Von Christine Bauhardt
Die regelmäßig wiederkehrenden Ausschreitungen in französischen Vorstädten rufen in Deutschland fast schon reflexartige Reaktionen hervor. Sofort werden die Banlieues als unwirtliche Ghettos von Hochhäusern beschrieben, als Horte von Gewalt und Drogenhandel, nicht selten wird eine Imagination von No-Go-Areas aufgerufen. Wer die Großsiedlungen der französischen Städte aus eigener Anschauung kennt, weiß, dass diese Bilder den Alltag in den Vorstädten nicht widerspiegeln. Die Normalität dieses Alltags ist weitgehend unspektakulär, oder anders gesagt: die problematischen Seiten der Alltäglichkeit des Lebens in der Banlieue schaffen es nicht in die öffentliche Aufmerksamkeitsproduktion. Dies zeigt sich nicht nur in der medialen Repräsentation, sondern auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema.
Gender im wissenschaftlichen und medialen Diskurs
Es muss irritieren, dass die Gender-Spezifik der Problematik hier völlig ausgeblendet bleibt, obwohl sie doch durch die bildliche Darstellung in den Medien geradezu ins Auge sticht. Völlig geschlechtsblind wird da von „den Jugendlichen“ und „den jungen Franzosen“ gesprochen, die Autos und Schulen anzünden und ihr Wohnviertel ins Chaos stürzen. Niemand kann die Augen davor verschließen, dass es sich fast ausschließlich um jugendliche Männer handelt, die in ritualisierten Formen öffentlicher Gewaltinszenierung ihrer Wut Ausdruck verleihen. Aber für die wissenschaftliche und politische Analyse bleibt diese doch so offensichtliche Tatsache ohne Konsequenzen.
Vielmehr wiederholt sich im wissenschaftlichen Diskurs, was in den Medien grundlegende Maxime ist: Nicht die Normalität ist interessant, sondern die Sensation. Diese Lust an der Sensation machen sich auch die jungen Männer zunutze, die damit ihre höchst problematische Lebenssituation ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Aber wer interessiert sich eigentlich für die Lebenssituation der Frauen in den Vorstädten, die sich nicht in derselben Weise an der Aufmerksamkeitsproduktion beteiligen? Dass dies für Journalisten kein Problem darstellt, ist klar. Dass es aber auch den Wissenschaftlern keine Fragen aufwirft, muss hochproblematisch erscheinen. In ihrer Konzentration auf „delinquente Jugendliche“ (Loch) sitzen sie in unzulässiger Weise der Sensation auf, die die „Gewaltaktionen der Jugendlichen“ (Ottersbach) produzieren. Hier geht es um delinquente jugendliche Männer und um Gewaltaktionen von jugendlichen Männern, machen wir uns doch nichts vor.
Die Frage, die sich daran anschließt, ist diejenige nach der Bedeutung dieser Gender-Spezifik. Sie liegt nicht darin, eine natürliche Neigung zu Gewalt bei Männern zu unterstellen oder ein spezifisch männliches Aggressionspotential zu konstruieren. Die Gender-Spezifik liegt in der ritualisierten Wiederholung der Mechanismen zur Aufmerksamkeitsproduktion, die die männlichen Jugendlichen sehr gut kennen und der Medien und Wissenschaftler auf den Leim gehen.
Hier sind sich verstärkende Tendenzen festzustellen, wenn zum Beispiel der Aufhänger eines wissenschaftlichen Artikels ein quasi-mediales Zitat ist. Der Verweis auf „Tragische Szenen aus einer Vorstadt von Marseille“ (Loch) ruft genau die entsprechenden vorgefertigten Bilder in den Köpfen der LeserInnen auf: Brennende Busse, Chaos, Lebensgefahr. Der Verweis auf dieses wenn auch bestürzende, so doch singuläre Ereignis hat keinen Erklärungswert, ja es verstellt sogar den Blick auf die relevanten Unterschiede in der Entwicklung einzelner Städte in Frankreich. Marseille ist nun genau eine Stadt, in deren Großsiedlungen es in der Vergangenheit so gut wie nie gewaltförmige Ausschreitungen gegeben hat. Die Stadt unterscheidet sich in ihrer sozialräumlichen Struktur von den meisten anderen französischen Großstädten, was einen Hinweis darauf gibt, dass alternative städtische Entwicklungsmöglichkeiten existieren, auch in Frankreich. Aber dazu muss man genauer hinschauen.
Der „unspektakuläre Alltag“ in französischen Großsiedlungen
Ich möchte deshalb genauer hinschauen und damit einen Einblick in den unspektakulären Alltag französischer Großsiedlungen geben. Unspektakulär heißt nicht, dass hier nicht viele problematische Elemente zu einer komplexen Gemengelage zusammen kämen. Unter unspektakulär verstehe ich die Normalität eines Alltags, der weder mediale noch wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfährt, zumindest nicht in Deutschland. Für die französische Stadtforschung gilt das nicht in derselben Weise.
Zunächst sollte einmal gesagt werden, dass der Begriff „banlieue“ im Deutschen unzulässig verkürzt. „Banlieue“ umfasst im Französischen jede Form von Vorstädten, die Großsiedlungen des Sozialen Wohnungsbaus genauso wie Einfamilienhaussiedlungen oder Villengegenden. Eine soziale Stigmatisierung geht damit nicht einher, wie der Gebrauch von „banlieue“ im Deutschen suggeriert. Der Begriff beschreibt die Beziehungen von Kernstadt und Umland und hat damit eher eine räumliche als eine soziale Komponente. Die soziale Komponente ist nicht ausgeschlossen, aber sie ist nicht eindeutig negativ. Wenn jemand in Paris sagt „J’habite en banlieue“, so kann diese Person genauso gut im gut situierten Süden wie im eher armen Norden der Stadt wohnen. Auf jeden Fall lebt er oder sie nicht in Paris.
Darüber hinaus wird in Deutschland oft übersehen, dass die Großsiedlungen des Sozialen Wohnungsbaus ihren Ausmaßen den Großsiedlungen in Deutschland kaum vergleichbar sind. Berlin-Marzahn umfasste (vor dem Rückbau) 60.000 Wohneinheiten, also etwa 180.000 EinwohnerInnen, nach deutlichem Bevölkerungsrückgang leben heute im Märkischen Viertel noch knapp 40.000 Menschen, in Gropiusstadt ca. 37.000. Eine der bekannten Großsiedlungen im Umland von Paris, Le Val Fourré in Mantes-la-Jolie, hatte vor der Sprengung einiger Wohntürme, die seit den neunziger Jahren zur Verbesserung der sozialen Situation beitragen soll, 22.000 EinwohnerInnen.
Wie lässt sich nun der von mir so genannte unspektakuläre Alltag in den französischen Großsiedlungen beschreiben? Die Stadtforscherin Jacqueline Coutras hat schon in den neunziger Jahren darauf hingewiesen, dass es die Frauen sind, die die alltägliche Normalität in den problembeladenen Vorstädten aufrecht erhalten und dafür sorgen, dass alltägliches Leben dort überhaupt möglich ist. Die Frauen erleben die Krise der (Vor-)Stadt anders und viel alltäglicher als dies Medienbilder der randalierenden männlichen Jugendlichen suggerieren.
Anhand meiner eigenen empirischen Forschungen in Marseiller Großsiedlungen konnte ich das sehr deutlich nachvollziehen. Es sind vor allem Frauen, junge ebenso wie ältere, die in Gruppen und Vereinen ehrenamtlich in ihrem Viertel aktiv sind, und das mit großer Freude und Engagement. Die Identifikation mit dem eigenen Viertel, der eigenen Hochhaussiedlung kann auf Außenstehende direkt irritierend wirken – was mehr aussagt über die Forschenden als über die Bewohnerinnen. Vergleichbares männliches Engagement ist nach meinen Beobachtungen auf Sozial- oder Kulturarbeiter und damit auf professionelles Handeln beschränkt.
Nun soll aber das Leben in einem von Armut und sozialen Schwierigkeiten gezeichneten Viertel nicht idealisiert werden. Natürlich wäre es ein Trugschluss zu glauben, aufgrund des sozialen Engagements der Frauen würden die Probleme dieser Quartiere aufgehoben. Aber sie machen das Leben doch für Viele erträglicher, durch gegenseitige Hilfeleistung, durch Unterstützung und Rat im Umgang mit Behörden, durch gemeinsam verbrachte Zeit.
Die Krise der (Vor-)Stadt als Geschlechterkrise
Wie erleben nun die Frauen die Krise der (Vor-)Stadt, die Probleme ihres Viertels? Dazu muss klar festgehalten werden, dass Gewalt in den Vorstädten keinesfalls auf die gewalttätigen Ausschreitungen, die von Männern so öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt werden, beschränkt ist. Gewalt heißt für die Frauen im Alltag vor allem sexualisierte Gewalt, Gewalt, die im Geschlechterverhältnis institutionalisiert ist und durch normative Gender-Konstrukte aufrecht erhalten wird. Gegen diese Gewalt, die selbstredend nicht allein auf sozial problematische städtische Viertel zutrifft, sondern sich durch alle sozialen Stratifikationen zieht, wehren sich Frauen auf verschiedene Weise.
Als Reaktion auf brutale sexuelle Übergriffe von männlichen Jugendbanden, die schon mehrfach den Tod weiblicher Opfer nach sich gezogen haben, hat sich 2003 die Gruppe „Ni putes ni soumises“ gegründet, die inzwischen in allen französischen Großstädten vertreten ist und hauptsächlich von jüngeren Frauen getragen und von antisexistischen Männern unterstützt wird. Der Name der Gruppe steht dafür, sich keine Verhaltensnormen in bezug auf das Geschlecht vorschreiben zu lassen. „Weder Huren noch Unterworfene“ soll verstanden werden als klare Absage an Männer, die Frauen als Gruppe über die Unterwerfung weiblicher Körper kontrollieren wollen. Die Frauen prangern eine Geschlechterordnung an, die Frauen entweder als „Freiwild“ zur sexuellen Verfügung betrachtet oder sie durch als traditionell bezeichnete, vorzugsweise religiös verbrämte Verhaltensnormen zu domestizieren sucht. Das Selbstverständnis der Aktivistinnen ist explizit feministisch und entsprechend der französischen politischen Norm universalistisch-republikanisch.
Als eine andere Form der Reaktion auf Gewalt im Geschlechterverhältnis wertet die Soziologin Horia Kebabza unter anderem die zunehmende Verschleierung von Frauen in den als problematisch wahrgenommenen Stadtquartieren. Sie verweist auf Verschiebungen im Gefüge von Öffentlichkeit und Privatheit und auf die veränderten Positionierungen der Geschlechter in diesem Gefüge. Weit davon entfernt, sexuelle Übergriffe und Gruppenvergewaltigungen zu rechtfertigen, liegt ihr Augenmerk auf der Ausdehnung der Privatsphäre in den öffentlichen Raum hinaus und auf der Aneignung des öffentlichen Raumes durch die (jungen) Frauen. Sie hält zunächst fest, der öffentlich genannte Raum in den Großsiedlungen sei kein öffentlicher Raum mit einer tatsächlichen Vielfalt von Nutzungen und Qualitäten. Er sei häufig einfach die Verlängerung des häuslichen Raumes der Wohnung in den Außenraum. Entsprechend bewegten sich die Mädchen und Frauen im öffentlichen Raum wie im privaten Bereich, ohne sich jedoch damit der sozialen Kontrolle entziehen zu können, wie dies das klassische Verständnis von Öffentlichkeit impliziert.
Der Außenraum jedoch ist besetzt durch die Männer und männlichen Jugendlichen, die mit ihrem sicht- und hörbaren Verhalten die Selbstverständlichkeit der männlichen Inbesitznahme des öffentlichen Raumes dokumentieren. Die Frauen, die in diesen Raum eindringen, stellen durch ihr Verhalten einerseits diese männliche Inbesitznahme in Frage, andererseits begeben sie sich damit in die Kontrolle der Männer. Diese Kontrolle kann durch physische Präsenz ausgeübt werden oder durch die Macht des Wortes. Gerüchte und Unterstellungen sind Ausdruck der sozialen Kontrolle von Männern und Frauen über andere Frauen. Auch wenn der Ruf einer Person keine Kategorie im Sinne der Soziologie darstelle, so müsse man ihn doch ernst nehmen, da er soziale Beziehungen, insbesondere das Geschlechterverhältnis strukturiere. Zwischen verbaler Gewalt, die den Ruf schädige und Gerüchte verbreite, und psychischer Gewalt sei die Grenze fließend.
Die Frauen wenden deshalb diverse Strategien an, um sich dem männlichen Blick und damit der Kontrolle zu entziehen. Sie machen sich unsichtbar, indem sie entweder in ihrem Viertel den Außenraum meiden oder indem sie andere öffentliche Orte, besonders das Stadtzentrum aufsuchen, wo ihre Anonymität gewahrt bleibt. Eine weitere Strategie besteht darin, ihre Weiblichkeit durch männliche Kleidung oder männliches Sprachverhalten unsichtbar zu machen. Auch das Tragen des Kopftuchs kann eine der Strategien sein, dem männlichen Blick und der männlichen Kontrolle auszuweichen.
Horia Kebabza interpretiert die verschiedenen Formen von Gewalt, die Frauen in den Vorstädten erleiden, als Ausdruck eines veränderten Geschlechterverhältnisses. Die Ausdrucksformen von Gewalt, mit denen die jungen Frauen in ihren Stadtvierteln konfrontiert sind, können als Resultat ihrer wachsenden Emanzipation sowohl in der Privatsphäre wie in der Öffentlichkeit verstanden werden, während diese Autonomie sie gleichzeitig größeren Risiken aussetzt. Die Autorin beklagt, dass die institutionellen Antworten in den Problemquartieren, wie sie zum Beispiel im Rahmen der politique de la ville gegeben werden, die Sphärentrennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und die damit konnotierte Geschlechtertrennung tendenziell verstärke. Die politique de la ville verortet die Frauen ausschließlich in der Privatsphäre und sieht sie vorrangig in ihrer Rolle als Mütter, auf denen die Hoffnung liegt, durch Erziehung mangelnde gesellschaftliche Integration zu kompensieren. Detaillierte Untersuchungen der inhaltlichen Ausgestaltung der politique de la ville haben ergeben, dass die Bewegungsfreiheit von Frauen und ihr gefahrloser Aufenthalt im öffentlichen Raum dort nicht thematisiert werden.
Fazit
Bei der regelmäßig wiederkehrenden Debatte um die Gewaltausbrüche in den französischen Vorstädten wird ebenso regelmäßig unterschlagen, dass die spektakuläre Inszenierung der Gewaltakte eine ausgeprägte Gender-Komponente birgt. Der Blick der Medien und der Forschung wiederholt diese Unterschlagung durch die Konzentration auf den spektakulären Akt, ohne den unspektakulären Alltag der Menschen in den Vorstädten je zu thematisieren.
Dabei gerät Doppeltes aus dem Blick: Zum einen wird die Tatsache übersehen, dass dieser Alltag von Frauen tagtäglich hergestellt wird, mit seinen Freuden und Leiden. Zum anderen bleibt ausgeblendet, in welcher Weise Gewalt den Alltag für Männer und Frauen in den Vorstädten unterschiedlich strukturiert.
Publikationen der Autorin
- Christine Bauhardt (2004): Entgrenzte Räume. Zu Theorie und Politik räumlicher Planung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
- Christine Bauhardt (Hg., 2004): Räume der Emanzipation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Christine Bauhardt ist Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort das Gebiet Gender und Globalisierung. Ihre Forschungsschwerpunkte: Stadtentwicklung und Migration, Theorie und Politik räumlicher Planung und globale Umweltpolitik.