von Andreas Merx
„Die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien werden in deutsches Recht umgesetzt“ heißt die schlichte Formulierung im Koalitionsvertrag. Wie weit die Vorstellungen über die konkrete Umsetzung zwischen SPD und Union noch auseinander liegen zeigte nicht zuletzt die Bundestagsdebatte vom 20.01.2006. In der Diskussion um den von Bündnis90 / Die Grünen wieder in den Bundestag eingebrachten rot-grünen Entwurf für ein Antidiskriminierungsgesetz (ADG), der im Juli 2005 vom unionsdominierten Bundesrat gestoppt worden war, wiederholten sich nahezu gleich lautend die konträren Positionen aus der letzten Legislaturperiode.
Die SPD stellte sich hinter das mit den Grünen ausgehandelte einheitliche und umfassende Gesetz und machte deutlich, dass man sich weiterhin für eine Aufnahme aller Diskriminierungsmerkmale auch in den zivilrechtlichen Teil des ADGs, also bei Fragen des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen etwa im Bereich des Wohnungsmarktes oder der privaten Versicherungen, einsetzen werde. Dagegen beharrten die Union und die FDP auf einer engen 1:1-Umsetzung, die im zivilrechtlichen Teil einen vollen Diskriminierungsschutz nur für die Merkmale ethnische Herkunft und Geschlecht, nicht aber für die Merkmale Alter, Behinderung, Religion und Weltanschauung sowie sexuelle Identität bedeuten würde und beschworen das Schreckbild einer unzulässigen, massiven Beschränkung der (Vertrags-) Freiheit.
Eine einzelne Merkmale ausschließende oder enge 1:1-Umsetzung im Zivilrecht würde jedoch sowohl den grundlegenden Diversity-Ansatz der europäischen Antidiskriminierungspolitik missachten, als auch dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes entgegenstehen. Eine Umsetzung in einem Diversity-Ansatz bietet hingegen vielfältige Vorteile.
Der Diversity-Ansatz der Europäischen Antidiskriminierungspolitik
Auch wenn das europäische Antidiskriminierungsrecht bisher im Schutz vor Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft und des Geschlechts am weitesten fortgeschritten ist und für die anderen Diskriminierungsmerkmale für den zivilrechtlichen Bereich noch keine entsprechenden Vorgaben formuliert worden sind, verfolgt die Europäische Kommission insgesamt doch konsequent einen Diversity-Ansatz. Dieser ist in den arbeitsrechtlichen Bestimmungen auch bereits umgesetzt worden und soll längerfristig im Zivilrecht ebenfalls erfolgen.
In einem gemeinsamen, alle diskriminierten Gruppen gleichermaßen schützenden ganzheitlichen Ansatz soll dabei durch eine horizontale Herangehensweise der Modus der Diskriminierung bekämpft werden. Da eine zunehmende Vielfalt der Lebens- und Arbeitsformen wachsender Faktor der europäischen Mitgliedsgesellschaften sein wird, dienen die Richtlinien der Verbesserung rechtlicher Rahmenbedingungen zur konstruktiven Gestaltung der Chancen, die in dieser Vielfalt stecken. Wichtigster Fokus der Richtlinien ist die Schaffung von Märkten, die die soziale Eingliederung aller Menschen fördern. Diskriminierungen behindern das Ziel einer benachteiligungsfreien Entwicklung der individuellen Talente und Potentiale aller Bürgerinnen und Bürger.
Artikel 13 des Amsterdamer Vertrags von 1997, der die Grundlage der umzusetzenden Richtlinien darstellt, gibt daher dem Europäischen Rat das Recht, „...geeignete Maßnahmen (zu) treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ Diese Ausweitung des Merkmalskatalogs umfasst sämtliche Kerndimensionen des Managing Diversity-Konzepts und wurde zurecht als „turning point in EU-Antidiscriminiation law“1 bezeichnet.
Auch Artikel 21 des Vertrags von Nizza aus dem Jahr 2000 und das die Richtlinienumsetzung begleitende Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen (2001-2006) weisen einen entsprechenden integrierten Diversity-Ansatz auf. Wo immer es möglich erscheint, wird angestrebt, die unterschiedlichen Diskriminierungsgründe gemeinsam und nicht getrennt zu betrachten. Dies gilt dabei als Leitlinie sowohl für die Arbeitswelt als auch für die mit den zivilrechtlichen Bestimmungen verbundenen Zugangschancen. Das Ziel einer diskriminierungsfreien Arbeitswelt würde sich kaum mit einer massiven Diskriminierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgrund eines der Merkmale etwa auf dem Wohnungsmarkt oder beim Zugang zu Versicherungen vereinbaren lassen. Als gesellschaftspolitischen Ansatz ihrer Antidiskriminierungspolitik sieht die Europäische Kommission die Perspektive einer „gleichwertigen Vielfalt“, einer „non-hierarchical diversity in general“2 und rät den Mitgliedstaaten daher, eine „kohärente und integrierte Vorgehensweise“3 zu entwickeln.
Gleichberechtigte Vielfalt
Eine nicht-horizontale Umsetzung der Richtlinien im Bereich des Zivilrechts würde durch die De-facto-Ausgrenzung, etwa von älteren Menschen, Behinderten oder Homosexuellen, dem Gleichbehandlungsgrundsatz als Kernelement unseres Rechtsverständnisses zuwiderlaufen. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist ein zentrales Strukturprinzip sowohl des Grundgesetzes wie auch der Menschenrechte, des Völkerrechts und zahlreicher weiterer internationaler Rechtsabkommen, denen Deutschland verpflichtet ist. Es wäre nur schwerlich zu rechtfertigen, warum ausgerechnet in einem ADG Rechtsansprüche nur für bestimmte Bevölkerungsteile gelten sollen und für andere, die im Alltag ebenfalls von Diskriminierungen betroffen sind, nicht.
In der Diskussion um den rot-grünen Entwurf aus der letzten Legislaturperiode wurde wiederholt behauptet, ein solches Gesetz schränke die (Vertrags-) Freiheit in einem unverhältnismäßigen Maße ein. Die Leitidee, mit dem Gesetz eine verbesserte Zugangsgerechtigkeit für alle Menschen zu erreichen, wurde gar als „Tugendterror“4 und „Kulturrevolution“5 unter dem Banner des Gleichbehandlungsgrundsatzes denunziert. Auch in der jüngsten Bundestagsdebatte wurde von Union und FDP wiederum auf nicht zu rechtfertigende Eingriffe in die Vertragsfreiheit hingewiesen, die gar einen Paradigmenwechsel in unserer Rechtstradition darstellen würden. Es bleibt hier daran zu erinnern, dass Freiheit und Gleichheit durchaus keine sich widersprechenden Prinzipien unserer Rechtskultur sind, sondern sich wechselseitig bedingen und daher nicht gegeneinander auszuspielen sind. Der Schutz vor Diskriminierungen ist geradezu Vorausbedingung der Ermöglichung der Freiheit jedes einzelnen. Überspitzt ausgedrückt schränkt ein umfassender Diskriminierungsschutz lediglich die Freiheit zu diskriminieren ein und schützt die (Vertrags-) Freiheit derjenigen, denen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung oder sexuellen Identität ein Vertrag verweigert wird oder denen diskriminierende Vertragsbedingungen diktiert werden. Ein umfassender Diskriminierungsschutz bedeutet somit eine Konkretisierung und Universalisierung von Freiheit zugleich. Es geht darum, das bereits im Grundgesetz und in den Menschenrechten verankerte Prinzip einer „gleichen Freiheit“6 zur Erreichung einer verbesserten Chancengleichheit aller in einer vielfältigen Republik zu verwirklichen.
Europäische Erfahrungen: Von der Minderheitenperspektive zum Diversity-Ansatz
Mit der Umsetzung eines umfassenden ADGs in einer großen Lösung würde Deutschland Anschluss an europäische Entwicklungen im Diskriminierungsschutz finden. Hier lohnt ein Blick über die Grenzen, denn zahlreiche Länder wie etwa Belgien, Frankreich, Großbritannien, Irland, die Niederlande, Schweden und Ungarn haben sich bei der Richtlinienumsetzung ebenfalls für einen Diversity-Ansatz entschieden. Sie sehen darin nicht zuletzt aufgrund der demographischen Entwicklung und der zunehmenden ethnisch-kulturellen Vielfalt auch notwendige Modernisierungsmöglichkeiten für die Arbeitsmarktpolitik und die Personalpolitik von Unternehmen sowie wirtschaftliche Vorteile. So bemisst etwa die britische Regierung den möglichen Nutzen durch die Umsetzung der Richtlinien in Ergänzung der bestehenden umfassenden Antidiskriminierungsgesetzgebung auf zwischen 102 und 567 Mio. britische Pfund. Die durchschnittlichen Kosten für die Implementierung der neuen Maßnahmen werden hingegen auf nur etwa 157 britische Pfund pro Arbeitgeber geschätzt.7
Beim von den Richtlinien geforderten Umbau ihrer nationalen Antidiskriminierungsstellen gehen Länder mit langjähriger Erfahrung im Diskriminierungsschutz wie etwa Belgien, Frankreich, Großbritannien oder die Niederlande dazu über, ihre bisher merkmalsorientierten institutionellen Strukturen in einem voll integrierten Konzept mit Diversity-Ansatz zusammenzuführen. Die getrennte Behandlung hatte sich letztendlich als ineffizient erwiesen. Eine gleichberechtigte Bearbeitung aller Diskriminierungsmerkmale durch eine zentrale Anlaufstelle in einem horizontalen Ansatz verhindert Hierarchien zwischen Diskriminierungsmerkmalen und ist besser geeignet, Mehrfachdiskriminierungen sinnvoll zu bearbeiten.
Es wäre kaum zu vertreten, dass sich Menschen nur bei Diskriminierungen wegen des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft an eine nationale Antidiskriminierungsstelle wenden könnten, nicht aber etwa diskriminierte ältere, behinderte oder homosexuelle Menschen.
Diversity: Ein Ansatz mit Zukunft für eine vielfältige Republik
Durch Globalisierung, europäische Integration, Einwanderungsprozesse, demographischen Wandel, Individualisierungsschübe und Wertewandel nimmt die Vielfalt an Lebens- und Arbeitsformen in Deutschland immer mehr zu. Diese Entwicklungen werden sich kaum umkehren, Deutschland wird eine vielfältige Republik bleiben. Eine Ausgrenzung von älteren Menschen, Behinderten, Homosexuellen oder religiösen Minderheiten aus dem zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz wäre angesichts dieser Wandlungsprozesse ein verfehltes gesellschaftspolitisches Signal und letztlich auch dysfunktional. Die Umsetzung der Richtlinien in einen Diversity-Ansatz bietet hingegen eine zukunftsweisende Lösung, die eine „Gleichheit in der Verschiedenheit“ (Simone de Beauvoir) fördert und gesellschaftliche Vielfalt nicht als Belastung sondern als Chance für Entwicklung und Fortschritt begreift.
Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteile, die in einer Anerkennung und Respekt gegenüber der vorhandenen Vielfalt liegen, sollten genutzt werden. Eine Diversity-Umsetzung würde die Rahmenbedingungen für die Integration aller Menschen in die Gesellschaft verbessern, zu einer konstruktiven Lösung von Konflikten beitragen und somit die Voraussetzungen für ein spannungsfreieres Zusammenleben schaffen. In der jüngsten EU-Studie zum wirtschaftlichen Nutzen von Diversity-Maßnahmen gaben 83 % der befragten Unternehmen an, dass ihnen ihre Bemühungen zur Förderung der personalen Vielfalt bereits bei der Verbesserung ihres Geschäftserfolgs geholfen haben.8
Ausblick: Ausgrenzung von Juden, Muslimen, Schwulen und Lesben durch großkoalitionären Kompromiss?
Jüngsten Pressemeldungen zufolge bewegen sich Union und SPD in der Frage des Merkmalskatalogs im Zivilrecht auf einen Kompromiss zu. Demnach akzeptiere die Union die Merkmale Alter und Behinderung, die SPD verzichte auf Druck der Union auf eine Aufnahme der Merkmale Religion oder Weltanschauung sowie sexuelle Identität. Dies würde in der Praxis eine Ausgrenzung von religiösen und sexuellen Minderheiten beim diskriminierungsfreien Zugang zu Gütern und Dienstleistungen bedeuten.
Lesbische und schwule Paare schildern in Fallstudien gerade für diesen Bereich immer wieder, wie ihnen der Zugang zu Gaststätten verwehrt wurde oder sie in einem Restaurant nicht bedient wurden, weil sie sich geküsst hatten. Auch Hotels weigern sich oft, schwule und lesbische Paare als Gäste aufzunehmen, weil dies die anderen Gäste stören würde.9 Muslime berichten in wissenschaftlichen Untersuchungen von zahlreichen Benachteiligungen, Beleidigungen und Ausgrenzungen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bei der Wohnungssuche, dem Grundstückserwerb oder auch beim alltäglichen Einkauf. Muslimische Frauen sind dabei besonders häufig Opfer von Mehrfachdiskriminierungen.10 Laut den Heitmeyer-Studien zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ haben seit dem 11. September und in Folge einer oft unsachlichen Integrationsdebatte islamfeindliche Einstellungen in der Gesellschaft deutlich zugenommen. Auch antisemitische Äußerungen finden hiernach ein erschreckendes Maß an Zustimmung.11 Vor diesem Hintergrund ist es kaum nachzuvollziehen, dass die Opfer religiös motivierter Diskriminierungen vom gesetzlichen Benachteiligungsschutz ausgenommen werden sollen. Gesetze setzen Verhaltensstandards und liefern die Grundlage für gesellschaftliches Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden. Die sich andeutende Kompromisslinie der Großen Koalition würde den genannten Vorurteilen nichts entgegensetzen und Diskriminierungen gegenüber religiösen und sexuellen Minderheiten verharmlosen.
Da längerfristig weitere EU-Richtlinien zum Diskriminierungsschutz zu erwarten sind, die zivilrechtliche Vorgaben für die bisher in den Richtlinien nicht beinhalteten Merkmale treffen werden, ist ein einheitliches ADG mit Diversity-Ansatz schon jetzt die vernünftigere Lösung. Ständige Nachbesserungen am Gesetz könnten so vermieden werden. Die Sicherung des freien Marktzugangs durch umfassende Diskriminierungsverbote ist wesentlich, gerade in Zeiten, in denen sich der Staat immer mehr aus den Sicherungssystemen zurückzieht und von jedem Einzelnen mehr Eigenverantwortung abverlangt wird. Union und SPD sollten in diesem Wandlungsprozess allen Bürgerinnen und Bürgern die gleiche Verantwortung entgegenbringen und auf eine Hierarchisierung von Diskriminierungstatbeständen verzichten.
Literaturhinweise:
1 Bell, Mark (2002): Anti-Discrimination Law and the European Union, S. 143
2 Council of Europe (1998): Gender mainstreaming. Conceptual framework, methodology and presentation of good practice. Final Report of Activities of the Group of Specialists on Mainstreaming, Straßburg, S. 25
3 Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2004): Grünbuch. Gleichstellung sowie Bekämpfung von Diskriminierungen in einer erweiterten Europäischen Union, Brüssel, S. 7
4 FAZ, 21.01.2005
5 FAZ, 16.12.2004
6 Bobbio, Norberto (1998): Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin
7 Office of the Deputy Prime Minister (Hrsg.) (2001): Towards Equality and Diversity, S. 9; download: http://www.dti.gov.uk/er/equality/consult.pdf
8 Europäische Kommission (Hrsg.) (2005): Geschäftsnutzen von Vielfalt. Bewährte Verfahren am Arbeitsplatz, Luxemburg; download: http://europa.eu.int/comm/employment_social/fundamental_rights/events/ukconf05_de.htm
/fundamental_rights/events/ukconf05_de.htm
9 Zahlreiche Fallbeispiele finden sich unter: http://www.aktion-einszueins.de/diskriminierung.htm.
10 Leitbold, Jürgen / Kühnel, Steffen (2005): Islamophobie. Differenzierung tut Not, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2005): Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt am Main, S. 135-155
11 Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2005): Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt am Main
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Andreas Merx ist Politologe und Diversity-Trainer. Er arbeitet zu den Themen Antidiskriminierung, Diversity, Integration, Migration und Rechtsextremismus.