Diversity: Mode oder Muss?

von Michael Stuber

Obwohl das Interesse an Diversity sowohl in der Forschung als auch in Arbeitsorganisationen wächst, muss sich der Ansatz immer wieder gegen den Vorwurf einer Modeerscheinung wehren. Diversity, so Kritiker, sei eine von vielen US-amerikanischen Managementkonzepten, auf deren kometenhafter Aufstieg der schnelle Fall folgen werde. Bereits der Begriff „Diversity“ sorgt für Irritationen – das englische Wort trägt mitunter zur Skepsis bei, obwohl in anderen, vor allem technischen Bereichen gerne auf angelsächsische Begriffe zurückgegriffen wird. Die vielfältigen Definitionsmöglichkeiten, Paradigmen und Zugänge verwirren zusätzlich und tun damit ihr übriges. Der Vorwurf einer Modeerscheinung kommt in diesem Zusammenhang gelegen. Er weist einerseits auf eine mögliche Scheu vor Veränderungen hin, andererseits auf eine nicht unmittelbar vollziehbare Identifikation mit dem Ansatz.

Doch was umfasst das Konzept „Diversity“? Offensichtlich erscheint zunächst die Übersetzung mit „Vielfalt“. Hier spielt jedoch die feine Unterscheidung der Groß- und Kleinschreibung im Englischen eine wichtige Rolle: Während sich „diversity“ – mit kleinem „d“ – auf Unterschiedlichkeiten bezieht, beschreibt „Diversity“ – auch im Englischen mit großem „D“ – ein Gesamtkonzept für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Dabei bezeichnet Diversity das Zusammenwirken mehrerer Bausteine, durch das Unterschiedlichkeiten in und von Organisationen (an-)erkannt, wertgeschätzt, einbezogen und so als positive Beiträge genutzt werden. Der Grundgedanke lautet: Vielfalt ist kein Wert und kein Ziel an sich. Erst durch Offenheit für Anderes und durch Entfaltungsmöglichkeiten für Andere können Mehrwerte entstehen. In dieser Gesamtheit und Breite stellt Diversity tatsächlich ein neues Konzept dar.

Gesellschaftliche Veränderungen als unausweichliche Realität
Der Vorwurf einer Modeerscheinung ist in vielerlei Hinsicht irreführend: Gesellschaftliche Veränderungen wie der demographische oder der Wertewandel stellen tradierte Unternehmenskulturen und -strategien in Frage. Veränderte Rahmenbedingungen erfordern neue Ansätze und Antworten. Die häufig un- oder unterbewusst auf den „deutschen Familienvater mittleren Alters“ zugeschnittenen Systeme erweisen sich als nicht länger wettbewerbsfähig, im Kampf um die besten Köpfe, die innovativsten Lösungen und die nationalen und internationalen Märkte. Besonders für international tätige Unternehmen und Organisationen stellen sich die Belegschaften, Kunden und Geschäftspartner zunehmend vielfältig dar. Technisierung, Virtualisierung und Mobilität haben die Welt verändert und so stellen grenzüberschreitende Arbeitsgruppen und globale Märkte oder Produktionen eine neue Realität – und die Zukunft dar. Diversity bietet hierfür einen langfristig tragfähigen Ansatz.

Kluft zwischen Theorie und Praxis
Die proklamierten Ziele des Diversity-Ansatzes sind theoretisch konsistent. Die Wissenschaft und die Praxisstudien bestätigen, dass ein kultureller Wandel, wie ihn Diversity anstrebt, nur über einen längeren Prozess realisiert werden kann. Wertschätzung von Anderen und der Umgang mit Ungewohntem setzt eine klare Identität und ein Sicherheitsgefühl beim Individuum und ebenso bei einer Organisation voraus. Ist dies nicht gegeben, besteht ein großer Teil des Prozesses in reflexiven Ansätzen. Andererseits erfordert die nachhaltige Veränderung von Organisationen aus systemischer Sicht eine Überprüfung und ggf. Anpassung von Strukturen und Prozessen, um Filterfunktionen zu neutralisieren. Diese Besonderheiten des Diversity-Konzeptes geben keine Hinweise auf eine Kurzfristigkeit des Ansatzes. Im Gegenteil, Wissenschaft und Praxis setzen langfristig orientierte Modelle für Diversity ein.

Dennoch lässt sich eine Kluft zwischen Theorie und Praxis feststellen. Studien zeigen eine simplifizierte Umsetzung von Diversity: In Erwartung schneller Effekte, der Hoffnung auf Imageverbesserungen durch das Label „Diversity“ oder einfach nur, um anderen nicht nachzustehen, wird Diversity in manchen Organisationen nur fragmentarisch implementiert. Das Beispiel „Work-Life-Balance“ verdeutlicht dies: Deutsche Unternehmen setzen Work-Life-Balance häufig mit Familienfreundlichkeit gleich. Anders als der umfassende Ansatz „Diversity“, der stets versucht, unterschiedliche Ausprägungen und Realitäten einzuschließen, dienen Ansätze der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ letztlich der Förderung des traditionellen Familienverständnisses. Oder anders gesagt: Für kinderlose Paare oder, Singles oder für Ältere, deren Kinder „aus dem Haus“ sind, werden keine oder kaum Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (!) angeboten. Diversity zielt auf die Einbeziehung aller Beschäftigten ab und ist dadurch wesentlich weniger anfällig für wechselnde Themen oder wandelnde Prioritäten.

Auch die betriebliche Praxis in den USA und Großbritannien macht deutlich, dass Diversity nicht kurzlebig ist. Der Ansatz blickt in den USA bereits auf eine 20jährige Etablierung zurück und gewinnt weiter an Bedeutung: Publikationen zum Thema nehmen zu und die Anzahl der Unternehmen, die Diversity explizit und fokussiert betreiben, wächst. Etwa 90 Prozent der führenden Unternehmen aus den USA (Fortune 500) verfügen mittlerweile über eine Diversity-Politik, darüberhinaus ist Diversity auch in vielen öffentlichen Einrichtungen verankert. In Deutschland betreiben, nach Schätzungen, bislang allenfalls 50 Unternehmen Diversity. Nun sind die USA nicht gerade berühmt für langfristige, nachhaltige Konzepte, eher schon für kurzfristige Erfolgsrechnungen. Wenn die Bedeutung von Diversity in diesem Umfeld auch nach 20 Jahren noch weiter zunimmt, gibt es Grund zur Annahme, dass auch im vielfältigen Europa, bei zunehmender Migration und wachsender Offenheit durch internationale Kommunikation und Mobilität der Ansatz Diversity auch in Zukunft Mehrwerte bieten wird.

 

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Michael Stuber ist Geschäftsfürer der Diversity Consulting "ungleich besser mi.st"