Von Frank-Olaf Radtke
Semantische Anleihen
Die „multikulturelle Gesellschaft“ ist ein semantischer Import aus dem angloamerikanischen Raum. Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts schienen sich aufgeschlossene Pädagogen, Volkshochschulreferenten, evangelische Akademieleiter, vorausschauende Politikmanager, Zeitschriftenherausgeber und wachsame Publizisten mit den Kirchen, Gewerkschaften und politischen Stiftungen zu einem Wettlauf entschlossen zu haben, um das migrationsbedingte Phänomen „kultureller Vielfalt“ in deutschen Großstädten in Interviews, Referaten und Sammelbänden medienwirksam einzukreisen. Nach nordamerikanischen, australischem und englischem Vorbild wurde das Konzept des „Multikulturalismus“ zum Programm derjenigen, die einer „ideologisch motivierten Verleugnung der Realität“ der Zuwanderung, dreister Ausländerfeindlichkeit, welche mit den Namen Solingen, Mölln und Hoyerswerda u. a. belegt wurde, als programmatische Alternative die positive Idee einer Gesellschaft entgegensetzen wollten, in der, wenn schon nicht Harmonie zwischen den Zugewanderten und den Ansässigen, wenn schon nicht Toleranz und gegenseitiges Verständnis herrschten, dann doch wenigstens Spielregeln eingeführt und Vorkehrungen zur Lösung der allfälligen „Kulturkonflikte“ getroffen werden sollten.
Nationale Varianten des Multikulturalismus
Abgesehen von wenigen seltenen Ausnahmen in der sozialanthroplogischen Literatur der zwanziger Jahre gab es vor dem Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts weder in Nordamerika noch in Australien oder in den Metropolen Europas ein Konzept des EthnoPluralismus, der jetzt vereinheitlichend als ”Multikulturalismus” bezeichnet wird, aber doch ganz unterschiedliches meint. In jeder einzelnen nationalen Variante war der Versuch, eine Politik der Anerkennung ethnischer Differenzen durchzusetzen, anders motiviert:
- Im Fall der USA war ”Multiculturalism” die eigennützige Antwort weißer Einwanderer aus SüdOstEuropa auf das equalrightsmovement der bis dahin durch offizielle Rassentrennung von politischen und sozialen Rechten ausgeschlossenen schwarzen Minderheit. Die Anerkennung der „ethnische Zugehörigkeit“ der verschiedenen Einwanderergruppen wurde in der Folge zu einem neuen Medium sozialer Auseinandersetzungen um Verteilungsgerechtigkeit (affirmative action), das heute neben Ethnizität auch Geschlecht (gender) und sexuelle Orientierung einschließt.
- In Australien war ”Multikulturalismus” Teil regierungsamtlicher Anstrengungen, den traditionell verbreiteten und im Denken der Mehrheitsbevölkerung tief verwurzelten weißen Rassismus zu dämpfen, um mit der Gruppe der ursprünglichen Einwohner (aboriginals) moralisch ins Reine zu kommen, vor allem aber um die ökonomisch dringend erwünschte Zuwanderung aus den benachbarten asiatischen Ländern gegenüber den Vorbehalten der ansässigen Bevölkerung zu legitimieren.
- Der Fall des dritten großen Einwanderungslandes Kanada, das aus Ureinwohnern, „Gründungsnationen“ und Einwanderern besteht, liegt wegen der QuebecFrage und der im Raum stehenden Sezessionsdrohung von Teilen der frankophonen Bevölkerung noch einmal anders. Hier ging es um die paradoxe Einheit der Föderation in Vielfalt.
In Westeuropa haben die ehemaligen Kolonialmächte England, Frankreich, Belgien und die Niederlande, die alle nach der DeKolonialisierung in den sechziger Jahren Einwanderung mehr oder minder nur „erlitten“ hatten, das Konzept des „Multikulturalismus“ wiederum auf sehr unterschiedliche Weise aufgegriffen, um im Kontext ihrer Möglichkeiten und Gegebenheiten mit der ungewollten Veränderung der religiösen und sprachlichen Komposition ihrer Bevölkerungen umgehen zu lernen.
Die multikulturelle Provokation
Die alte Bundesrepublik Deutschland hatte sich das Problem „kultureller Vielfalt“ ungewollt durch eine eindimensional ökonomisch angelegte Politik der Anwerbung von sogenannten „Gastarbeitern“ seit Mitte der fünfziger Jahre eingehandelt. Gegen die „konservative Lüge“, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, verwiesen die Gesellschaftsdesigner nun auf die Bevölkerungsstatistik, in der unleugbar Wanderungsgewinne verzeichnet waren. Anläßlich von „Tagen des ausländischen Mitbürgers“ stellten die Kritiker der ideologischen Abdunklung der demographischen Fakten die ebenso programmatische Behauptung: „Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft!“ entgegen und machten alle publizistischen Anstrengungen, den Nichtwissenden die „bereits multikulturelle Wirklichkeit“ bewußt zu machen.
Es war das pädagogischmoralisch entschlossene Deutschland, das sich aus Sorge vor einem wieder erstarkenden Nationalismus und Rassismus nach dem Niedergang des Sozialismus und dem damit verbundenen Utopieverlust seit 1989 auf der Seite des „Multikulturalismus“ versammelte und eine semantische Barriere gegen zu hohe Assimilationserwartungen an die Zugewanderten und die Gefahr der kulturellen Nivellierung aufzurichten suchte. Seit nicht mehr klar war, was in Zukunft als „fortschrittlich“ gelten konnte, wurde dem allgegenwärtigen SchwarzRotGold der wiedergewonnenen nationalen Einheit Anfang der neunziger Jahre das bunte Banner der kulturellen Vielfalt entgegengehalten. Die behauptete „multikulturelle Wirklichkeit“ sollte von der Bevölkerung erkannt, akzeptiert und toleriert werden. Deren Ängste vor „Überwanderung und Überfremdung“, wie der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble sich ausgedrückt hatte, wollte man durchaus ernst nehmen, aber eben nicht den „Rechten“ überlassen. Mittel der Wahl sollten öffentliche Aufklärung und Interkulturelle Erziehung sein.
Vorhersehbare Ernüchterung
Nur fünfzehn Jahre später hat sich die Diskussionslage grundlegend geändert. Die enthusiasmierte neue „Linke“, die sich in einem rotgrünen Regierungsprojekt im Namen der Menschenrechte, des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und der Anerkennung von Volksgruppen gerade für ethnische Differenzen und kulturelle Identitäten im eigenen Land erwärmen wollte, mußte mehrere ernüchternde Erfahrungen machen. Auf dem Balkan, im Kaukasus und im Baltikum konnte man erleben, wohin die Anerkennung von „Volksgruppen“ im Namen des Selbstbestimmungsrechts führen kann. Das Wort „ethnisch“ verband sich in Bosnien und dem Kosovo erneut mit der barbarischen Praxis von „Säuberungen“ und einer Wiederkehr eines aggressivvölkischen Nationalismus, der sich in blutigen Bürgerkriegen überall auf der Welt entlädt.
Selbst in den demokratisch verfaßten Staaten NordAmerikas oder in den als vorbildlich geltenden Nachbarstaaten England und den Niederlanden konnte man sehen, wie plurale Gemeinwesen, die rassische, ethnische, kulturelle und religiöse Differenzen sozialpolitisch anerkennen, Konflikte auf diese Weise eher verschärfen und tendenziell unlösbar machen. Sich unerträglich steigernde Spannungen zwischen „ethnischen Kollektiven“ am Rande der Städte, die sich in plötzlichen riots entluden, ein frei gewählter Separatismus sich selbst ethnisch identifizierender Gruppen, der auch vor Colleges und Universitäten nicht halt machte, eine bigotte Diskurskontrolle der political correctness, welche die Sprachmacht der Mehrheit mit Sprachregelungen durchbrechen wollte, schienen in den USA zeitweise zu cultural wars zu führen; jedenfalls haben „ethnisch“ aufgeladene Auseinandersetzungen das öffentliche Klima vergiftet und die Betonung von Differenz und die Anerkennung von Gruppenrechten, sei es im Feminismus oder im „Multikulturalismus“, massiver Kritik ausgesetzt. Der Multikulturalismus erwies sich als ein von den Füssen auf den Kopf gestellter Nationalismus.
Verpaßte ideologische Abrüstung
Die politischen Befürworter des „Multikulturalismus“ konnten vor ethnologischem Denken auch und gerade im Kontext von transnationaler Wanderung gewarnt sein. Seit Max Weber wissen Soziologen um die soziale Brisanz kultureller, religiöser oder sprachlicher (Selbst)Unterscheidungen, die zur ethnischen Vergemeinschaftung genutzt und als Ressource zur sozialen Mobilisierung verwendet werden können. Um Verdinglichung und Essentialisierung solcher Differenzierungen zu vermeiden, werden sie von der Soziologie als sozial hervorgebrachte semantische Unterscheidungen behandelt, deren Gebrauch beobachtet werden kann. Nicht umsonst hat Niklas Luhmann „Kultur“, die zur beliebigen Unterscheidung von Großkollektiven verwendet werden kann, nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts der Nationalstaaten „als einen der schlimmsten Begriffe“ bezeichnet, die je erfunden worden seien. Als nach dem 2. Weltkrieg ideologisch abgerüstet und von einer UNOKonferenz der Begriff der „Rasse“ als unwissenschaftlich dekonstruiert und geächtet wurde, blieben andere Begriffe aus dem Arsenal des Nationalstaates wie „Kultur“ oder „kulturelle Identität“ leider unbeachtet, die nun erneut auch von Wohlmeinenden in Umlauf gesetzt und als funktionale Äquivalente für Aus und Abgrenzungen benutzt werden können.
Die Verteidigung der Kulturnation
Politische Opponenten, welche die strategische Kampagne des „Multikulturalismus“ zur Durchsetzung einer neuen Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Anfang an arwöhnisch verfolgten und von Beginn an vehement bekämpften, beharrten ihrerseits auf der Alternativlosigkeit des ethnisch homogenen Nationalstaates in Gestalt des „Vaterlandes“ mit seiner „Muttersprache“, der seine Grundlagen aus gemeinschaftlich geteilten, kulturell verankerten Werten bezieht. Die Kritik des Multikulturalismus wurde im Verlauf der Jahre in der Debatte über den Zustand unseres Gemeinwesens bei immer neuen Gelegenheiten in forderndem, zunehmend offensivem Ton vorgetragen. Mal waren der Anlaß „multikulturelle Streetgangs“, welche in Publikumsmedien die veröffentlichte Meinung erregten, mal war es der „islamische Fundamentalismus“, der sich bei einer Befragung von Schulklassen in erhöhten Werten jugendlicher Gewaltbereitschaft ausdrückte, oder es war die Unsicherheit über die Motive religiös begründeter Verhüllung bei angehenden Lehrerinnen, der schließlich zu einem spektakulären Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht führte, welches dem deutschen „Kopftuchstreit“ allerdings nur ein vorläufiges Ende setzen konnte.
Der ebenso symbolische wie todbringende Angriff vom 11. September 2001 auf das World Trade Centre in New York hat aus der Sicht der Kritiker den multikulturellen Illusionen ein Ende und den „Kampf der Kulturen“ zur scheinbar unausweichlichen Realität gemacht. Längst begnügen sich die Kritiker, die nun die Begriffe „Leitkultur“ und „Parallelgesellschaft“ erfanden, nicht mehr mit hämischen Glossen und rechthaberischen Seitenhieben auf die „multikulturellen Spielwiesen“ des grünalternativen Milieus. Alle Versuche einer pluralistischen Integration vor allem der „Muslime“ seien nach den Anschlägen von Madrid 2003 und London 2005 erkennbar mißlungen, die Idee der multikulturellen Gesellschaft sei auf der ganzen Linie gescheitert, statt dessen seien wir nun allenthalben mit „islamischen Parallelgesellschaften“ konfrontiert, in denen scheinbar andere Regeln des Zusammenlebens gelten – so, oder so ähnlich lauten die neuesten Einsichten in den Zustand der Republik, auf den sich in kurzer Zeit der politische und mediale Konsens eingependelt zu haben scheint. Nun wird ein neues Verständnis, ja ein „neues Regime“ der Integration verlangt, dem sich die de facto Zugewanderten durch obligatorische Sprach und Integrationskurse zu unterwerfen hätten. Vor dem Hintergrund der neoliberalen Ideologie des „fordernden Sozialstaates“ können nun die Erwartungen an die Zuwanderer und ihre Integrationsbereitschaft heraufgesetzt und Sanktionen im Falle der „Integrationsunwilligkeit“ angedroht werden.
Nationale Selbstvergewisserung
Mit etwas Distanz zu den Debatten um die Einwanderung in Deutschland kann man in der Rückschau sehen, daß der „Multikulturalismus“ ,wie in den Ländern, in denen er entstanden ist auch, von verschiedenen politischen Gruppierungen der Mehrheit als ein Medium der Selbstbeschreibung und der Selbstverständigung der alten und neuen Bundesrepublik genutzt worden ist. Migranten haben sich an dieser Debatte, die über sie geführt wurde, nicht beteiligt. Ähnlich wie die andauernde Auseinandersetzung über die nationalsozialistische Vergangenheit, in der das nationale Selbstverständnis mit hoher moralischer Verbindlichkeit rückschauend verhandelt wird, geht es in der Debatte um Einwanderung, Integration und die Ausformung des Pluralismus prospektiv um das Aushandeln von Entwicklungsperspektiven, Werten und Normen angesichts einer sich rasant verändernden Welt, in der auf Traditionen kein Verlaß mehr ist. Dabei zeigt sich, daß Opponenten und Proponenten des Multikulturalismus sich nur spiegelverkehrt aus dem gleichen semantischen Repertoire des Nationalismus bedienen.
Um die Jahreswende 2004/2005 wurden bezeichnender Weise zum Auslöser einer aufgeheizten Debatte nicht die umstrittenen Regelungen des schließlich in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes, das als politische Neuerung erstmals ein eher symbolisch angelegtes Integrationsprogramm vorsah. Vielmehr erregten Kriminalfälle die Öffentlichkeit: ein Mordanschlag auf einen niederländischen Filmemacher und die anschließenden politischen Turbulenzen in den Niederlanden, sowie ein sogenannter „Ehrenmord“ an einer alleinerziehenden kurdischen Mutter in Berlin. Jetzt konnten die Niederlande oder die Situation in Kreuzberg diskursstrategisch kurzerhand als Menetekel dafür in die Debatte eingeführt werden, wie die Integration mißlingen und es zur Herausbildung von eben jenen „Parallelgesellschaften“ in der Einwanderungsgesellschaft kommen könne, vor denen die Konservativen schon lange und immer wieder gewarnt hatten. Beide Taten, dazu der Hilferuf des Kollegiums einer Neuköllner Hauptschule, boten eine Gelegenheit, auch in Deutschland der Diskurshoheit des „Multikulturalismus“ ein Ende zu machen.
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Frank-Olaf Radtke ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.