von Corrina Gomani
Integrationspolitik hat Hochkonjunktur. Dabei geht es bei der Formulierung dessen, was Parteien, Organisationen und andere Akteure unter Integrationspolitik verstehen, nicht immer und allein um die Lösung von Integrationsfragen oder die konkrete Ausgestaltung der Integrationsarbeit. Es geht auch um parteipolitische Aufrechnung, um Profilierung, um Verschiebung der Integrationslast, Budgetierungen und um Klientelismus - sowohl binnenstrukturell als auch auf politische Gegnerschaften bezogen.
Dabei wirken manche der Fronten konstruiert, um sie für verbale Politschlachten zu nutzen. In nicht wenigen Detailfragen besteht längst Konsens. Das wird gar nicht gerne zugegeben. Auf der anderen Seite werden die Eckpfeiler der politischen Integrationsgestaltung nicht nur vom Nordrhein-Westfälischen Integrationsminister Armin Laschet festgelegt, sondern auch in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oder Niedersachsen: Einbürgerungstests und Gesinnungsüberprüfungen samt des Gesuchs, bestehendes Recht zu verwässern, indem die deutsche Staatsbürgerschaft auch wieder aberkannt werden kann. Einbürgerung als „Belohnungsakt“ für eine diffus definierte Integration samt Vereidigung zu deutscher Gesinnungstreue, Bußgeldverhängung und Kürzung von Sozialleistungen für „Integrationsverweigerer“ und Bannflüche zur Selbstbeschreibung Deutschlands als ein multikulturelles Land.
Hier ist politischer Widerstand nötig.
Querschnittspolitik versus Ordnungspolitik
Ansonsten ist bislang noch wenig über die konkrete Ausgestaltung künftiger Integrationspolitik bekannt. Erschöpft sich die Debatte also erneut in Verbalattacken, um die Wählerklientel zu bedienen; erschöpft sie sich erneut in bekannter Verbandsrhetorik, üblichen Schuldzuweisungen und schönen Sonntagsreden?
Im Gegenteil.
Denn abgesehen davon, dass die Bundeskanzlerin und die zur Staatministerin aufgestiegene Integrationsbeauftragte zum „Integrationsgipfel“ rufen und Innenminister Wolfgang Schäuble dazu im September „ergänzend“ eine „Islamkonferenz“ abhält, hat die ständige Konferenz der Innenminister in wichtigen Detailfragen schon längst Beschlüsse gefasst. Auch haben die Innenminister der sechs größten EU-Staaten auf ihrem letzten informellen Treffen in Heiligendamm den Integrationsvertrag für Zuwanderer diskutiert. In diesem mittlerweile in aller Munde stehenden Integrationsvertrag sehen sie neben den europäisch zu harmonisierenden Einbürgerungstests für Drittstaatler ein passendes Integrationsinstrument.
Von wegen Integration ist eine politische Querschnittsaufgabe. Integrationspolitik ist zu einer zentralen Aufgabe der Innenminister aufgerückt. Und die verstehen naturgemäß wenig von den originär sozial- und arbeitsmarktpolitischen Implikationen der Integration. Dafür viel von Sicherheit, Ordnung und Besitzstandswahrung.
Besonders hilfreich für diese Verlagerung waren und sind Bedrohungsszenarien, die - medial wohl sortiert und vorstrukturiert - der deutschen Öffentlichkeit immer wieder aufs Neue ausgemalt werden: „Ehrenmorde“ und Zwangsehen, Karikaturenstreit und die Bedrohung und Ermordung von IslamkritikerInnen, gewalttätiges Machogehabe (muslimischer) Jugendlicher, autoritär-männliches Gebaren orientalischer Frauenunterdrücker, Hassprediger und „Parallelgesellschaften“, „Integrationsverweigerer“ sowie kopftuchtragende Mädchen und Frauen, die ihre Opferrolle nicht einmal wahrnehmen und - aktuell besonders entscheidend - nach Hilfe rufende Lehrkörper, die angesichts der wachsenden Probleme mit einer hohen Zahl von Schülern mit Migrationshintergrund kollabieren.
Der innere (soziale) Friede wird so für gefährdet erklärt. Insofern liegt es nahe, Migrantinnen zuvorderst zur sicherheits- und ordnungs-politischen Verhandlungsmasse zu machen sowie den entsprechenden Verwaltungsbürokratien zu unterstellen, anstatt sich mit der Integrationsfrage hinsichtlich ihrer sozial-strukturellen Implikationen oder schicht-spezifischen bzw. soziökonomischen Relevanzen tiefer gehend auseinanderzusetzen.
Für so etwas werden heutzutage gerne Platzhalter gesetzt, wie die hohlen Worte von Toleranz und kultureller Anerkennung, Dialog und Chancengleichheit. Oder das Gebot, Deutsch zu lernen, wird so oft wiederholt, dass alles andere in den Schatten tritt.
Ansonsten sind angesichts der bestehenden Problemlagen Sozialingenieure und keine „Gutmenschen“ gefragt, ist unbedingter Pragmatismus und nicht Multi-Kulti-Gesäusel angesagt.
Wer hält wie dagegen?
Wer trotz der gegenwärtig dominierenden Semantiken, Denk-Logiken und Wahrnehmungsrichtungen immer noch für ein Integrationsverständnis einsteht, das nicht an den unterschiedlichen Herkunftskulturen und sich davon abgeleiteten (Entwicklungs-) Unterschieden und Defiziten, sondern an der unterschiedlichen sozioökonomischen Position der zu Integrierenden ansetzt - immerhin geht es auch um die staatliche Mittelverteilung, die Wahrung eigener Klientel und um Wählerstimmen - sind Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Kirchen. Zudem noch ein paar linke Parteigenossen und last but not least die Grünen.
Doch wie agieren die Grünen? Die sehen sich bekanntlich als Anwälte der MigrantInnen.
Die Bundesfraktion zumindest ordnet sich dem Mainstream unter, anstatt an der allgemein zunehmenden Desintegration in der Gesellschaft rumzukritteln oder an den sozialen Abstiegsprozessen von immer mehr gesellschaftlichen Gruppen. Das überlässt sie getrost der/den Linken. Sie krittelt vielmehr an sich selbst und ihrer Klientel herum.
Für die Bundesfraktion der Grünen ist Integration kein klärungsbedürftiger Begriff mehr, sondern eine kontraktwürdige Leistung von Staat, Gesellschaft und MigrantInnen. Nunmehr mit besonderer Betonung darauf, dass auch Migrantinnen ihre Pflicht zu erfüllen hätten. Deshalb beschließt die Fraktion kurz vorm anstehenden Integrationsgipfel noch mal schnell ein entsprechendes Positionspapier, wo sie gleich mehrfach darauf verweist, dass MigrantInnen ihren „Beitrag zur Entwicklung des Landes“ zu leisten, dessen Gesetze zu achten und sich für dessen Werteordnung zu „öffnen“ hätten. Hiermit leistet sie dem aktuellen Trend ihren Tribut, indem sie Selbstverständlichkeiten so lange kommuniziert, bis sie keiner mehr hören kann oder hören will.
Neupositionierung mit mangelnder Sprachsensibilität
Auch wenn behauptet wird, mit diesem Papier - überschrieben mit „Perspektive Staatsbürgerin und Staatsbürger, für einen gesellschaftlichen Integrationsvertrag“ - wäre ein großer „Schritt nach vorne gemacht“, woran sich anderen Parteien nun messen lassen müssten. In der aktuell hektisch aufgeregten Geschäftigkeit anderer Organisationen, Verbände und Parteien sowie Flut von Informationen, Fragen, Stellungnahmen und Kommentaren, droht es regelrecht unterzugehen.
Gut so, mögen manche denken. Ist das Papier zum Integrationsgipfel, der auch als „Papiergipfel“ bezeichnet wird, doch nicht gerade ein großer Wurf der Partei, die sich darin gefällt, „politische Avantgarde“ zu sein. Vielmehr gleicht es einem etwas verunglückten Gedankenexperiment.Avantgardistisches Gedankengut ist es jedenfalls nicht. In bestimmten Teilaspekten ist es sogar höchst fragwürdig angelegt.
Während gleich mehrfach, fast schon schwulstig, die vermeintlich neue Wahrnehmung von MigrantInnen als staatsbürgerliche Pflichten- und EntwicklungsträgerInnen vorgetragen sowie die Komplexität der Integrationsfrage in eine abnorme „Fahrplan“-Matrix gepresst wird, wird zugleich daran gespart, den Integrationsbegriff hinsichtlich seiner implizit allgemeinen sozialen Frage näher zu konkretisieren.
Und wenn wir BürgerInnen schon auf Integrationsfahrt geschickt werden sollen, wollen wir mehr bzw. genauer wissen, wo die Fahrt eigentlich ihren Anfang und ihr Ende nimmt. Und zu guter Letzt: Wie schnell fahren wir eigentlich?
Warum wird zum Beispiel ausgerechnet in dem Papier der Grünen Bundestagsfraktion die Sprachkompetenz an erste Stelle im Integrationsfahrplan gesetzt und nicht die Antidiskriminierungspolitik? Immerhin ist auf der Alltagsebene auch bei guter Sprachkompetenz (B1 und mehr) ein russischer, türkischer oder anderer Akzent oft ausreichend, um die Wohnung nicht angemietet, den Ausbildungsplatz, die Arbeitsstelle oder den günstigen Geschäftskredit nicht zu bekommen.
Schwerwiegend auch, dass in dem Papier zwischen ImmigrantInnen und DrittstaaterInnen, EU-AusländerIinnen, AussiedlerInnen und irregulären MigrantInnen nicht groß unterschieden wird. Alle werden irgendwie unter den Oberbegriff „Migrantinnen/Migranten“ subsumiert. Ungleiche werden so gleich gemacht, Unterschiede so negiert.
Angesichts solcher Mängel scheint die Fundamentalkritik an dem Papier, dass hier die derzeitige gesamtgesellschaftliche Integrationsproblematik - die uns durch die davon am härtesten betroffenen Bevölkerungsteile umso bewusster werden sollte - keine Erwähnung findet, oder gar die, dass hier lediglich mit einem reduzierten Integrationsbegriff operiert wird, fast schon überflüssig.
An dieser Stelle könnte immer noch mit den Achseln gezuckt und angeführt werden, dass eben nicht überall alles gesagt werden kann. Ein solches Papier auch gar nicht den Raum für so etwas böte. Würde dieses Papier nicht zugleich noch diesen besonderen Duft versprühen, dessen verführerischem Reiz auch immer mehr Grüne unterliegen.
Nach eigenem Bekunden will sich die Fraktion damit nämlich nicht nur in der integrationspolitischen Debatte positionieren, sondern zugleich „neu“ und „besser“ sein. Endlich soll sich vom ideologischen Ballast vergangener Kämpfe gelöst und zu mehr Pragmatismus bekannt werden.
Erklärt dies vielleicht, warum sich in besagtem Papier so viele relativierende „aber“ finden? Ein prägnantes Beispiel:
„Es war und ist nötig, dass wir Migrantinnen und Migranten gegen Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung verteidigen. Heute stellen wir aber fest, dass diese Frontstellung zu lange verhindert hat, dass Migrantinnen und Migranten als das wahrgenommen werden, was sie sind: Bürgerinnen und Bürger diese Landes mit allen Rechten, aber auch Pflichten. Sie müssen Teilhabechancen bekommen, aber auch weiterhin ihren Teil zur Entwicklung des Landes und zu eigenen Integration beitragen.“
Mangelnde Sprachsensibilität oder steht das „aber“ hier doch eher für das ein, wofür es im Normalfall gesetzt wird: Zur Relativierung des zuvor Gesagten, indem es dieses einschränkt oder zumindest teilweise wieder für untauglich oder wenigstens doch nicht für ganz zutreffend erklärt.
Vorweggenommene Option
Würden der Partei nicht noch solche, oftmals als emotionalisierte „Gutmenschen“ an den Pranger gestellten Funktionäre wie Claudia Roth angehören, die sich immer noch in erster Linie als Anwälte der MigrantInnen verstehen und sich auch nicht zu den „modischen“ grünen Selbstdementis herablassen, könnte sich der Eindruck erhärten, mit ihrem vermeintlich bahn brechenden Papier hätte die Bundestagsfraktion sich vorauseilendes Entgegenkommen geleistet und schon mal die „erträumte“ Rolle als Koalitionspartnerin geprobt. Ein Schelm, wer so etwas denkt?
Terminierung, inhaltliche Schwerpunktsetzung und struktureller Argumentationsaufbau des Papiers vorm Hintergrund des erinnerten Koalitionsgeplänkels in Berlin und Frankfurt nötigen durchaus zu solchen Gedankenspielen.
Auch scheint die sonst so gepriesene wie angeprangerte, teils bis zum Exzess ausgelebte Streitkultur der Grünen gerade hier wie weggeblasen. Parteispitze und Parteirat haben sich „trotz strittiger Detailfragen“ grundsätzlich mit dem Papier einverstanden erklärt. Übrige Kritik scheint in den Fachgremien regelrecht verpufft zu sein.
Verlautbarungen wie die von Cem Özdemir in Zeit-Online verstärken den Eindruck noch, bei dem Papier könnte es sich um eine vorweggenommene Option handeln. Er gibt mal eben bekannt, dass wenn sich die Union „ein bisschen“ bewegen und die Grünen „ein wenig bewegen“ täten, „wir zu einem Gesellschaftsvertrag für und in Deutschland“ kommen könnten.
Als wäre der Relativierung im Textwerk des Fraktionspapiers nicht Genüge getan, wird dem noch eins draufgesetzt, indem die Kontroverse zwischen schwarzem und grünem Integrationsverständnis verniedlicht wird.
Nun gut. Auch wenn er sich solche seltsamen Zwischentöne wie „wenig“ und „bisschen“ besser hätte verkneifen sollen, hat Cem zum Glück noch mehr zur Kontroverse gesagt. Die nach außen getragene Kurzbotschaft ist dagegen offenkundig: Irgendwie können wir doch miteinander…. Auf der Arbeitsebene zumindest wäre das durchaus wünschenswert.
Verlieren die Grünen an Profil?
Bei allem Liebäugeln mit so manch smart daher kommendem Christdemokraten sollte aber nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Integrationspolitik trotz Annäherung und wachsendem Konsens nach wie vor gravierende Unterschiede in der Ausgangs- und Motivlage bestehen.
Während die Union mehrheitlich sich immer noch nicht von dem paternalistischen, autoritär- kulturnationalen Habitus sowie dem Konstrukt christlich-deutscher „Leitkultur“ lösen mag, um an MigrantInnen weiterhin unreflektierte Assimilationsforderungen zu stellen, verfolgen die Grünen eine völlig andere Strategie: Migrantinnen nämlich nicht unter Pauschalverdacht zu stellen sowie mit Forderungen und überzogener Erwartungshaltung zu überfrachten, sondern zuvorderst in ihren Potentialen wahrzunehmen und zu stärken sowie darin zu unterstützen, sich selbst helfen zu können. Für Grüne soll das möglichst ohne Vorverurteilungen und Sanktionen ablaufen.
All das ist bei genauem Hinsehen auch aus dem Positionspapier herauszulesen. Anders ausgedrückt: Obwohl mittlerweile auch in grünen Köpfen der höchst fragwürdige Defizitansatz in Sachen Integration Raum greift, suchen sie dennoch in deutlichem Widerspruch zur konservativen Manier, MigrantInnen zuvorderst und systematisch zur Partizipation zu befähigen. Dabei verzichten sie trotz gegenteiligem Anschein immer noch weitestgehend auf die Rhetorik des „Forderns und Förderns“, die bekanntlich dann doch nur in der einseitigen Belegung Machtschwächer mit Sanktionen mündet.
Die Grünen setzen dagegen - während die Union MigrantInnen erst nach erbrachter Anpassungsleistung inkludieren bzw. Partizipation gewähren will - auf positive Anreize und Anerkennungsstrategie. Für sie geht es nach wie vor hauptsächlich um die Schaffung bzw. Ermöglichung von Integrationsvoraussetzungen.
Das lässt nicht zuletzt auch die Grüne Bundestagsfraktion in konkrete Forderungen, wie zum Beispiel die nach Aufstockung des laut Zuwanderungsgesetz gewährten Sprachunterrichts und der weiteren Ausgestaltung der Orientierungskurse münden.
Aus der Defensive heraus sich neu orientieren?
Dennoch bleibt die Frage offen, warum die Grünen das aktuelle Papier zum gesellschaftlichen Integrationsvertrag nicht vornehmlich als das kommunizieren, was es in Wirklichkeit ist: Keine Um- oder Abkehr von ihren bisherigen integrations-politischen Implikationen oder gar das Eingeständnis, bisher einen falschen Denkansatz in der Integrationsfrage gehabt zu haben, sondern die Weiterentwicklung des eigenen integrations-politischen Ansatzes unter Berücksichtigung der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesse.
Das Papier als Beitrag zur längst überfälligen Selbstkritik aufzufassen und als solches der Öffentlichkeit vorzustellen, ist wohl darauf zurückzuführen, dass der gut kalkulierte Beschuss des als „Multi-Kulti-Traum“ diffamierten grünen Gesellschaftsmodells seine Spuren im Selbstbewusstsein hinterlassen hat. Jedenfalls macht eine so suggerierte (Über-) Anpassung den Versuch, sich in der Integrationsfrage neu und besser zu positionieren, gleich wieder zunichte, indem nämlich das bürgerliche Establishment darauf nicht mit Anerkennung, sondern Häme reagiert. Die Grünen sollten stattdessen uneingeschränkt (!) auf ihre bisherigen Erfolge verweisen, nicht zaudern und sich nicht bei einem bestimmten politischen Lager anbiedern.
Immerhin haben sie in der Integrationsfrage wichtige Debatten angestoßen, Leitplanken und Maßstäbe gesetzt. Trotz der zum Teil schon unerträglichen Machtunterlegenheit gegenüber den Volksparteien haben sie verbissen am Zuwanderungsgesetz mitgefeilt. Auch sind sie nicht müde darin geworden, im Tauziehen um das Antidiskriminierungsgesetz ihre Kraft einzusetzen. Überdies ist auch nicht wenig von dem, was die Grünen einfordern und an Analyse bieten, in konservativen Köpfen angelangt.
Insofern können die Grünen also ihre Rolle als kleinste aber feinste Oppositionspartei genüsslich mit Selbstüberzeugung ausfüllen. Das gilt wohlgemerkt heute so gut wie auf allen politischen Ebenen. (Über-) Anpassung schadet der Polit-Psyche nur und macht auf Dauer bedeutungslos! Sicherlich haben die Grünen im Eifer des Gefechts so manchen Teilaspekt außen vor gelassen und in vorsichtiger Abwägung bestimmte Defizite und Problemlagen nicht ausreichend kommuniziert. Das aber auf ihre analytische Unzulänglichkeit, Fehlinterpretation, Multi-Kulti-Träumerei oder gar Blauäugigkeit zurückzuführen, geht völlig fehl.
Das ist alleinig im Licht der historischen Zusammenhänge zu sehen, aus denen heraus sich die deutsche Integrationspolitik entwickelt bzw. nicht entwickelt hat. Das wiederum haben nicht die Grünen, sondern andere Funktionseliten zu verantworten, nicht zuletzt die deutsche Wirtschaft. Ihre Zeche haben nun alle Bürgerinnen zu zahlen: Bei der nachholenden Integration, der verschleppten industriellen Modernisierung ganzer Produktionsbereiche - was unter anderem auf den massenhaften Einsatz billiger ungelernter Arbeitskräfte aus dem Ausland zurückzuführen ist, und den Folgen aus langjährig geübter Selbstgenügsamkeit im Bildungsbereich und der diffusen Bewusstseinslage hinsichtlich des demographischen Faktors.
Heute haben wir es deshalb vielfach mit Problemen der nachholenden Integration (!) zu tun. Das wird fälschlicherweise - wie die Bilder der „türkischen Putzfrau“, des „polnischen Schwarzarbeiters“, der „unterdrückten Muslima“ oder des „griechischen Schulversagers“ auf alle MigrantInnen - auf die gesamte Integrationsfrage projiziert. Nolens volens?
Selbstkritik und Reflexion
Endlich konnte die konservative Entwicklungsblockade aufgebrochen werden, findet ein Politikwechsel statt und soll ein neues Leitbild für Integration geschaffen werden. Und da leisten sich die Grünen nicht nur den Luxus, eine Vorlage für den mittlerweile auch von der Union anvisierten Integrationsvertrag feil zu bieten. Sondern üben zudem - während konservative Kräfte eifrig darum bemüht sind, das neue Integrationsleitbild in ihrer Farbe auszumalen - Selbstkritik und -reflexion. Dass das nun auch noch lauthals nach außen getragen wird, kommt anderen gelegen. Auch den Grünen selbst?
Das mit der Grünen Selbstkritik- und –reflexion stimmt so sowieso nicht ganz. Dann müssten sie sich auch der Aussiedlerpolitik und –integration zuwenden. Problemlagen und Folgekosten gleichen sich hier immer mehr denen der Ausländerpolitik und –integration an. Doch nach wie vor halten die Grünen an der längst überkommenen, typisch deutsch gedoppelten Integrationslogik fest. Auch sprechen sie weiterhin die zu erbringende Integrationsleistungen für und von MuslimInnen bzw. „gläubigen Migrantinnen und Migranten“ an, ohne klare Position in der so genannten Kopftuchfrage zu beziehen oder gar die Frage nach der allgemeinen Rolle der Religion in der heutigen Gesellschaft zu stellen. Stattdessen haben sie lediglich den Islam im Kontext der Gleichstellung und Aufklärung vor Augen.
Nichts mehr zu machen?
So oder so hätte ich mir ein bedachter formuliertes, nach den Zielgruppen besser differenzierteres Positionspapier gewünscht, das nicht nur im Muster des „social engineering“ gestrickt ist, sondern auch eine klare Ansage zur gegenwärtigen Ausrichtung in der Integrations-debatte enthält. Mit anderen Worten: ich hätte mir mehr Ideologiekritik gewünscht.
Von der Bezeichnung „Integrationsfahrplan“ hätte ich abgesehen. Genauso wie von der dualistischen Grundstruktur, zwischen der Rolle der „Aufnehmenden Gesellschaft“ und „(gläubigen) Migrantinnen und Migranten“ zu unterscheiden, ohne dabei auch das Gemeinsame und Wechselseitige herauszustellen.
Grundsätzlich hätte ich mir einen besser reflektierten Umgang mit dem Integrationsbegriff gewünscht: Dieser sollte nicht nur die Rechte und Pflichten des Staates, der Gesellschaft und MigrantInnen beinhalten, sondern auch, dass wir es heute vermehrt mit allgemeinen sozialen und strukturellen Integrationsproblemen zu tun haben. Diese Probleme machen übrigens nicht vor national oder europäisch gesetzten Grenzen halt.
Vieles von dem, was wir als signifikante Probleme bei MigrantInnen diagnostizieren, ist prototypisch für die aktuellen Entsolidarisierungs- und Ausgrenzungsprozesse, die wachsende Hierarchisierung und Segmentierung der sozialen (Herkunfts-) Milieus, Lebenswelten und -stile. Ein Hinweis darauf sowie darauf, dass die Gestaltung von Integrationspolitik nicht von der Migrationspolitik entkoppelt betrachtet werden kann, wäre wichtig gewesen.
Corrina Gomani ist Sprecherin der Niedersächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht von Bündnis 90/ Die Grünen.