Integrationspolitik – die große gesellschaftspolitische Herausforderung

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Von Josef Winkler


Integration ist das neue Zauberwort in der Diskussion um Zuwanderung in Deutschland und Europa geworden. Dabei ist der Begriff vieldeutig, umstritten und wird von Befürwortern ebenso wie von Gegnern der Einwanderung oft überstrapaziert. Konsens besteht jedoch darüber, dass es sich bei Integration nicht um eine Einbahnstraße mit einseitigen Anpassungsleistungen von Zuwanderern handelt, wenngleich ihr Beitrag zu diesem wechselseitigen Prozess stets der Größere ist.
 
Ob Ausländer, Eingebürgerte, Aussiedler oder Kinder aus binationalen oder ausländischen Ehen – die Bevölkerung in Deutschland ist ethnisch, sprachlich, kulturell und religiös vielfältiger geworden. Jede fünfte Eheschließung ist heute binational, jedes vierte Neugeborene hat mindestens einen ausländischen Elternteil, jeder dritte Jugendliche in Westdeutschland hat einen Migrationshintergrund. In einigen Ballungsgebieten stammen schon heute 40% der Jugendlichen aus Migrantenfamilien - mit steigender Tendenz. Der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund wird in der Zukunft noch wachsen.

Nicht nur die Gesellschaft insgesamt, auch die Migrantenbevölkerung selbst ist vielfältiger geworden und hat sich ausdifferenziert. Längst handelt es sich nicht mehr um eine reine „Gastarbeiterpopulation“. Auch in der Migrantenbevölkerung haben wir es mit einer zunehmenden sozioökonomischen Differenzierung von Lebenslagen zu tun. Migranten in Deutschland, das sind heute Einwandererkinder der 3. Generation ebenso wie alte und neue EU-Bürger, ausländische Senioren ebenso wie junge Akademiker.

Deutschland ist vielfältiger geworden

Kulturelle und religiöse Vielfalt werden das Leben in unserer alternden Gesellschaft immer stärker kennzeichnen. Diese Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur sind eine große Herausforderung und bergen Konflikte wie Chancen. Die Gesellschaft steht vor der Aufgabe, mit der gewachsenen gesellschaftlichen Vielfalt umzugehen und sich aufnahmefähig zu machen. Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstellenmarkt, Arbeitsmarkt, Krankenhäuser und Altenheime müssen in die Lage versetzt werden, diesen Pluralismus produktiv zu nutzen und sich interkulturell zu öffnen. Und vor allem unser Bildungssystem muss den Umgang mit der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt lernen.

Integrationspolitik ist Gesellschaftspolitik

Integrationspolitik ist damit mehr als Ausländer- oder Minderheitenpolitik, auch mehr als Sprachförderung und Eingliederungshilfe. Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft ist Gesellschaftspolitik. Politische Handlungskonzepte müssen die Lebenssituation einer wachsenden Bevölkerung mit Migrationshintergrund regelmäßig und in allen Bereichen mit berücksichtigen. Integrationsförderung betrifft alle Politik- und Lebensbereiche und muss als Querschnittsaufgabe verstanden und verankert werden. Nach 50 Jahren Einwanderung lautet die „conditio sine qua non“ jeder Integrationspolitik: Einwanderer sind Teil dieser Gesellschaft, sie gehören selbstverständlich dazu. Dies hat die integrationspolitische Debatte der letzten Jahre gezeigt: Es geht nicht um das Ob, sondern allenfalls um das Wie von Integration.

Kein kultureller Rabatt bei Menschenrechtsverletzungen

Die Werte des Grundgesetzes und die darauf basierende Rechtsordnung, die Würde jedes Einzelnen, die Gleichheit von Frau und Mann, die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit sind die Geschäftsgrundlage, auf der Integration stattfindet. Diese Werte stehen nicht zur Disposition, auch nicht im Namen von Religion oder Kultur. Wachsende Pluralität macht die Verständigung über gemeinsame Werte und Regeln nicht einfacher, aber umso nötiger. Multikulturalität ist eine Tatsache, Integration ist eine Aufgabe. Wir brauchen eine „Politik der Einbürgerung“, die auf gleichberechtigte und selbst bestimmte Bürger setzt, aber auch Identifikationsangebote mit den pluralistischen und demokratischen Leitbildern und Werten unserer Gesellschaft macht. Nur wenn Einheimische wie Zugewanderte von diesen Werten überzeugt werden und Ungleichheitsideologien entschieden entgegentreten, kann sich eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung entwickeln.

Einigkeit besteht im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsheiraten, so genannte Ehrenmorde oder Genitalverstümmelungen. Für Menschenrechtsverletzungen kann es keinen kulturellen Rabatt geben.

Teilhabegerechtigkeit und Chancengleichheit schaffen

Ziel einer modernen Integrationspolitik ist es, Migrantinnen und Migranten eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Teilhabechancen müssen dabei möglichst frühzeitig eröffnet werden. Integrationspolitik muss individuelle Potenziale anerkennen und fördern. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ist die Investition in die Bildung und Entwicklung von sprachlicher, kultureller, sozialer und professioneller Kompetenz jedes Einzelnen eine Investition in die Zukunft.

Integration setzt die Herstellung von Chancengleichheit und weitgehender Rechtsgleichheit voraus. Dies bedeutet zum einen, gleichberechtigte Zugangsmöglichkeiten zu allen zentralen Statuspositionen und Bereichen der Gesellschaft -  zu Bildung, Arbeit und Ausbildung, Wohnen und den Angeboten sozialer Dienstleistung, zu politischen und kulturellen Aktivitäten - zu schaffen. Dies bedeutet darüber hinaus aber auch - wo erforderlich - aktive Förderung zur Herstellung gleicher Ausgangspositionen. Politik muss dafür die Voraussetzungen schaffen und zunächst  rechtliche Zugangsbarrieren beseitigen. Hierzu gehört auch die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Drittstaatsangehörigen mit EU-Bürgern, deren erfolgte rechtliche Integration als modellhaft bezeichnet werden kann.
Integration ist aber nicht eine allein vom Staat zu bewältigende Aufgabe. Gelingen kann sie nur als zivilgesellschaftliches Projekt. Die Umsetzung von konkreten Integrationsangeboten ist auf zivilgesellschaftliches Engagement und auf die Institutionen der Zivilgesellschaft angewiesen. Maßgebliche Potentiale liegen hier insbesondere auch bei den Migrantenorganisationen.

Fazit: Allzu kurzatmige und allzu harmonisch angelegte Vorstellungen von Integration greifen nicht mehr. Auch sind Deutsche und Migranten keine homogenen Gruppierungen. Die Konfliktlinien in einer offenen Gesellschaft sind komplexer und verlaufen kreuz und quer durch solche Entitäten: Dies gilt für die 'Kopftuchfrage' ebenso wie für die Einschätzung des Islams und viele andere Fragen. Näher an der Lebenswirklichkeit ist es daher, Integration als einen offenen und dynamischen Prozess anzusehen, in dem es um harte Fakten, Interessen, um Herrschafts- und Machtstrukturen, um Konflikte und die Suche nach Konsens geht. Es geht um Rechte, Kompetenzen und Qualifikationen, die zur aktiven Teilnahme oder passiven Teilhabe in den Kernbereichen der Gesellschaft befähigen. Mit diesen Maßgaben hat die Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Mai 2006 ein umfassendes Integrationskonzept verabschiedet. Mit diesem neuen Grundsatzpapier entwickeln wir unsere Integrationspolitik weiter.

Wir plädieren darin für einen gesellschaftlichen Integrationsvertrag: die aufnehmende Gesellschaft und die Migrantinnen und Migranten müssen sich unserer Überzeugung nach gemeinsam der großen Herausforderung der Integration stellen. Beide Seiten haben ihren Teil dazu beizutragen, dass alle Menschen, die in Deutschland leben, endlich volle Teilhabechancen bekommen.

Bündnis 90/Die Grünen legen mit diesem Papier einen konkreten Integrations-Fahrplan vor. Für die aus unserer Sicht 15 wichtigsten integrationspolitischen Handlungsfelder legen wir für alle am Integrationsprozess Beteiligten offen und transparent dar, welche Aufgabe ihnen zukommt.

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Josef Winkler ist migrationspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Bundestag.