiven Zugang zur Kunst- und Kulturszene im deutschsprachigen Raum gesprochen.
Für die Ausstellung "Atelier Identity", die vom 24. Mai bis zum 13. Juni in der Heinrich-Böll-Stiftung zu sehen war, hat sich Tasnim Baghdadi gemeinsam mit den Künstlerinnen Bibizizi und Moshtari Hilal mit kulturellen Identitäten und deren Wandel auseinandergesetzt. Tasnim Baghdadi ist Illustratorin, visuelle Künstlerin und Designerin und lebt derzeit in Münster. Als studierte Kunsthistorikerin findet sie Inspiration sowohl in der traditionellen als auch der modernen Kunst, wobei sie gezielt soziale Medien als Plattform nutzt, um ihre Kunst zu teilen. Oft steht in ihren Arbeiten Gesichter, Körper und ihr Verhältnis zum Raum im Mittelpunkt, wohingegen sich die Bildsprache ihrer Darstellungen zumeist im Abstrakten und Metaphorischen bewegt. Lilian Scarlet Löwenbrück hat Tasnim Baghdadi bei der Vernissage getroffen und mit ihr gesprochen.
Lilian Scarlet Löwenbrück: Tasnim, wie sind deine Arbeiten für die Ausstellung entstanden? Mit welchen Materialien arbeitest du als Künstlerin?
Tasnim Baghdadi: Die Arbeiten sind sehr prozesshaft entstanden, so wie eigentlich oft innerhalb meiner Arbeitsweise, das heißt konkret über verschiedene Zeiträume und Phasen hinweg. Das Thema war eigentlich das einzig verbindende Element. Ich habe mich entschieden, Stil und Inhalt intuitiv zusammenkommen zu lassen und dennoch bewusst auf eine Serie hinzuarbeiten, die Bezüge zu den jeweils anderen Arbeiten erzeugt und zulässt. Materialien sind insbesondere Zeichnungen in Skizzenbüchern und auf Papier, Malerei auf Pappe und Leinwand sowie einige Linoleum Drucke. Digitale Arbeiten sind auch dabei.
Die Ausstellung steht inhaltlich unter dem Thema kulturelle Identitäten und Identitäts-Gruppierungen sowie deren Wandel. Wo hast du thematisch Schwerpunkte gesetzt?
Für die aktuellen Arbeiten habe ich mich an das vielschichtige Thema der hybriden Identität oder Lebensrealität gewagt, das mich auch in meinem Alltag begleitet und beschäftigt. Diesmal ging es mir speziell darum, die Relation von Individualität und Kollektivität mit Hilfe von Abstraktion zu visualisieren. Auch interessiert mich das Verhältnis von Körper und Raum und die damit verbundene Wirkung auf Zusammenleben, Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Wie verstehst du die Beziehung zwischen Individualität und Kollektivität im Zusammenhang mit dem Identitätsbegriff?
Für mich hat die sogenannte kollektive Identität vordergründig mit Situationen und Interaktionen zu tun, die auf Entscheidungen einzelner Akteure im Zusammenschluss zurückzuführen sind. Die Bilder wollen dieses Zusammenkommen in seiner Gleichzeitigkeit abbilden. Auch geht es mir dabei darum, die immer wieder neu verhandel- und wandelbare Beziehung zwischen Individuen und der Gemeinschaft aufzuzeigen. Durch das Dekonstruieren von Identität und Kollektivität möchte ich zudem deutlich machen, dass dieser Prozess selbst eine Rekonstruktion von real gegebenen Dynamiken ist, weil ich mich ja ganz konkret an ihnen bediene.
Wie würdest du deine eigene kulturelle Identität beschreiben?
Meine persönliche kulturelle Identität ist ein aktives und passives Zusammenkommen von Erfahrungen, Prozessen und Positionen, die vielschichtig sind und sich nach außen wie nach innen hin äußern. Durch die künstlerische Auseinandersetzung versuche ich, mir die jeweilige Erfahrung hinter den Begriffen vor Augen zu führen, damit sie nicht zu statischen Gebilden werden. Meine Arbeit versucht, Lebensrealität in ihrer Komplexität zu bestärken. Ich möchte aktiv am Prozess der Identitätsfindung teilnehmen, mich quasi ermächtigen und ihr nicht als passiver Zuschauer ausgeliefert sein.
Du hast bereits als Kind angefangen zu zeichnen. Welche Bedeutung hatte das Zeichnen für dich damals und welche hat es heute? Was inspiriert dich?
Für mich hat kreativer Ausdruck schon recht früh mit meinem persönlichen Zugang zur Welt zu tun gehabt. Durch visuelle Medien habe ich schon früh gelernt, meine Gedanken und Gefühle zu kanalisieren und somit auch nach außen hin zu kommunizieren. Das Visuelle funktioniert für mich wie ein Sprachrohr. Bis heute bedeutet das, auch die Möglichkeit zu haben, einen intuitiven und nach innen gerichteten Blick wagen zu können, sich verlieren und wieder finden zu dürfen.
Stilistisch inspiriert mich zurzeit Kunst und Design der Moderne, vom Kubismus bis hin zum deutschen Expressionismus finde ich visuelle Anhaltspunkte, mit deren Hilfe sich für mich die Themen rund um das Konzept Körper und Raum sehr gut kommunizieren lassen.
In vielen deiner Illustrationen liegt der Fokus auf Gesichtern. Auch in deinen Arbeiten für die Ausstellung stehen vor allem weibliche Porträts im Mittelpunkt. Wieso? Was fasziniert dich an Gesichtern?
In den aktuellen Arbeiten vermeide ich eindeutige Geschlechterzuschreibungen. Das liegt daran, dass die Darstellungen metaphorisch oder Meta-figurativ gemeint sind. Sie können als flüchtige Masken verstanden werden. Ich setze Gesichter in der Regel als Sinnbild für Eigen- bzw. Fremdzuschreibungen ein.
Apropos Eigen- und Fremdzuschreibungen: Oft werden aus einer weißen beziehungsweise westlichen Sichtweise den Werken nicht-weißer Künstler*innen quasi automatisch traditionelle Elemente zugeschrieben. Auch in Bezug auf deine künstlerischen Arbeiten wird der Kontrast zwischen Tradition und Moderne immer wieder betont. Wie relevant findest du das? Spielt diese „Kollision“ von Tradition und Moderne für dich überhaupt eine Rolle in deiner Geschichte?
Für mich gibt es keine solche „Kollision“. Das illusionierte Aufeinandertreffen von sogenannten „Kontrasten“ verdeutlicht ja nur, dass diese als konträr verstanden werden. Für mich ist Tradition modern und Moderne Tradition. Das Eine trägt das Andere in sich und so verstehe ich nicht nur Kunst sondern auch Identität in der Summe ihrer Komplexität als Zusammenschluss von passiven und aktiven Erfahrungen, Positionen und Prozessen. Ich finde es wichtig, die Außenstehenden zum Denkprozess anzuregen, diese sogenannten Widersprüche nicht gegeneinander auszuspielen, denn dieses ausschließende Denken führt langfristig zur Unterdrückung einzelner Aspekte von Identität. Vielmehr geht es darum, jedes Mal aufs Neue die eigene Position zu diesen Themen zu ergründen und starre Binaritäten zu hinterfragen.
Du bist studierte Kunsthistorikerin und arbeitest als Künstlerin mit traditioneller visueller Kunst, setzt aber auch zeitgenössische Medien ein. Welche Bedeutung hat dieses Zusammenspiel für dich?
Durch den Einsatz verschiedener Medien möchte ich die Interkonnektivität von Kunstschaffen betonen. Bei dem Zusammenspiel von traditioneller Kunst und zeitgenössischen Medien geht es mir speziell um das Hinterfragen der festgefahrenen Definitionen zu Kunstbegriffen und Kategorien. Kunstschaffen ist für mich immer zeitgenössisch und gegenwärtig, deshalb sind es auch die Medien und Themen. Zudem stellen sich mir bei diesem Ansatz im zweiten Schritt die Fragen: Wer darf Kunst machen und wer hat Zugang zu Kunst? In Anbetracht der Digitalisierung sind das Aspekte, die mich beschäftigen, denn ich bin viel im Internet unterwegs und teile meine Arbeiten in den sozialen Medien. Für mich sind sie zu Orten des kreativen Austauschs und des aktivistischen Diskurses geworden, die sich abseits von „Mainstream“ Kunst- und Kulturlandschaft und somit außerhalb von institutionalisierten und oftmals noch stark kulturimperialistischen Räumen formieren.
Wenn es um den Zugang von Künstler*innen zum „Mainstream“ Kunst- und Kulturbereich geht, dann spielen auch Sexismus und die männliche Dominanz eine entscheidende Rolle. Verschiedene feministische Bewegungen im Kunstbereich, wie die in den 60er Jahren in den USA entstandene feminist art–Bewegung, thematisieren und problematisieren diese Dominanzverhältnisse und setzen sich künstlerisch mit kollektiven Erfahrungen von Künstlerinnen, mit Kunstnormen und konventionellen Geschlechterkonstruktionen auseinander. Allerdings kann es auch innerhalb feministischer Bewegungen nicht ausreichen, sich ausschließlich auf die Kategorie des Geschlechts zu beziehen. In einem Interview mit dem Blog Her Blueprint kritisierst du, dass in westlichen feministischen Diskursen die Stimmen von Women of Color oft ignoriert werden. Wieso ist das Anerkennen von Intersektionalität im Feminismus wichtig?
Das Anerkennen und aktive Hinarbeiten in Richtung Intersektionalität, übrigens auch innerhalb anderer Bereiche, ist deshalb zentral, weil es davor schützt nur die eigenen Interessen durchzusetzen und dieses, wie oft bewiesen, auf dem Rücken anderer, meist marginalisierter Menschen in der Gesellschaft. So läuft dieser Feminismus früher oder später Gefahr das Patriarchat, das er zu Beginn abschaffen wollte eigentlich nur zu reproduzieren. Wenn Feminismus nicht in der Lage ist über das eigene hegemoniale und normative Denken zu reflektieren, hat er den Kern der eigentlichen Ziele aufgegeben und dient nur noch dem Eigeninteresse. Das kann damit enden, dass weiße Feministinnen meinen, sie müssten die muslimische Frau vor dem Kopftuch und dem muslimischen Mann befreien. Es kann aber auch ganz andere Formen annehmen: muslimische Feministinnen, die Rassismus als Problem in den eigenen Reihen nicht anerkennen und thematisieren. Oder ein Feminismus, der die eigene Heteronormativität nicht ablegen möchte und auch strukturelle Diskriminierung und soziale Herkunft ignoriert.
Wie würdest du deine Erlebnisse beschreiben, als weibliche muslimische Künstlerin in einer patriarchalen Gesellschaft zu leben und zu arbeiten? Wie beeinflusst das Erleben von Rassismus und Sexismus deine Kunst?
Ich denke, die Tätigkeit als solche führt bisweilen zu Fragen, die mit patriarchalen Strukturen, Sexismus und Rassismus zu tun haben. Nicht nur strukturell sieht man sich mit Hürden konfrontiert, auch eine gewisse inhaltliche Erwartungshaltung, Stereotypisierung und Exotisierung meiner Arbeit und Person ist immer wieder mal im Raum. Zum Beispiel, wenn meine Kunst als ausschließlich „muslimisch“ oder „islamisch“ markiert wird, weil ich ja nur auf dem Gebiet meiner „eigenen Kultur und Religion“ Expertise vorzuweisen habe und mich kreativ nirgendwo anders bedienen können.
Inwiefern ist Kunst für dich ein Medium, um solchen oder anderen diskriminierenden Erfahrungen etwas entgegenzusetzen?
Kunst als solche ist für mich bei weitem nicht nur, aber immer öfter ganz konkret ein Akt des politischen Handelns, weil es ganz bewusst bedeutet, Stereotype von Identität aufzubrechen und sich visuell mit Themen zu beschäftigen, die das Komplexe, Prozesshafte und Vielschichtige ansteuern. In meiner Arbeit strebe ich keine Antworten an, es geht darum Fragen stehen zu lassen und neue zu stellen, um dem geistigen und kreativen Stillstand innerhalb der Vereinfachungen zu entkommen.
Mehr Informationen zur Ausstellung "Atelier Identity", die vom 24. Mai bis zum 13. Juni in der Heinrich-Böll-Stiftung zu sehen war finden Sie hier.
Mehr Informationen zu Tasnim Baghdadis Person und zu ihren Arbeiten sind hier zu finden:
- Website: http://www.tasnimbaghdadi.com
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