Die Anschläge vom 11. September, der Mord an Theo van Gogh, die Bomben in Madrid und London haben die Vision einer multikulturellen Gesellschaft bis weit ins linksliberale Lager hinein erschüttert. Die Furcht vor „Parallelgesellschaften“ und deren Unterwanderung durch radikale Fundamentalisten greift um sich. War Multikulti nur eine Illusion der Toleranz der frühen 80er Jahre, die der härteren Realität einer Einwanderungsgesellschaft unter globalen Bedingungen nicht Stand hält? Welche Konsequenzen sind zu ziehen?
Das Gespräch zwischen AIMAN MAZYEK, OBA ABALI und DANY COHN-BENDIT führte LUDWIG AMMANN, Islamwissenschaftler und freier Publizist.
AIMAN MAZYEK ist Chefredakteur von Islam.de beim Zentralrat der Muslime in Deutschland
DANY COHN-BENDIT ist Co-Vorsitzender der Grünen Fraktion im Europäischen Parlament
OBA ABALI ist Projektleiterin des Deutsch-Türkischen Dialogs bei der Körber-Stiftung
LUDWIG AMMANN: Führt Einwanderung immer zur Herausbildung von „Parallelgesellschaften“?
DANY COHN-BENDIT: Ja, Einwanderung führt immer zu Einwanderervierteln. Man sucht die Leute, die man kennt. So war es auch im jüdischen Viertel im Paris der 30er Jahre, man sprach nur Jiddisch. Zentral ist: Wohin entwickeln sich die zweite und dritte Generation? Die multikulturelle Gesellschaft ist keine Utopie, sie ist Realität – aber wie gestaltet man diese?
AIMAN MAZYEK: Und wie können sich die Einwanderer als Mitgestalter begreifen? Ich erinnere daran, wie viele Jahre sie vom Traum der Rückkehr geprägt wurden.
OBA ABALI, LEITERIN DEUTSCH-TÜRKISCHER DIALOG: Einwanderung ist eine Sache von Generationen. Die Entstehung einer integrierten und vielfältigen Gesellschaft braucht gut hundert Jahre. Das Umdenken, dass Menschen anderer Hautfarbe und Religion deutsch sein können, hat erst begonnen.
COHN-BENDIT: Auch unter den Migranten. Zur Einwanderungsgesellschaft gehören harte Auseinandersetzungen über die Rahmenbedingungen von Einwanderung und Integration und das auf beiden Seiten. Bis Ende der 80er Jahre hatten auch wir die Vorstellung vom Gastarbeiter, der wieder nach Hause geht. Seitdem haben wir begonnen, Einwanderung zu gestalten, also seit gerade mal 15 Jahren, das ist gar nichts.
MAZYEK: Hinzu kommen zwei Entwicklungen: Die mehrheitlich türkischen Einwanderer kamen mit einer für Deutschland fremden Religion und aus einer unbekannten kulturellen Tradition. Rückständigkeit in der islamischen Welt und Anschläge wie der vom 11. September werden vorbehaltlos auch auf die Muslime hierzulande projiziert. Hinzu kommt, dass das politisch konservative Lager Integrations- und Sicherheitspolitik in einen Topf wirft. Das ist fatal.
AMMANN: Terror macht Angst, und so werden die Zuwanderer in Sippenhaft genommen für diejenigen unter ihnen, die unsere pluralistische Gesellschaft bekämpfen.
COHN-BENDIT: Angst schärft aber auch den Blick, etwa auf die Zwangsverheiratung junger türkischer Frauen. Dabei gibt es das hier seit gut zwanzig Jahren, nur hat es die meisten Deutschen nicht gestört. Jetzt werden die Widersprüche der Einwanderung sichtbar. Der Mörder von Theo van Gogh war musterhaft integriert, er konnte perfekt Holländisch, der bayrische Innenminister Beckstein hätte seine Freude gehabt – und dann wurde er radikalisiert durch Identifikation mit dem Weltgeschehen.
MAZYEK: Richtig. Das gehört auch zur Globalisierung: Dieser junge Mann baute sich mit Bildern und Infos aus Satelliten-TV und Internet ein Feindbild. Dabei war er kein radikalisierter Islamschüler, er war Teil der westlichen Gesellschaft, bis er Scharlatanen in die Hände fiel. Es gibt eben in jeder Gesellschaft schwarze Schafe.
COHN-BENDIT: Das geht tiefer als „schwarze Schafe“. Der islamische Fundamentalismus surft auf real existierenden Widersprüchen und Problemen ob in Saudi-Arabien oder im Iran, der Ausbeutung
der Dritten Welt usw. Die Ideologie des islamischen Fundamentalismus ist nicht der Islam, hängt aber am Islam.
MAZYEK: Einverstanden, mit der Präzisierung: Die Ideologie kommt vom Menschen nicht von der Religion.
COHN-BENDIT: Ich kann nicht sagen, das Problem ist der Islam, das wäre unverantwortlich. Ich kann aber auch nicht sagen, es ist nicht der Islam.
MAZYEK: Nein.
COHN-BENDIT: Auch der jüdische Fundamentalismus in Gaza hatte etwas mit der jüdischen Religion zu tun. Als Laizist tue ich mich schwer, da den richtigen Ansatz zu finden.
MAZYEK: Wir sind uns da ganz nah. Es ist eine Herausforderung für die Muslime, die Ideologisierung der Religion aufzuarbeiten, die in den 1950er Jahren in Ägypten begann, Stichwort Muslimbrüder und islamischer Staat, und von der die Fundamentalisten heute noch zehren. Historisch mag das als eine Art Befreiungstheologie in einer Diktatur eine Berechtigung gehabt haben. Aber den Islam als Gegenmodell zum Westen aufzubauen, obwohl er kulturell viel vom Westen adaptiert hat und umgekehrt – das war fatal. Die Politisierung von Religion und die Theologie eines „islamischen Staats“, was immer das heißen mag, ist ein Auslaufmodell und eine falsche Lehre, mit der wir Muslime uns auseinander setzen müssen. Leider befindet sich die islamische Welt nicht in einer geistigen Hochphase, da tun solche Analysen weh. Ich mach den freien Theologen zum Vorwurf, dass sie sich dazu wenig äußern, sich von der Politisierung in Dienst nehmen lassen und kaum Gegenargumente entwickeln.
COHN-BENDIT:Man muss die Tendenzen stärken, die sich mit dem Totalitarismus im Islam auseinander setzen ...
MAZYEK: ... und darauf hinweisen, dass es auch andere Kräfte innerhalb des Islam gibt. Das wäre der erste Schritt, damit der Westen den Islam nicht monolithisch sieht. Denn er merkt nicht einmal, dass er seinerseits diese Dialektik – Islam dort und Westen hier – fördert. Hinzu kommt, dass auch der Westen seine Erfahrungen mit totalitärem Gedankengut gemacht hat. Leider müssen wir feststellen, dass totalitäre und fundamentalistische Gedanken auch in der muslimischen Gesellschaft Einzug gehalten haben. Natürlich ist die Mehrheit friedliebend. Ja, aber es gibt bei einigen eine Affinität…
COHN-BENDIT: …eine klammheimliche Freude…
MAZYEK: …über solche Anschläge. Ich sage das auch in der Moschee: So lange es einen Bodensatz an Schadenfreude gibt, wenn irgendwo eine Bombe hochgeht, so lange haben wir ein Problem, wir, die muslimische Community!
COHN-BENDIT: Gut. Aber wie regt man unter Einwanderern eine Debatte über Zwangsheirat und Fememord an? Der Terrorismus ist ja nicht die einzige Ebene. Wenn ich durch Frankfurt gehe, sehe ich immer mehr Kopftücher. Ich habe lang gebraucht, überhaupt zu akzeptieren, dass ich das sehe. Unsere These, dass sich bei der zweiten und dritten Generation eine offenere Weltsicht entwickeln würde, stimmt nicht. Wie können wir, ohne der Kultur der Einwanderer die notwendige Anerkennung zu versagen, durchsetzen, dass Zwangsheirat und Fememord inakzeptabel sind?
ABADI: Ich habe kein Patentrezept. Um auf den Multikulturalismus zurückzukommen: Es war ein Fehler, dass lange Zeit Zwangsheiraten nach dem Motto akzeptiert wurden: Das ist bei denen eben so. Oder dass man die Entschuldigungen gelten ließ, nach der jemand im Affekt gehandelt hätte: Das ist in dieser Kultur so, da gibt es Fememorde, also: Strafmilderung. Wir haben ein Grundgesetz, das sich an der Unantastbarkeit der Menschenwürde orientiert, das ist die Grenze. Alles, was diese verletzt, ist unzulässig, also auch die Beschneidung von Frauen, Zwangsehen und andere Einschränkungen der Freiheit.
COHN-BENDIT: Wie weit geht das? Die Debatte fängt beim Kopftuch an. Da hört man oft: Was soll das Verbot? Dann geht sie weiter:Welche Ausnahmen dürfen an Schulen für türkische Mädchen gelten? Dann landen wir beim Biologieunterricht und sind sprachlos!
MAZYEK: Halt, Zwangsehe und Kopftuch sollte man nicht durcheinander werfen. Ich unterstelle, dass es unter den Kopftuchträgerinnen in Frankfurt viele gibt, die aufgeklärt, mit Topbildung und emanzipiert das Kopftuch tragen. Obwohl ich bei meiner letzten Reise in Ägypten erstaunt war über die Umkehr der Verhältnisse: Vorzehn Jahren etwa waren 90:10 ohne und heute sind 90:10 mit Tuch. Ich habe meine Schwierigkeiten, das als Ausdruck reiner Religiosität zu begreifen, aber letztlich steht es jeder Person frei anzuziehen, was sie will. Trotzdem müssen wir einen Großteil der Muslime als Menschen begreifen, die versuchen, Modernität und Religiosität unter einen Hut zu bringen. Damit tun wir uns in Europa schwer.Wir dachten, Religion sei Vergangenheit, und sind nun mit einer neuen Form der Religiosität konfrontiert, auch unter Juden und Christen, aber unter Muslimen ist dies besonders offensichtlich durch das Kopftuch. Wir sollten dabei die Religion durchaus als Partner im Kampf gegen Zwangsehen, Ehrenmorde und Unterdrückung begreifen, eine Vorstellung, die einigen schwer fällt.
COHN-BENDIT: In meiner Zeit als multikultureller Dezernent in Frankfurt bin ich auf Grundeis gelaufen, als ich die Moscheen gegen diese Verhältnisse zu mobilisieren versuchte.
ABADI: Aber heute hat Necla Kelek ihr Buch gegen Zwangsheirat in einer Hamburger Moschee-Vereinigung vorgestellt. Die Diskussion im Inneren der Community hat begonnen.
MAZYEK: Es gibt viele Eltern, die sich vom Grundgesetz nicht zur Räson bringen lassen – wohl aber, wenn man ihnen sagt: So und so steht das im Koran.
COHN-BENDIT: Die Mehrheitsgesellschaft hat Angst und ist ungeduldig geworden. In vielen Stadtteilen scheint die Lage ausweglos.
MAZYEK: Ja, wir haben kaum noch Zeit. Wir haben zwanzig Jahre in der Community nicht gehandelt, und die Mehrheitsgesellschaft hat auch gepennt, und nun will sie Ergebnisse und droht, die Daumenschrauben
anzuziehen – was die Debatte nicht befördert.
COHN-BENDIT: Wir müssen die Auseinandersetzung zwischen und in den Communities suchen und diesen liebenden christlich-jüdischen Blick „Wir sind doch alle Brüder, wenn wir uns die Hand geben, wird alles gut!“ aufgeben. Das hilft nicht mehr. Es gibt rassistische Widersprüche bei uns Eingesessenen, wir haben vor Fremden Angst. Und es gibt Strukturen bei den Einwanderern, von denen sich unsere Gesellschaft befreit hat und die jetzt zurückkehren. Aber man kann Frauenemanzipation der islamischen Welt nicht aufzwingen, die muss durchlebt werden. Man muss den einen sagen: Leute, ihr sagt „Multikulti ist am Ende“, das könnt ihr euch wünschen, aber es bringt nichts! Und den anderen: Einwanderung ist auch ein Anspruch an euch, die anderen müssen nicht nett zu euch sein! Einwanderung ist ein harter Kampf für die Einwanderer.
MAZYEK: Für alle. Ihr Ansatz, Probleme zu benennen, ist konstruktiv, die Leitkulturdebatte dagegen destruktiv. Es ist eine Ausgrenzungsdebatte.
ABALI: Die Mehrheitsgesellschaft denkt, dass Integration irgendwann abgeschlossen sei. Diesen Prozess muss man unterstützen, es geschieht nichts von allein. Es wird auch immer wieder neue Probleme geben. Man darf aber nicht nur die Probleme sehen, sondern auch das Positive, etwa die „Hamburger Tulpe“ für deutsch-türkischen Gemeinsinn, die erfolgreiches Miteinander auszeichnet.
AMMANN: Damit zurück zur Ausgangsfrage: Was tun, wenn die dritte, hier geborene Generation
weniger Deutsch spricht als die vorangegangene?
COHN-BENDIT:Wir haben Fehler gemacht, als wir die Pflicht der Einwanderer, Deutsch zu lernen, als Assimilationszwang ablehnten –eine unsägliche Debatte. In den USA will jeder Englisch lernen, in
der zweite Generation können es alle. Wer nach Amerika kommt, will Amerikaner werden, so funktioniert das. Wer nach Deutschland will, muss Deutsch können. Da haben wir versagt.
MAZYEK: Die islamischen Gemeinden auch! Dabei müssen Muslime in England Englisch sprechen, was denn sonst. Da haben beide Gesellschaften geschlafen, und das Thema Integration auf die nächsten zwanzig Jahre verschoben.
COHN-BENDIT: Dazu kommt, dass sich die Arbeitslosigkeit in diesen zwanzig Jahren dramatisch verstärkt hat, was besonders die Einwanderer trifft. Lehrer, gerade an Grundschulen, sind mit multikulturellen Klassen überfordert und werden mit irrsinnigen Problemen allein gelassen. Die Schule lässt die Migranten fallen,das verfestigt das Bewusstsein, nicht dazu zu gehören.
OJA ABALI: Die multikulturelle Ausbildung der Lehrer beginnt erst. Wir müssen daran arbeiten, dass sich Menschen anderer Herkunft mit dem Deutschsein identifizieren können. Das geht nur, wenn sie als Deutsche willkommen sind. Daran hakt es.
MAZYEK: Die Herkunftssprache wird oft als etwas betrachtet, das nicht hierher gehört. Die neue Kultur wird nicht als Bereicherung verstanden. Jetzt sind wir stolz, dass ein deutscher Regisseur bei der Berlinale gewonnen hat. Das war ein Türke!
OJA ABALI: Nein, ein Deutscher!
COHN-BENDIT: Der ist nicht mehr Türke, sondern Deutscher türkischer Abstammung, der aus seiner bikulturellen Identität irrsinnige Kraft schöpft.
MAZYEK: Dann bin ich auch Deutscher.
COHN-BENDIT: Bist du auch!
MAZYEK: Aber viele packen es nicht, weil ihnen gesagt wurde: deine andere Kultur ist minderwertig und gehört nicht hierher.
COHN-BENDIT: Einverstanden. Ich will ja nur, dass Deutschsein nicht mehr bedeutet, dass man unbedingt bayrischer Abstammung sein muss.
Das Gespräch ist erschienen in der Zeitschrift der Heinrich-Böll-Stiftung boell.thema, Ausgabe 3, Dezember 2005
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