Behinderte Frauen: oft unsichtbar, aber meist unschlagbar

FRau im Rollstuhl
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Rund vier Millionen behinderten Frauen in Deutschland gehören zu zwei benachteiligten Gruppen – den Frauen und den behinderten Menschen.

 

Von Sigrid Arnade
 

Die rund vier Millionen Frauen mit Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland erleben vielfache Benachteiligungen. Gleichzeitig haben sie durch Vernetzung und Lobbyarbeit positive Signale setzen können. Auch das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle 2007 werden sie nutzen.

Zahlen, Zahlen, Zahlen

Laut Angaben der Vereinten Nationen leben weltweit rund 650 Millionen behinderte Menschen, die meisten von ihnen in den sogenannten „Entwicklungsländern“. Da von den Vereinten Nationen keine aktuellen geschlechtsdiffenzierten statistischen Daten über Menschen mit Behinderung vorliegen, ist davon auszugehen, dass es weltweit rund 325 Millionen behinderte Frauen gibt. Diesen behinderten Frauen ist gemeinsam, dass sie häufig als  „Invisible Citizen = unsichtbare Bürgerinnen“ bezeichnet werden, da sie in vielen Statistiken oder  Dokumenten des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens nicht auftauchen1.

Nicht anders in der EU: In den 25 Mitgliedsstaaten lebten 2006 nach Angaben des Europäischen Behindertenforums (European Disability Forum - EDF), der Lobbyorganisation behinderter nschen auf Europaebene, etwa 50 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Die Zahl behinderter Frauen lässt sich also auf rund 25 Millionen schätzen.

Besser ist die Datenlage in der Bundesrepublik: Ende 2003 lebten hier nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 8,4 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Dabei wurden 46 Prozent, also 3,9 Millionen Mädchen und Frauen gezählt2 . Gleichzeitig galten 6,6 Millionen Menschen, also rund acht Prozent der Bevölkerung als schwerbehindert. Davon waren 47,5 Prozent weiblich3.

Doppelt diskriminiert

Die rund vier Millionen behinderten Frauen in Deutschland gehören zu zwei benachteiligten Gruppen, den Frauen und den behinderten Menschen. Dadurch sind sie stärker benachteiligt als nicht behinderte Frauen einerseits und behinderte Männer andererseits. Behinderte Frauen selbst sprechen häufig von der „doppelten Diskriminierung“, wobei „doppelt“ nicht im numerischen Sinne gemeint ist, sondern die mehrfache Benachteiligung von Frauen mit Behinderung ausdrücken soll.

Für viele behinderte Frauen ist es eine prägende und verletzende Erfahrung, dass sie nicht als Frauen, sondern primär als geschlechtslose Behinderte wahrgenommen werden. So wird in vielen Statistiken in der Kategorie „Behinderung“ nicht nach Frauen und Männern differenziert oder Behindertenzeitschriften haben Titel wie „Der Dialysepatient“. Typisch ist auch die Toilettensituation: Es gibt Frauen-, Männer- und Behindertentoiletten. Vor allem als Geschlechtsneutren betrachtet zu werden, betrifft Männer mit Behinderung genauso wie Frauen mit Behinderung. Wenn aber behinderten Menschen ein Geschlecht zugestanden wird, so ist es meist das männliche. Beispielsweise thematisieren Bücher zur Sexualität behinderter Menschen schwerpunktmäßig die Sexualität behinderter Männer.

Gute Gesetze – raue Realität

Auch auf der politischen Ebene und in Sozialgesetzen gab es lange Zeit nur „den (Schwer)Behinderten. Erst durch die Lobbyarbeit behinderter Frauen erkannten auch die Gesetzgebenden die besondere Benachteiligung von Frauen mit Behinderung, so dass ihre Situation im Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) von 2001 sowie im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002 berücksichtigt wurde. Mit beiden Gesetzen wurde ein von den Betroffenen lange geforderter Perspektivenwechsel umgesetzt: Behinderte Menschen gelten nicht länger als Objekte der Fürsorge, sondern als selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger, die in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichberechtigt teilhaben sollen. Das SGB IX enthält diesbezügliche Bestimmungen, die für Bereiche des Sozialrechts gelten. Das BGG verpflichtet Bundesbehörden zur umfassenden Barrierefreiheit.

Für beide Gesetze haben behinderte Frauen und Männer lange gekämpft, genau wie für ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz, das als Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seit Sommer 2006 gültig ist. Behinderte Menschen dürfen künftig nicht mehr von Versicherungen ohne Grund ausgeschlossen werden, und ein Gastwirt, der behinderte Menschen wegen der Behinderung des Lokals verweist, muss mit einer Klage rechnen.

Trotz der positiven Entwicklung der Gesetzeslage sind viele behinderte Menschen in Deutschland mit ihren Lebensumständen nicht zufrieden. Mit den Arbeitsmarktreformen, der vergangenen und der künftigen Gesundheitsreform, den stagnierenden Löhnen und Renten schrumpfen die finanziellen Ressourcen, und es ist kein Ende dieser Entwicklung abzusehen.

Behinderte Frauen: vielfach benachteiligt ...

Abgesehen von diesen aktuellen Entwicklungen zeigt sich die Benachteiligung von Frauen mit Behinderung in vielen Bereichen. So sind behinderte Frauen und Männer sind von der allgemeinen Arbeitslosigkeit stärker betroffen als nicht behinderte Menschen. Dabei bilden behinderte Frauen das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt: Nach dem bundesweiten Mikrozensus von 20034  waren nur 17,8 Prozent von ihnen erwerbstätig. Dasselbe traf auf 24,3 Prozent der behinderten Männer zu. Auch in allen Bereichen der beruflichen Rehabilitation sind behinderte Frauen mit oft unter 30 Prozent unterrepräsentiert.

Wenn Frauen mit Behinderung alternativ die Familienarbeit wählen, stoßen sie auf weitere Barrieren: Weder Entbindungsstationen noch Kindergärten oder Schulen sind auf Mütter mit Behinderungen eingestellt, und oft sind Nachteilsausgleiche an die Erwerbstätigkeit gekoppelt, so dass es für viele behinderte Mütter schwierig ist, den Alltag zu bewältigen.

Behinderte Frauen werden zwar oft nicht als Frauen wahrgenommen, dennoch sind sie keineswegs sicher vor sexueller Gewalt. Behinderte Mädchen und Frauen sind nach UN-Angaben sogar doppelt so oft betroffen wie nicht Behinderte5. Fachleute gehen davon aus, dass behinderte Mädchen und Frauen, die in Einrichtungen leben, besonders häufig Opfer sexueller Gewalt werden. Um sexueller Gewalt in Abhängigkeitsverhältnissen vorzubeugen, fordern behinderte Frauen schon lange, wählen zu können, ob sie von einer Frau oder einem Mann gepflegt werden.

Die Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen sind auch anderen Formen der Gewalt ausgesetzt, die manchmal auf die Überlastung der Pflegekräfte zurückzuführen ist. Davon sind besonders ältere Frauen betroffen, da fast 80 Prozent der in Pflegeeinrichtungen6  und Alteneinrichtungen7  lebenden Personen Frauen sind. Es ist zwar damit begonnen worden, die Lebenssituation älterer und alter Menschen näher zu untersuchen, aber die Gruppe der älteren und alten Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen ist bislang kaum in das Blickfeld der Politik und des politischen Handelns gerückt.

... aber unschlagbar

Mit all diesen Schwierigkeiten haben sich behinderte Frauen in den existierenden Behindertenorganisationen häufig nicht ausreichend vertreten gefühlt. Deshalb schlossen sie sich seit den 80er Jahren in Gruppen zusammen, analysierten ihre Situation und setzten Gegengewichte. In den 90er Jahren gründeten sie Netzwerke auf Landes- und Bundesebene und können inzwischen teilweise hauptamtliche Mitarbeiterinnen mit Behinderung beschäftigen. Unterstützung erfuhren die Netzwerke behinderter Frauen vor allem von den Frauenministerien auf Bundes- und Länderebene.

Damit gewann die Bewegung behinderter Frauen an Schlagkraft. Ein deutliches Zeichen ist die Berücksichtigung ihrer Belange in Gesetzestexten. Außerdem ist "Weibernetz e.V. - Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigungen" im Arbeitsausschuss des Deutschen Behindertenrates (DBR) sowie im Deutschen Frauenrat vertreten. Damit versuchen die betroffenen Frauen, die Behindertendimension als Querschnittsthema in der Frauenszene zu verankern und gleichzeitig die Frauendimension als Querschnittsthema im Behindertenbereich zu etablieren.

Blick über den Tellerrand

Vergleichbare Aktivitäten der deutschen Behindertenbewegung sind in internationalen Zusammenhängen bislang selten. Angesichts gravierender Probleme für behinderte Menschen innerhalb der Bundesrepublik scheuen viele Betroffene davor zurück, sich international zu engagieren. Sie fürchten auch, dass Behindertenpolitik über staatliche Grenzen hinweg undurchschaubar sei. Als 2003 das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen begangen wurde, fanden zwar viele Aktivitäten und Veranstaltungen in Deutschland statt, die generelle Zurückhaltung hinsichtlich internationaler Zusammenarbeit ist jedoch geblieben.

Anders verhielt es sich bei den Verhandlungen zu einer UN-Behindertenkonvention in den letzten Jahren in New York. Als behinderte und nicht behinderte Frauen bemerkten, dass auch dieses Menschenrechtsdokument geschlechtsneutral formuliert war, starteten sie eine Kampagne  und erreichten letztlich dank der Zusammenarbeit mit vielen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen eine weitgehende Berücksichtigung der Belange behinderter Frauen.

2007 - Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle

Diese Erfahrung hat deutlich gemacht, dass es sich lohnt, sich auch international zu engagieren. Gelegenheit für weitere Aktivitäten bietet das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle - 2007. Da die EU-Kommission mit diesem Jahr alle benachteiligten Gruppen nach Artikel 13 der EG-Verträge angesprochen hat, bieten sich insbesondere Möglichkeiten, auf Mehrfachdiskriminierungen hinzuweisen. Damit sind behinderte Menschen generell, aber speziell behinderte Frauen angesprochen, das Jahr zu nutzen, um auf ihre Situation und immer noch bestehende Diskriminierungen aufmerksam zu machen.

Der Deutsche Behindertenrat hat bereits zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen Anfang Dezember 2006 die Europäische Kommission aufgefordert, „endlich einen Entwurf für eine umfassende Antidiskriminierungsrichtlinie für behinderte Frauen und Männer unter Beachtung der geschlechtsspezifischen Erfordernisse“ vorzulegen. Wegen der deutschen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union im ersten Halbjahr 2007 ist diese Forderung auch an die Bundesregierung gerichtet.

Frauen mit Behinderung planen für 2007 einen weiteren Schritt zu größerer Effektivität: Unterstützt vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wird das Weibernetz e.V. im Mai 2007 eine dreitägige Veranstaltung durchführen, auf der ein europäisches Netzwerk behinderter Frauen gegründet werden soll. Die beteiligten Frauen hoffen, dadurch ihrem Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen künftig immer näher zu kommen.


Endnoten

1 Women with Disabilities: From Invisible to Visible Citizens. (Meeting of the Ad Hoc Committee, 16 - 27 June 2003: NGO Bulletins: Disability Negotiations Bulletin, Volume 2, No.9 - June 26, 2003) 
2 Statistisches Bundesamt (Hg.), erstellt von Heiko Pfaff und Mitarbeiterinnen: Lebenslagen der behinderten Menschen. Ergebnis des Mikrozensus 2003. Statistisches
Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 10/2004
3 Statistisches Bundesamt: Statistik der schwerbehinderten Menschen 2003. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2005
4 Berechnungen der Autorin nach: Statistisches Bundesamt (Hg.), erstellt von Heiko Pfaff und Mitarbeiterinnen: Lebenslagen der behinderten Menschen. Ergebnis des Mikrozensus 2003. Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 10/2004 
5 International Disability Foundation: The World Disability Report - Disability ´99. Genf, 1998 
6 Statistisches Bundesamt: Bericht: Pflegestatistik 2003 - Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung - Deutschlandergebnisse. Statistisches Bundesamt, Bonn, 2005 
7 Häußler-Sczepan, Monika: Die Dienstleistungsgesellschaft auf dem Weg ins Altersheim? in: Selbstbestimmung in Einrichtungen. Qualitätsentwicklung und Dienstleistung in der Altenpflege. Dokumentation, BMFSFJ, Berlin, 1999

 

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Dr. Sigrid Arnade leitet das Medienbüro-Journalismus ohne Barrieren (JoB) in Berlin. Die gelernte Tierärztin ist seit 1986 zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen und arbeitet seither als Journalistin, Moderatorin und Projektmanagerin.