Begriffsunglück "Leitkultur"

Von Claudia Roth

Als die Welt unglücklicher Begriffe vor knapp zehn Jahren Zuwachs bekam, ahnte noch niemand, welch skurrile Kurzauftritte dem Neuankömmling beschieden sein sollten. Die Rede ist vom Begriffsunglück "Leitkultur", das Mitte der neunziger Jahre eine akademische Vorprägung erfuhr und dann als "deutsche Leitkultur" in die politische Arena Einzug hielt. Bassam Tibi war der akademische Vater, Friedrich Merz, der politische.

Die Reaktionen auf den Vorstoß von Merz im Jahr 2000 waren heftig. Die Union zog den Begriff nach wenigen Wochen aus dem Verkehr. Im Herbst 2004 brachte sie ihn dann für eine kurze Spielzeit auf die politische Bühne zurück - im Zusammenhang mit der Diskussion um EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Jetzt, im Herbst 2005, spricht der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert von einer "voreilig abgebrochenen Debatte", die er aufgreifen und weiterführen möchte.

Wer über "Leitkultur" diskutieren will, steht vor einer Reihe von Problemen. Er müßte zunächst einmal wegdefinieren, was das Wort von sich her nahelegt: die Hierarchisierung und die Ausgrenzung von Kulturen. Er müßte sich auch von der unseligen Verkopplung absetzen, in der der Begriff bisher kursierte, von jener "deutschen" Leitkultur, die in der bisherigen Debatte besonderen Widerspruch erfahren hat - von der Nominierung zum "Unwort des Jahres" bis zur Herausgabe eines satirischen "Lexikons der Deutschen Leitkultur".

Merz selbst sah schnell ein, wie untragbar eine Begriffskopplung ist, die eine nationalkulturelle Über- und Unterordnung impliziert. In einem Definitionsversuch fügte er deshalb noch eine weitere Bestimmung hinzu und sprach von "freiheitlicher" deutscher Leitkultur. Dabei hatte er die Verfassungstradition unseres Grundgesetzes und einen Minimalkonsens zu Freiheit, Menschenwürde und Gleichberechtigung im Auge. Das ist ehrenwert, aber inhaltlich zerlegt es die Konstruktion vollends. Denn dem Grundgesetz geht es in guter Allgemeinheit um die "Würde des Menschen" - unabhängig von besonderen kulturellen Bezügen, von Religionszugehörigkeiten, von ethnischen Merkmalen oder Geschlecht. Der Bezug auf das Grundgesetz schließt aus, was Merz hineindefinieren wollte - es sieht gerade keine Leitkultur vor, auch keine deutsche. Es will der freiheitlich-demokratische Rahmen sein, in dem Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven gedeihlich zusammenleben.

Eine Begriffsbildung in der angelsächsischen Diskussion vermeidet die Sackgasse, in die der Begriff "deutsche Leitkultur" führt. Sie faßt den freiheitlich-demokratischen Minimalkonsens, der für moderne Demokratien unerläßlich ist, nicht in einer nationalkulturellen Begrifflichkeit, sondern als "overlapping consensus", als konsensuelle Schnittmenge, die sich auf der Grundlage sehr unterschiedlicher Werthaltungen herausbilden kann.

Dem Konsens liegen unendlich reichhaltige, zivile Perspektiven zugrunde, die für sich keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen können, die aber dennoch Motivationslagen begründen, aus denen heraus Bürgerinnen und Bürger ihr Gemeinwesen positiv stützen und den freiheitlichen und demokratischen Konsens anstreben. Dieses Zusammenspiel von Vielfalt und konsensueller Schnittmenge ist der springende Punkt! Denn hier geht es um keine Selbstverständlichkeit, sondern um ein hohes Gut, um das wir uns immer wieder neu bemühen müssen. An dieser Stelle sollten wir ansetzen. Wir benötigen eine Debatte, die den demokratischen Konsens unter den Bedingungen von Pluralität, Interkulturalität und rascher Globalisierung weiterentwickelt. Und eine solche Debatte möchte ich mit Norbert Lammert gerne führen.

Das Phantasma einer deutschen Leitkultur hilft uns hier nicht weiter. Die Arbeit an einem Terminus, der Nationalkulturen hierarchisiert und dies dann in widersprüchlicher Weise wieder dementieren muß, war schon für die akademische Begriffsbildung wenig lohnend. Eine vollständige Überforderung ist sie für die Politik. Sie birgt keinen Mehrwert für den demokratischen Konsens. Unser Gemeinwesen gründet in ziviler Vielfalt, sein Rahmen ist das Grundgesetz und kein nationalkulturelles Projekt.

Zuerst erschienen in: F.A.Z., 25.10.2005, Nr. 248 / Seite 12

 

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Claudia Roth ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen.