Von Markus Ottersbach
Es ist jetzt ungefähr ein Jahr her, seitdem die bereits seit Beginn der achtziger Jahre andauernden Jugendunruhen in Frankreich zu einem Höhepunkt gelangt waren. Nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Stromkasten verbrannten, kam es in fast allen größeren Städten des Landes zu Ausschreitungen.
Damals berichteten die Medien in ganz Europa über diese Ereignisse. In Deutschland dauerte die Berichterstattung einige Wochen an, dann verschwand das Thema wieder aus den Medien. Insofern konnte man den Eindruck gewinnen, dass damit auch die Unruhen aufgehört hätten. Dem war jedoch nicht so. Seit Jahresbeginn sind mehr als 75.000 Akte urbaner Gewalt registriert worden. Dazu zählen: ca. 32.000 Autobrände, 20.000 abgefackelte Abfallkübel und mehr als 4000 "Rodeos", das sind illegale Vorstadt-Rennen mit zumeist gestohlenen Autos.
Vergleichbar mit der schon ritualisierten Konzentration der Unruhen auf die Jahreswende scheinen auch jetzt, zum Jahrestag der Unruhen vom November 2005, die Ausschreitungen in den französischen Vorstädten wieder zuzunehmen. Bei einem der letzten Anschläge in einer Vorstadt von Marseille, bei dem wiederum ein Bus angezündet worden war, ist eine Frau lebensgefährlich verletzt worden.
Wie kommt es zu den erneuten Unruhen?
Da die wesentlichen Probleme der Vorstadtjugendlichen nach wie vor nicht gelöst sind, ist es im Grunde nicht verwunderlich, dass die Ausschreitungen anhalten.
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mit fast 19 % immer noch doppelt so hoch wie die durchschnittliche Arbeitslosigkeit, in manchen Vorstädten ist sogar fast jeder zweite Jugendliche arbeitslos. Unmittelbar verbunden mit der fehlenden Inklusion durch Arbeit ist die Exklusion aus der Konsumwelt. Zwar werden die Jugendlichen in den Medien und durch die Werbung mit all den schönen käuflichen Dingen konfrontiert; leisten können Sie sich diese aber nicht. Das Anzünden der Autos als Inbegriff des heutigen Statussymbols ist hier durchaus symbolisch aufzufassen.
Auch die Schulen bilden immer noch keine echte Perspektive an, d.h. sie vermitteln Schulabschlüsse, mit denen Jugendliche keine reelle Chance auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz erhalten. Dies schmälert ihre Motivation, überhaupt einen solchen Schulabschluss anzustreben. Die Jugendlichen haben längst erkannt, dass die Realisierung der republikanischen Prinzipien der Gleichheit und der Brüderlichkeit durch die Schule nicht mehr funktioniert.
Das Versagen der Schulen und die hohe Arbeitslosigkeit gehören deshalb auch weiterhin zu den Hauptkritikpunkten der Jugendlichen. Eine weitere Zielscheibe der Kritik ist auch noch die Polizei, die durch ihr partiell martialisches Auftreten immer wieder für Provokation sorgt. Die Wiedereinführung der jahrelang bewährten Nachbarschaftspolizei, die seit Beginn der konservativen Regierungsperiode abgebaut worden ist, lässt immer noch auf sich warten.
Auch die Wohnsituation ist nach wie vor ein wichtiger Grund des Protests. Zwar sind einige Städte inzwischen dazu übergegangen, einige der heruntergekommensten Hochhausblöcke zu sprengen. Viele der Wohnblocks dieser Cités sind jedoch weiterhin stark renovierungsbedürftig.
Bei ihren Altersgenossen, den Studenten, scheinen die Jugendlichen aus den Banlieues mit ihren Anliegen auch nicht mehr auf offene Ohren zu stoßen. Seitdem die Regierung den Kündigungsschutz für Jugendliche bis 25 Jahre mit dem Ziel, ihnen eine bessere Startposition im Arbeitsleben zu verschaffen, abschaffen wollte, sehen die Studenten in den Jugendlichen der Banlieues eher Feinde als Freunde.
Hinzukommt auch ein öffentlicher Diskurs, der sich nicht mal bemüht, die Gründe des jugendlichen Verhaltens zu verstehen und maßgeblich zur Kriminalisierung und zur Stigmatisierung der Jugendlichen beiträgt. Alain Finkielkraut z.B. sieht nur „blinden“ Hass als Ursache der jugendlichen Gewalt. Damit begibt er sich auf das Diskussionsniveau des Innenministers Sarkozy, der vor einem Jahr die Unruhen mit seinen menschenverachtenden Ausdrücken (er hat die Jugendlichen damals u.a. als „Gesindel“ bezeichnet, das man mit dem „Kärcher“ vertreiben sollte) erheblich verstärkt hatte.
Da die Jugendlichen auch in ihren eigenen Familien kaum noch Rückhalt finden (häufig befinden sie sich auch mit ihren Eltern in heftigen Auseinandersetzungen), stehen diese Jugendlichen im Grunde kurz vor der völligen Isolation. Die Gesellschaft hat diese Jugendlichen schlicht als Überflüssige markiert und lässt sie mit ihren Problemen völlig alleine.
Politische Partizipation als Ausweg aus der Sackgasse?
Vergegenwärtigt man sich das Ausmaß der Situation dieser Jugendlichen, kann man allerdings auch nicht erwarten, dass sich die Situation von heute bis morgen bessern wird, zumal bis heute auch keine Patentrezepte zur Verfügung stehen. Das notwendige Maß an Desillusionierung sollte jedoch nicht dazu führen, den Kopf in den Sand zu stecken. Es gibt durchaus viel versprechenden Ansätze zur Verbesserung der Situation der Jugendlichen in marginalisierten Quartieren.
Neben der Umsetzung der von den Jugendlichen immer wieder erwähnten Forderungen ist einer dieser hoffnungsvollen Ansätze derjenige der politischen Partizipation. Dafür müsste man zunächst jedoch die Ausschreitungen als Form des politischen Protests interpretieren, eine Form, deren Ausdrucksweise und Sprache sicherlich nicht diejenige der Mittelschichten ist. Gewalt als Ausdruck des Protests wird in bürgerlichen Kreisen zurecht nicht als legale Form der politischen Partizipation akzeptiert.
Dennoch wäre es eine verdienstvolle Aufgabe, zu versuchen zu verstehen. Danach bestünde eine weitere Aufgabe darin, den Protest in legale Formen der politischen Partizipation zu kanalisieren. Zwar hat man mit der Einrichtung und der finanziellen Unterstützung der Vereine hier schon erfolgreiche Versuche gestartet. Dies alleine reicht jedoch nicht aus. Die Jugendlichen müssten im Rahmen von Stadtteilkonferenzen, Jugendforen oder -parlamenten Möglichkeiten der Beteiligung finden können. Ähnliche Projekte gibt es auch in Deutschland. Erste Evaluationen haben ergeben, dass sie von den Jugendlichen weitaus stärker als politisches Forum geschätzt werden als eine Mitgliedschaft in Parteien, den Gewerkschaften oder den Kirchen. Zweifellos gibt es auch dort Probleme.
So ist die Beteiligung von Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten bisher eher spärlich und wenig kontinuierlich. Dies hängt jedoch eher mit der Organisation und der Moderation der Partizipationsformen zusammen. Eine schicht- und jugendgerechte Sprache sowie die Kenntnis der Probleme der Jugendlichen sind wichtige Bausteine einer erfolgreichen politischen Partizipation für Jugendliche. Wenn die Jugendlichen in den Banlieues die Gelegenheit bekämen, im Rahmen solcher Formen der politischen Partizipation ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu transportieren, könnten ihre Anliegen nicht mehr ohne Weiteres als Ausdruck des „Gesindels“ interpretiert und diffamiert werden. Dann würden Politikerinnen und Politiker dazu gezwungen, die Anliegen der Jugendlichen ernst zu nehmen und gleichzeitig mehr für die Verbesserung ihrer Situation zu tun als die wenigen, meist finanziell ausgerichteten Maßnahmen, die im Grunde nur einen Tropfen auf den heißen Stein bedeuten.
Zum Thema erschienen
- Markus Ottersbach: Jugendliche in marginalisierten Quartieren. Ein deutsch-französischer Vergleich. Wiesbaden 2004
- Markus Ottersbach: Die Marginalisierung städtischer Quartiere in Deutschland als theoretische und praktische Herausforderung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/2003, S. 32-39
- Markus Ottersbach: Kinder- und Jugendforen als Beispiel neuer Formen der politischen Öffentlichkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2001, S. 17-23
Beide Artikel zum Downloaden unter www.bpb.de/publikationen.
Dr. Markus Ottersbach ist Prof. (i.V.) für Soziologie an der Fachhochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Politische Soziologie, Minderheiten und Migrationsforschung, Jugend- und Stadtsoziologie.