von Gualtiero Zambonini
Beim Westdeutschen Rundfunk gehört Integration seit jeher zum publizistischen Selbstverständnis. Alles begann mit den Radio-Sendungen für die ersten Zuwanderer: Anfang der sechziger Jahre richtete der Sender für die ARD die ersten Radioangebote für Italiener, Türken und später für Zugewanderte aus dem damaligen Jugoslawien. Diese Sendungen liefen am Abend und genossen eine hohe Popularität unter den Zielgruppen bis in die Achtziger hinein. Nach einer repräsentativen Untersuchung hörte damals jeder zweite Türke sein abendliches Programm im deutschen Radio: Köln Radiyosu.
Die Erfolgstory zwischen Programmmachern, Publikum und Sender wurde Anfang der neunziger Jahre kräftig erschüttert. Die Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Anbietern einerseits und der Einzug in die mediale Welt des Satellitenfernsehens andererseits, stellten eine radikale Veränderung der bisherigen Rahmenbedingungen dar. Die Radiosendungen am Abend erlitten einen starken Verlust an Reichweite, da die Hörer sich nun den FS- Sendungen aus ihrer Heimat zuwandten. Die Sendungen wurden außerdem ARD-weit auf Mittelwelle verlegt, weil sie im Zuge der Formatierung von Radioprogrammen nicht mehr ins neue Bild der sich stark verändernden Radiolandschaft passten. Nur der WDR und der damalige Sender Freies Berlin, heute Rundfunk Berlin Brandenburg, hielten die Muttersprachenprogramme im UKW-Bereich. Gleichzeitig entfachte der damalige Hörfunkdirektor und spätere Intendant, Fritz Pleitgen, eine Diskussion über die Zukunft dieser Angebote. Aus dieser leidenschaftlichen Diskussion mit Experten, Multiplikatoren und Programmmachern entstand eine Programmutopie: Funkhaus Europa, die Idee einer mehrsprachigen und ganztätigen Integrationswelle. Diese Idee, 1995 lanciert, wurde nach vier Jahren Vorbereitung am 5. Mai 1999 umgesetzt: Funkhaus Europa ging auf Sendung. Kooperationspartner sind heute noch Radio Bremen und rbb-Radio Multikulti.
Funkhaus Europa
Zum einen ist es wichtig vorweg zu nehmen, Funkhaus Europa ist nicht nur ein „Sender für Zugezogene“, Funkhaus Europa ist ein Sender für ein kulturell gemischtes Publikum. Für die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland stellt sich zunehmend die Frage, mit welchen Konzepten sich die sich wandelnde multikulturelle Gesellschaft darstellen lässt, gleichzeitig aber, wie sich die Integration von Migranten und das Zusammenleben von Deutschen und Migranten am besten fördern lässt. Für uns in Nordrhein-Westfalen stellt sich diese Frage besonders explizit, denn in diesem Bundesland hat jeder vierte Einwohner einen Migrationshintergrund, ein Viertel aller in Deutschland lebenden Migranten hat ihren Wohnsitz hier. Mit der Gründung von Funkhaus Europa wollte der WDR dieser Realität Rechnung tragen.
Die Befragungen unter der Hörerschaft von Funkhaus Europa zeigen, dass dieses Modell aufgeht. Nach einer repräsentativen Umfrage erreichte Funkhaus Europa 2003 in NRW täglich 11 Prozent der Zielgruppen der Migranten. Die Analyse des Publikums zeigt auch, dass mit dem Programm sowohl jüngere als auch ältere Zugewanderte angesprochen werden, im Altersschwerpunkt sind es die 30- bis 49-jährigen. Dabei erreicht Funkhaus Europa im Vergleich zu den anderen nutzungsstarken Programmen eine hohe Akzeptanz.
Mainstreaming Diversity
Um die Weiterentwicklung der Integrationsstrategie im WDR zu verstehen, muss man gleichzeitig die Unternehmensgeschichte- und -kultur sowie das politische und gesellschaftspolitische Umfeld im Auge haben. Aus der integrationspolitischen Debatte der vergangenen Jahre ging deutlich hervor, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine pro-aktive Integrationspolitik der zugewanderten Bevölkerung versäumt hatte. Das Bundesland NRW stellte sich dabei an die Spitze der Bewegung und startete Anfang 2002 eine „Integrationsoffensive“ auf der Grundlage einer parteiübergreifenden Entschließung des Landtages. Die Leitidee der Integrationsoffensive in NRW war, dass Migration nicht in erster Linie ein Problem, ein Defizit darstellt, sondern dass Zugewanderte unerahnte Potentiale für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind. Außerdem wurden Migranten und ihre Verbände zu einem Dialogprozess auf gleicher Augenhöhe eingeladen. Die Landesregierung suchte den Schulterschuss mit den Medien um eine Sensibilisierungskampagne zu starten. Der WDR erkannte die Zeichen der Zeit. Der damalige Intendant Fritz Pleitgen ernannte mich als Leiter von Funkhaus Europa zum Ansprechpartner der Integrationsoffensive. Gleichzeitig berief er mich zum Integrationsbeauftragten des Senders mit einem breiten, direktionsübergreifenden Mandat.
Der Integrationsbeauftragte ist der Intendanz direkt zugeordnet. In Zusammenarbeit mit den Programmdirektionen, mit der Aus- und Fortbildung und der HA Personal entwickelt er Projekte und Maßnahmen, die geeignet sind, Programmmitarbeiterinnen und -mitarbeiter und Medienschaffende mit Migrationshintergrund zu fördern. Darüber hinaus arbeitet der Integrationsbeauftragte eng mit der Medienforschung zusammen, um Erkenntnisse über Medienverhalten und -nutzung sowie Programmrezeption von Migranten zu gewinnen. Zu meinen Aufgaben gehört auch die Entwicklung von Projekten und Netzwerken im EBU-Bereich. Ich verfasse jährlich einen Integrationsbericht für die Geschäftsleitung und die Gremien, in dem die Leistungen des Unternehmens im Bereich der Programm- und Personalentwicklung erfasst werden.
Die Mainstreaming Initiative des WDR gewinnt neue Impulse, durch repräsentative Studien zum Medienverhalten von Zugewanderten, die vom Sender im Jahr 2002, 2004 und 2006 im Auftrag gegeben wurden. Die Ergebnisse, die von der ARD/ZDF-Studie 2007 eindrücklich bestätigt wurden, belegen, dass keine medialen Parallelgesellschaften existieren. Zugewanderte und Ihre Familien nutzen in ihrer überwiegenden Mehrheit tagtäglich deutschsprachiges Fernsehen. Vor dem Hintergrund demographischer Studien, die belegen, dass in den deutschen Großstädten Jugendliche aus Einwandererfamilien einen Anteil von über 40% ausmachen, gewinnen diese Befunde an Brisanz. Die Geschäftsleitung des WDR erkennt in diesen Zahlen ein business case. Die ARD und das ZDF schließen sich in einer breit angelegten Selbstverpflichtung für den Nationalen Integrationsplan dieser Auffassung an. Es geht dabei nicht mehr um Programme für Minderheiten, sondern um die Berücksichtigung eines tiefgreifenden Wandels des Gesamtpublikums, von dem Zuwanderer ein relevantes Segment darstellen. Diese Erkenntnis findet dann Niederschlag in einer Reihe von Anregungen und Vorgaben des Unternehmens an die Programme.
Integration als Querschnittsaufgabe
Die Verabschiedung der Programmleitlinien Anfang 2006 hat eine verbindliche Grundlage für die Integrationsstrategie des WDR geschaffen. Als Leitziel wird darin verankert, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft in allen Programmen des Senders als selbstverständliche Alltagswirklichkeit darzustellen und zu thematisieren. Die Normalität des Lebens in der kulturellen Vielfalt soll vor allem dadurch gefördert werden, dass Moderatorinnen/Moderatoren und Redakteurinnen/Redakteure mit einem ausländischen Hintergrund verstärkt für die Programme des WDR gewonnen werden sollen, insbesondere für die massenattraktiven Programme. Außerdem sollen Menschen mit einer Migrationsbiographie nicht nur als Migranten oder Experten in eigener Sache im Programm erscheinen, sondern verstärkt als selbstverständliche Akteure und Verantwortungsträger im gesellschaftlichen Leben oder als Experten und Diskussionsteilnehmer unabhängig von einem ausländerspezifischen Zusammenhang in Talkrunden und Fiction-Formaten eingebunden werden.
Die positive Antwort im Unternehmen auf die neuen Anforderungen wurden nicht nur durch die pro-aktive Haltung der Geschäftsleitung ausgelöst, die zu verschiedenen Anlässen (Betriebsversammlungen usw.) das Unternehmensziel kommunizierte. Durch Symposien, Castings und Wettbewerben zur Gewinnung von Nachwuchsjournalisten mit Migrationshintergrund wurde die Akzeptanz des Unternehmensziels verstärkt.
Im November 2006 veranstaltete der WDR gemeinsam mit France Télévisions und dem ZDF die internationale EBU-Medienkonferenz „Migration und Integration – Europas große Herausforderung. Welche Rolle spielen die Medien?“ in Essen. Die Veranstaltung, an der europäische Programm-Macher, Wissenschaftler und Politiker teilnahmen, ist der Auftakt eines nachhaltigen Prozesses, der unter anderem mit einer Folgekonferenz bei der UNESCO in Paris fortgesetzt werden soll. Vorgesehener Termin ist der 22. und 23. November 2007.
Grenzenlos
Ein wichtiges Instrument der Mitarbeitergewinnung und -förderung ist unsere Talentwerkstatt „WDR-grenzenlos“. Das Programm versteht sich als eine Maßnahme, die unter anderem den Einstieg von talentierten Journalisten mit Zuwanderungsbiografie in die Regelwerke der journalistischen Aus- und Fortbildung fördern soll. Jedes Jahr werden seit 2005 zehn Kandidatinnen und Kandidaten über einen Wettbewerb gewonnen. Sie werden in Seminaren fortgebildet und durchlaufen verschiedene Stationen in Hörfunk und Fernsehen. Von zehn „Grenzenlosern“ aus dem Wettbewerbsjahr 2006 ist ein Großteil als Autorinnen und Autoren für den WDR tätig. Aufgrund der positiven Erfahrungen der journalistischen Talentwerkstatt „WDR grenzenlos“ soll der Wettbewerb in diesem Jahr erweitert werden: Künftig wird die Talentwerkstatt auch für junge Mediengestalter und angehende Kameraleute ausländischer Herkunft geöffnet. Da der WDR anstrebt, im Programm die kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt der Menschen in seinem Sendegebiet abzubilden und angemessen zu berücksichtigen, führen wir seit Jahren eine pro-aktive Politik, um die gesellschaftliche Vielfalt auch innerhalb der Mitarbeiterschaft des gesamten WDR zu reflektieren. Seit 2005 ist die Bedeutung dieses Unternehmensziels mit einem entsprechenden Passus in alle Stellenausschreibungen des WDR aufgenommen worden, der lautet „Der WDR fördert kulturelle Vielfalt in seinem Unternehmen, daher begrüßen wir Bewerbungen von Mitarbeiter(n)/innen ausländischer Herkunft.“
Erste Erfolge
Es zeigt sich, dass alle diese Initiativen Früchte tragen, dass unsere Bestrebungen, journalistische Vorbilder mit Migrationshintergrund für prominente Sendeplätze zu gewinnen, in Erfüllung gehen. So gehört zum Beispiel heute der türkischstämmige Redakteur Birand Bingül dem Kommentatoren-Team der ARD Tagesthemen an, die Slowenin Brigitte Pavetic und die Türkin Pınar Abut moderieren die populäre Lokalzeit im Fernsehen, die Türkin Aslı Sevindim hat sich erfolgreich als Moderatorin der Aktuellen Stunde bewährt, die Hauptinformationssendung des WDR-Fernsehens.
Die Bewerberzahlen zum WDR-Programmvolontariat belegen, dass die Kommunikationsstrategie des WDR, Kandidatinnen und Kandidaten ausländischer Herkunft zur Bewerbung für Medienberufe zu motivieren, Wirkung zeigt: Für den Jahrgang 2006/07 haben sich 20 Kandidatinnen und Kandidaten ausländischer Herkunft beworben, für den Jahrgang 2007/08 waren es 49. Zum Stichtag Ende Dezember 2006 hatten nach vorläufigen Berechnungen der HA Personal 6,4% der Auszubildenden und 11,3% der Volontäre und Trainees einen Migrationshintergrund.
Schlussfolgerung
Höchste Priorität hat auch bei künftigen Programmentwicklungs- und Personalentwicklungsstrategien die Widerspiegelung von kultureller Vielfalt in unserem Sendegebiet. Die Gewinnung und Förderung von Medienschaffenden mit Zuwanderungsbiografien für prominente Sendeplätze spielen dabei eine ausschlaggebende Rolle. Der WDR betrachtet Integration nicht in erster Linie als zielgruppenspezifische Aufgabe. Es geht vielmehr darum, den demografischen, ethnischen und kultu¬rellen Wandel unserer Gesellschaft und damit unseres Publikums und die Veränderungen seines Erfahrungshorizonts- und Erwartungshorizonts nachhaltig zu reflektieren und in unseren Programmstrategien zu berücksichtigen.
Gualtiero Zambonini ist Beauftragter für Integration und kulturelle Vielfalt beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.