Was ist los in Frankreich
Von Dietmar Loch
Ende Oktober 2006: Tragische Szenen aus einer Vorstadt von Marseille. Eine junge Frau wird in einem von Jugendlichen angezündeten Bus lebensgefährlich verletzt. Brennende Busse auch in den Randbezirken von Paris. Gespannte Atmosphäre. Brechen in den banlieues die nächsten riots aus?
Diese Vorfälle erinnern an die gewaltförmigen Ausschreitungen vom Herbst 2005, die zu einem mehrwöchigen Flächenbrand führten. Einerseits wurden diese émeutes durch den französischen Innenminister Nicolas Sarkozy geradezu provoziert, als er die in den Vorstädten lebenden Jugendlichen als „Gesindel“ bezeichnete. Andererseits hatte die französische Regierung als Reaktion auf die Unruhen einen Aktionsplan zugunsten dieser benachteiligten Quartiere verabschiedet, der u.a. Folgendes beinhaltete:
- Erhöhung der Polizeipräsenz und vorübergehende Verhängung des Ausnahmezustandes;
- Freigabe der zuvor gekürzten Mittel zur stadtteilnahen Arbeit der Vereine;
- Maßnahmen zur Förderung von betriebsnaher Ausbildung und Arbeit;
- Erste Überlegungen zu Maßnahmen positiver Diskriminierung (z.B. Anonymisierung von Bewerbungsverfahren);
- Verbesserung der Bildungsförderung in den Problemvierteln.
Gewiss, es wurden wieder politische Zeichen gesetzt. Doch haben diese Maßnahmen etwas verändert?
Ritualisierte Politikzyklen
Es wäre illusorisch zu glauben, dass innerhalb eines Jahres die Lebenssituation in den Vorstädten verbessert werden könnte. Denn trotz der über zwanzigjährigen französischen Stadtpolitik haben die Arbeitslosigkeit und die diversen Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung nicht abgenommen. Im Gegenteil, die gesellschaftlichen und räumlichen Spaltungstendenzen sind stärker geworden, wie bereits im Jahr 2004 ein Bericht des Ökonomen Jean-Paul Fitoussi verdeutlichte.
Dabei sind die französischen Städte - und nicht nur sie - zunehmend dreigeteilt: In den Zentren leben die wohlhabenden, transnationalen Leistungseliten, am Rande die verarmenden classes populaires und im städtischen Umland verstreut die Mittelschichten. Man muss die banlieue in diesen gesamten Stadtkontext stellen. Sage mir wo du wohnst, und ich sage dir wer du bist! Der Wohnort verdeutlicht einen sich verräumlichenden, sozialen Separatismus in der Stadtgesellschaft. Gebunden an die soziale Schicht, übt der Wohnort einen starken Einfluss auf die Zukunftsaussichten seiner Bewohner aus. In diesem hierarchischen Gefüge stehen die Vorstädte ganz unten.
Vor diesem sozial-strukturellen Hintergrund haben sich nun über die Jahre hinweg die Beziehungen zwischen der gesellschaftlichen Nachfrage und dem politischen Angebot in den Vorstädten nach folgenden Muster ritualisiert: Die riots verdeutlichen medienwirksam die strukturelle Misere. Darauf folgen politische Versprechen, die sich vorübergehend in erhöhter Mittelzuweisung und erneuerten Maßnahmen der Stadtpolitik konkretisieren, aber bald wieder verblassen.
Gelegentlich kommt es in diesem Zeitraum zu kollektiven, gewaltfreien Aktionen der Jugendlichen, die in manchen Fällen sogar zu Anerkennungskonflikten und Vermittlungsaktionen mit den politisch Verantwortlichen in den Kommunen führen. Dennoch brechen alsbald wieder riots aus. Das einzig Neue der Ausschreitungen von 2005 lag darin - und das ist besorgniserregend genug -, dass sie die bisherigen émeutes in Dauer und geographischer Ausdehnung weit übertrafen.
Zurück zu den Maßnahmen: Zwar kann nun die französische politique de la ville seit Anfang der 80er Jahre viele staatliche Programme und originelle Initiativen im Bereich der Wohnungs-, der Schul-, der Beschäftigungs- und der Sicherheitspolitik sowie im Bereich der Förderung politischer Beteiligung aufweisen. Doch nimmt man den eingangs erwähnten Aktionsplan genauer unter die Lupe, lassen sich langfristig betrachtet folgende Beobachtungen machen: Die vor einigen Jahren noch existierenden Präventionsmaßnahmen der Polizei sind einer zunehmenden Repressionspolitik gewichen. Dabei hat die Verhängung des Ausnahmezustandes koloniale Erinnerungen aus der Zeit des Algerienkrieges wachgerufen.
Was eine erfolgreiche Ausbildungs- und Beschäftigungspolitik betrifft, wird diese noch immer durch die mangelnde Angleichung von Schulausbildung und Angebot auf dem Arbeitsmarkt blockiert - ein „duales System“ der Berufsausbildung zieht erst langsam in Frankreich ein. Gleichzeitig investieren die Unternehmen kaum langfristig in den in den Vorstädten errichteten Freihandelszonen, in die sie durch Steuerbefreiung gelockt werden sollen. Auch sind die sogenannten „Bevorzugten Erziehungszonen“ der Schulpolitik gescheitert, sie müssen neu konzipiert werden.
Schließlich verdeutlichen die Reflexionen zur positiven Diskriminierung zwar Bewegung im „farbenblinden“ Frankreich, wo der egalitäre Diskurs der politischen Eliten schon lange nichts mehr mit der Realität rassistischer Diskriminierung zu tun hat. Doch - und das ist das Paradox sowie ein Erfolg des „französischen Modells“ - wird positive Diskriminierung nach ethnischen Kriterien von den assimilierten Meinungsführern in den Vorstädten gar nicht gefordert.
Als eindeutig positiv können dagegen die - wenn auch geringen - Subventionen für die Vereine bewertet werden, denn in den Vorstädten herrschen entgegen den von den Medien vermittelten Bildern nicht nur Gewalt und Desorganisation, sondern auch zahlreiche Initiativen seitens der Bevölkerung.
In diesem skizzierten Dschungel der Stadtpolitik vermag inzwischen keiner mehr eine Gesamtbilanz zu ziehen. Wer ist schon in der Lage, die politique de la ville zwischen glaubwürdiger Sozialpolitik und einer zum Ritual gewordenen politischen Inszenierung genau zu verorten. So geht es im französischen Beispiel zum einen darum, wie über eine zu reformierende Sozialpolitik das „abgehängte Prekariat“ in den europäischen Gesellschaften überhaupt erreicht werden kann. Andererseits aber stößt der politische Beobachter auch auf eine zur Sicherheitsfrage reduzierte Kontrollpolitik gegenüber der Unterschicht, vor allem dann, wenn die banlieue vor Wahlen politisch instrumentalisiert wird. Der Präsidentschaftswahlkampf hat schon begonnen.
Präsidentschaftswahl 2007: der Platz der banlieues
Das Thema der Inneren Sicherheit steht für die „Angst vor den banlieues“. In den politischen Diskursen wird dieses Thema indirekt oder direkt mit demjenigen der Einwanderung und des Islam assoziiert.
So ist die insécurité bereits zu einem der zentralen Themen des angelaufenen Wahlkampfes für die Präsidentschaftswahlen von 2007 avanciert. In diesem Kontext setzt der amtierende Innenminister Nicolas Sarkozy als einer der potentiellen Präsidentschaftskandidaten der Rechten weiterhin auf seine entschiedene Law and Order - Politik. Der rechtsextreme Front national (FN) wartet dagegen als „Original“ einer solchen Politik auf den richtigen Moment der Mobilisierung. Dabei sitzt der Schock des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl von 2002 tief im kollektiven Gedächtnis der Nation. Denn Jean-Marie Le Pen, Vorsitzender des FN, war unerwartet mit 17% der Stimmen zweitstärkster Kandidat geworden - nach dem amtierenden Staatspräsidenten Jacques Chirac und vor dem Kandidaten der Sozialisten.
Was nun die Linke betrifft, hat sie schon seit langem den Kontakt zu den Vorstädten verloren. Einerseits tauchen nun auch bei ihr populistisch-autoritäre Angebote an die verlorene Wählerschaft auf, so z.B. der Vorschlag besonderer Erziehungsmaßnahmen für delinquente Jugendliche. Andererseits sollen, wie die noch nicht designierte sozialistische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal vorschlägt, plebiszitäre Elemente zur „Wiederbelebung“ der französischen Demokratie eingeführt werden. Dazu zählt die Bewertung gewählter Abgeordneter durch Bürgerkommissionen während ihres Mandats. Es geht darum, die besonders in den Vorstädten sichtbare Kluft zwischen politischer Klasse und Bevölkerung zu verringern.
Ob die Bürger in den marginalisierten Quartieren überhaupt noch auf politische Angebote reagieren, bleibt abzuwarten. Viele haben sich bereits seit längerer Zeit für die Exit-Option entschieden: Protestwahl für den Front national, Rückzug ins Quartier oder Wahlenthaltung. Zur politischen Klasse hat man das Vertrauen verloren, es grassiert eine gewisse Gleichgültigkeit. Doch gibt es auch in Distanz zur Parteiendemokratie demokratische, assoziative Formen von Politik, wenn sich Bewohner der Vorstädte zu Vereinen zusammenschließen. Können solche Beteiligungsformen die intermediären Instanzen zwischen Bürger und Staat neu beleben oder gar das Vertrauen zu den politischen Eliten wiederherstellen?
Von Frankreich lernen
Was kann man von Frankreich lernen? Die soziale und räumliche Spaltung der französischen Gesellschaft ist mit der Entwicklung in Deutschland nicht zu vergleichen. Dennoch gerät auch diesseits des Rheins die Bildung einer neuen Unterschicht ins Licht der Öffentlichkeit. So lassen sich trotz aller Unterschiede die Folgen der städtischen Segregationsprozesse vergleichend betrachten, gerade auch mit Blick auf die Stadtpolitik und - angesichts der kränkelnden Parteiendemokratie - hinsichtlich der gegen die Ausgrenzung gerichteten assoziativen Beteiligungsformen.
Denn selbst wenn die französische politique de la ville noch immer zu zentralistisch und zu technokratisch ist, gilt es, die Erfahrungen dieser Querschnittspolitik aufzugreifen, in ihren Konzepten und für die einzelnen Politikbereiche (Schule, Beschäftigungspolitik, Folgen von Prävention und Repression, etc.) Zudem zeigt das französische Beispiel, wozu es führt, wenn mehr Eigenverantwortung in die Hände von Bürgergemeinschaften gelegt wird, damit anstatt der Gewalt politisch verhandelbare Anerkennungskonflikte entstehen.
Interessant ist hier, dass sich die Jugendlichen mit Migrationshintergrund mit der politisch definierten französischen Nation identifizieren, wenn auch negativ im Fall der geballten Wut, die sich bei den Ausschreitungen gegen die Institutionen des Staates richtet und weniger gegen Gruppen von Gleichaltrigen mit anderer ethnischer Herkunft, wie dies eher in Deutschland der Fall ist. So ist zu fragen, wie sich die Frustration der Jugendlichen in politischer Hinsicht kanalisieren lässt, eine Frustration, die aus der Spannung zwischen einerseits den Erwartungen an den Staat und andererseits den Erfahrungen sozialer Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung resultiert?
Die Möglichkeit der politischen Identifikation mit der französischen Staatsbürgernation hat bereits mehrere kollektive Aktionen entstehen lassen. Sie reichen von der Bürgerrechtsbewegung der 80er Jahre (Beurs-Bewegung) über die religiöse Mobilisierung in den 90er Jahren bis zu jüngsten Aktionen, die sich gegen den neo-kolonialen Politikstil der politischen Klasse richten. Zwar sind für die Meinungsführer die Margen der politischen Mobilisierung zwischen dem spontanen gewaltförmigen Protest und dem Rückzug der Jugendlichen gering.
Dennoch liegt die Aufgabe vor Ort zum Beispiel darin, die Jugendlichen dazu zu bringen, sich in die Wahllisten einzuschreiben. Hier gibt es erfolgreiche Beispiele aus den Pariser Vororten. Wenn sich nur ein Teil der „gefährlichen Klassen“ an den Präsidentschaftswahlen beteiligen würde, bekäme der verzweifelte, zornige Hilferuf aus den banlieues eine gestaltende politische Stimme. Ist dies nur eine naive Hoffnung oder doch mehr?
Zum Thema erschienen: Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt. Eine Fallstudie in der Vorstadt Vaulx-en-Velin. Wiesbaden: VS -Verlag für Sozialwissenschaften, 2005.
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Dietmar Loch lehrt Soziologie an der Universität Pierre Mendès France in Grenoble. Seine Forschungsschwerpunkte sind Immigration und Rechtspopulismus in Europa.