Kommentar von Christoph Butterwegge
Wenn es neben der Umwelt-, Frauen- und Gleichstellungspolitik noch ein weiteres Politikfeld gibt, auf dem sich die Bündnisgrünen in den letzten Jahren große Verdienste erworben haben, dann ist es die Migrations- bzw. Integrationspolitik. Sollten die Bündnisgrünen hier, sicher nicht zuletzt wegen des massiven Drucks, der durch Diskurse über „Parallelgesellschaften“, die „deutsche Leitkultur“, das Kopftuch, den sog. Karikaturenstreit, „Ehrenmorde“, Zwangsheiraten und die Rütli-Schule erzeugt oder verstärkt wird, zurückweichen und sich dem neokonservativen Zeitgeist anpassen, würden sie ihren guten Ruf als Fürsprecher/innen diskriminierter Minderheiten einbüßen. Bisher gibt es dafür nur vage Anzeichen, die jedoch zu einer kritischen Selbstbesinnung und zur Erinnerung an die Grundprinzipien einer fortschrittlichen Zuwanderungspolitik führen sollten. Dies gilt umso mehr, als sich die SPD-Spitze unmittelbar vor dem Gipfeltreffen im Kanzleramt am 14. Juli 2006 mit ihren Leitlinien zur Integrationspolitik unter dem Titel „Faire Chancen, klare Regeln“ von den ursprünglichen Zielen der rot-grünen Regierungszeit distanziert und „multikulturellen Träumereien“ eine klare Absage erteilt hat.
Perspektiven der Integration und Partizipation: Teilhabechancen oder Beteiligungsrechte für Zuwanderer?
In ihrem Beschluss vom 30. Mai 2006 schlägt die Bundestagsfraktion einen „gesellschaftlichen Integrationsvertrag“ vor, der Migrant(inn)en die Perspektive bietet, deutsche Staatsbürger/innen zu werden. So richtig und wichtig diese Option als ein Schritt zur Integration ist, so wenig darf verkannt werden, dass jeder Vertrag, bei dem niemand über den Tisch gezogen wird, gleichberechtigte Partner/innen erfordert, die ihn aus freien Stücken abschließen. Schon die Wortwahl verrät, dass „von oben“ auf die Zuwanderer geblickt und nicht „von unten“ nach Möglichkeiten der Partizipation gesucht wird: Da ist nicht nur beinahe mehr von Pflichten als von Rechten der Migrant(inn)en die Rede, sondern auch ständig von „Teilhabechancen“ und „Teilhabegerechtigkeit“ – wie in der neuen EKD-Denkschrift zur Armut, welche ihre Kernforderung nach „gerechter Teilhabe“ im Titel trägt. Viel besser wäre es, von „Beteiligungsgerechtigkeit“ zu sprechen, die jedoch mehr Verteilungsgerechtigkeit voraussetzt, als in der Bundesrepublik mit ihrer sich vertiefenden sozialen Spaltung herrscht. Auch eine „Politik der Anerkennung“, wie sie die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen fordert, kommt nicht ohne Umverteilung des privaten Reichtums aus. Dass dieses Grundproblem vernachlässigt wird, hat wahrscheinlich mit der Blickverengung auf ein Politikfeld zu tun, welches im viel beschworenen „Zeitalter der Globalisierung“ zwar noch an Bedeutung gewinnen dürfte, aber nicht von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, den ökonomischen Herrschaftsverhältnissen und den allgemeinen Machtkonstellationen abzulösen ist.
Eine qualifizierte (Aus-)Bildung und gute Sprachkenntnisse sind fraglos wichtige Instrumente zur Integration von Zuwanderern. Sie dürfen allerdings nicht überschätzt oder gar verabsolutiert werden. Bildungsarmut basiert nicht nur bei Kindern von Migrant(inn)en auf materieller Unterversorgung und Benachteiligung in anderen Lebensbereichen. Umgekehrt ist Bildung eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für gleiche Chancen im Berufsleben. Was zum individuellen Aufstieg taugen mag, versagt nämlich als gesellschaftliches Patentrezept: Wenn alle, auch und gerade Kinder mit Migrationshintergrund, mehr Bildungsangebote erhalten und wahrnehmen, konkurrieren sie zusammen mit den Sprösslingen von Deutschen um die gleichbleibend wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze nur auf einem höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen.
Man gewinnt bei der Lektüre des Fraktionspapiers den Eindruck, dass weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert als die Migrant(inn)en an die Mehrheitsgesellschaft angepasst und – prononciert formuliert – zu „besseren“ Deutschen gemacht werden sollen. Nicht die Zuwanderer stehen mit ihren Problemen, Sorgen und Bedürfnissen im Vordergrund, sondern die Entwicklung des Aufnahmelandes, zu der sie „ihren Teil“ beitragen sollen. Besonders die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund werden in die Pflicht genommen. Sie sollen dafür sorgen, dass ihr Nachwuchs vom Kindergarten bis zur Hochschule keine Bildungsgelegenheit verpasst, während die strukturellen Hindernisse wie das mehrgliedrige Sekundarschulsystem der Bundesrepublik zwar benannt, aber eher nachrangig behandelt werden. Überzeugend wirkt der Beschluss hingegen dort, wo gleiche Rechte für Menschen mit Migrationshintergrund, die größtenteils ja selbst gar keine Zuwanderer sind, verlangt und konkrete Integrationsangebote vorgeschlagen werden.
Bündnisgrüne und andere Kräfte, die der Mehrheitsgesellschaft ernsthafte Integrationsbemühungen abverlangen, sind nicht zuletzt durch eine geschickte Diskursstrategie ihrer Gegner in die Defensive geraten. Vielleicht hat es der Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ ihren Kritikern auch erleichtert, die damit verbundene Konzeption durch Überbetonung kultureller Unterschiede in Misskredit zu bringen. Je mehr der Multikulturalismus unter Beschuss gerät, desto stärker ist er freilich auf die Unterstützung jener angewiesen, die sich für ein friedliches Miteinander aller Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, ethnischen Herkunft, Hautfarbe und Religion, einsetzen. Die multikulturelle Demokratie war früher ein Markenzeichen der Bündnisgrünen, die den Terminus nicht nur (im Fraktionspapier ein Mal) verschämt benutzen, sondern sich weiter offen dazu bekennen sollten.
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Christoph Butterwegge ist Professor und Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. 2006 gab er gemeinsam mit Gudrun Hentges „Massenmedien, Migration und Integration“ sowie „Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung“ heraus.