Von Sabine Schiffer
Wir sind alle reingefallen. Da kommen irgendwelche Terroristen daher und behaupten, sie handelten im Namen des Islams - und wir sind so dumm und glauben ihnen. Statt sie für ihren Missbrauch eines Systems zu kritisieren und zu überblicken, dass jedes Definitionssystem auch missbraucht werden kann, ob ein religiöses, ein säkulares, ein demokratisches, ein nationales und vermutlich noch andere, geben wir ihnen Raum und Recht, indem wir einsteigen auf die Fragestellung „Was sagt denn der Islam dazu?“ Da könnten wir lange alle möglichen Quellen durchsuchen, heilige Bücher ebenso wie Gesetzestexte, wenn in deren Namen gerade Unheil angerichtet wird. Das tun wir aber nicht, sondern wir sind der Propagandamaschinerie einiger Extremisten aufgesessen und suchen ausschließlich in den islamischen Quellen. Extremisten und Medien haben gleichermaßen – gewollt und ungewollt – gemäß dem Grundmechanismus erfolgreicher Propaganda nur oft genug wiederholt, dass hier im Namen des Islams gehandelt wird.
Unglücklicherweise haben gerade die Gutmeinenden dieser falschen Kategorisierung zugearbeitet. Übersehend, dass die gleichen Probleme vor der Entdeckung „des islamischen Deutungsmusters“ auch schon da waren, stieg man auf die neue Debatte ein. Vielleicht hat sich sogar der ein oder andere religiös geprägte Mensch, egal welcher Glaubensrichtung, noch gefreut, dass nun endlich wieder über Religion gesprochen wird in einer postmodernen Gesellschaft. Inzwischen muss jedoch auch der letzte Optimist erkennen, dass die Religion überhaupt nicht von Interesse ist. Nicht mal der Islam interessiert wirklich, obwohl von ihm so fatal viel die Rede ist. Er dient nur als Schablone, woran die früher schon vorhandene Ablehnung des Anderen festgemacht wird. Hätte man ernst genommen, dass man in Krisenzeiten fehlendes Wissen nicht nachtragen kann, weil es ausschließlich vor der Schablone der Krise und damit als problematisch wahrgenommen wird, dann wären wir dieser falschen Richtungsgebung vielleicht entgangen. Jetzt haben wir den Salat, nämlich, dass die Meinung vorherrscht, Religion im Allgemeinen und der Islam im Besonderen seien problematisch und hätten grundsätzlich eine Neigung zur Gewalt. Die Abkehr vom Religiösen hat uns jedenfalls nicht die beiden Weltkriege erspart und auch nicht den Holocaust.
Wenn wir jedoch nicht aufhören, das Thema Religion in irrelevanten Kontexten ständig mitzuthematisieren, dann bleiben wir gefangen in einer falschen Wahrnehmung von Zusammenhängen, die keine sind. Wenn es um Terror, Schulprobleme und Frauenunterdrückung geht, dann ist die jeweilige Religionszugehörigkeit absolut irrelevant – dafür brauche ich nicht einmal in die weite Welt zu schauen, da reicht eine Analyse der sozialen Faktoren in Deutschland, um die wirklichen und hochkomplexen Zusammenhänge zwischen einzelnen Entwicklungen und auch Fehlentwicklungen zu erkennen. Mit dem Verlust des Überblicks geht uns gleichzeitig die Handlungskompetenz verloren, denn wir haben doch angesichts eines Bildungs- und Erwerbsnotstands sowie in Bezug auf den Umwelterhalt in Deutschland und anderswo wahrlich andere Hausaufgaben zu erledigen, statt uns über Kopftuchmoden und Saunagewohnheiten aufzuregen.
Die gesellschaftlich wirklich relevanten Aufgaben werden sich nur gemeinsam bewältigen lassen. Nichts wie ran! Bei genauerer Betrachtung werden wir dann schnell feststellen, dass eine Einteilung in „wir“ und „ihr“ nicht nur wenig sinnvoll, sondern auch unhaltbar ist. Alle Menschen wollen würdig leben können und zu einer Gesellschaft gehören - einfach alle Anwesenden, egal ob schwarz oder weiß, groß oder klein, seh- oder sonst wie behindert, hier geboren oder anderswo. Wir brauchen dieser Normalität auch keinen besonderen Nutzen zuzuschreiben, denn ein Kosten-Nutzen-Denken ist immer schon instrumentalisierend und gefährlich dual. Woran machen wir Nutzen fest? Und was machen wir mit den „Nutzlosen“? Arbeitslosen, Alten, Kranken, Behinderten usw. Es ist einfach so – fertig – bedarf keiner Wertung und schon gar keiner ausgrenzenden Abwertung, die Gesellschaft ist heterogen. Geschieht aber eine Ausgrenzung, dann sind häufig ganz andere äußere Faktoren verantwortlich als die, die man beim Gegenüber vermutet.
Es gibt mindestens ein historisches Vorbild für unsere Situation heute. Im 19. Jahrhundert veränderte sich viel in Deutschland: Kriege, Attentate, eine deutsche Vereinigung, wirtschaftlicher Niedergang in Zeiten der (Post-)Industrialisierung, politische Bewegungen, die die Verantwortung des Einzelnen herausforderten. Viele Menschen waren unsicher und projizierten unbewusst ihre Ängste auf eine Gruppe von Deutschen, die sie gewohnt waren als anders wahrzunehmen – die Juden, die durchaus auch Eigenheiten hervorbrachten, der eine mehr, der andere weniger bis gar keine. Und natürlich gab es auch schwarze Schafe unter den jüdischen Mitbürgern, die die virulenten Verschwörungstheorien nähren konnten und zu bestätigen schienen, wenn man es zulässt von einzelnen Beispielen auf eine ganze Gemeinschaft zu schließen. Dass in Zeiten großer Verunsicherung, Existenzängste auf eine markierte Gruppe übertragen werden, ist eine typisch menschliche Reaktion – dann verkörpern „die“ ein vermeintlich lösbares Problem, während man selbst nicht in der Lage ist, den vermeintlich unlösbaren Problemen einer ungewissen Zukunft ins Auge zu sehen. Natürlich ist dies nicht gutzuheißen, denn die Potenziale sozialer Spannungen, die hieraus entstehen können, sind gar nicht kalkulierbar.
Aktuell in Zeiten der Globalisierung sind Verängstigungen auch nicht verwunderlich. Der Massivität der als alternativlos empfundenen neo-liberalen Wirtschaftsordnung mit alle ihren polarisierenden Auswirkungen, steht nun eine Wertedebatte gegenüber. Diese suggeriert ein Mitbestimmungsrecht des Einzelnen und bietet eine wunderbare Stellvertreterdebatte an anstelle der gesellschaftlich relevanten Fragestellungen. Fällt man auf diese Ablenkung herein, verbringt man die Zeit mit einem Kampf gegen Windmühlen, statt sich den Aufgaben widmen zu können – dies stabilisiert nun wieder gerade die Ordnung, die eben als alternativlos gesehen werden will. Ein Teufelskreis, aus dem man im 21. Jahrhundert ausbrechen können sollte.
Sabine Schiffer ist Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin am Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie leitet das Institut für Medienverantwortung in Erlangen.