Von Havva Engin
Der Nationale Integrationsplan (NIP) stellt in der Geschichte deutscher Migrationspolitik einen Meilenstein dar. Zum ersten Mal setzt sich die Politik auf höchster Ebene gemeinsam mit Vertretern unterschiedlicher (Migranten)Gruppen mit Fragen der Einwanderung und Integration auseinander und erkennt an, dass vielfältigste Migrationsströme die deutsche Gesellschaft nachhaltig verändert haben und eine fundierte und gesteuerte Zuwanderungspolitik vonnöten ist, sollen Migration und Integration gelingen.
Der Nationale Integrationsplan ist - sei es im Hinblick auf die bisherige Zuwanderungspolitik oder die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema - als Status quo der gesellschaftlichen Diskussion zu lesen. In ihm steht nichts, was nicht bereits auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert, vorgeschlagen oder erforscht wurde. Fakt ist auch, dass der vorliegende Nationale Integrationsplan nicht mehr als ein Kompromiss aller an seinem Entstehen Beteiligter darstellt, bei dem die politischen Akteure auf weite Strecken den Diskussions- und Entstehungsprozess bestimmten. Dies kann man kritisieren, aber auch als eine Chance für mögliche Veränderungen begreifen.
Neu und bedeutend ist, dass der NIP Handlungsempfehlungen und Selbstverpflichtungen enthält, die sowohl von Seiten der Politik als auch von Seiten der gesellschaftlichen Interessengruppen formuliert wurden. Das Tempo der Umsetzung dieser kurz-, mittel- bzw. langfristigen Selbstverpflichtungen wird zeigen, wie ernst es der deutschen Politik und den beteiligten Interessengruppen hinsichtlich einer erfolgreichen Migrations- und Zuwanderungspolitik ist.
Das Hauptmanko des NIP besteht darin, dass für die Beobachtung und Umsetzung der formulierten Selbstverpflichtungen keine unabhängigen institutionellen Strukturen im Sinne eines Monitoring geschaffen wurden. Solche Institutionen wären jedoch für alle Beteiligten als Rückversicherung der bereits erreichten bzw. noch zu erreichenden Ziele notwendig.
„Wissenschaft“ im Nationalen Integrationsplan
Dieser Abschnitt widmet sich der Situation aller relevanten Statusgruppen aus dem Bereich „Wissenschaft“ (d.h. ausländische Studierende, Studierende, die einen bildungsinländischen Hintergrund haben, ausländische Wissenschaftler in deutschen Wissenschaftsinstitutionen sowie Migranten mit Hochschulbildung) im Kontext Deutschlands als Wissensstandort.
Positiv hebt der Integrationsplan hervor, dass für ausländische Studierende ein Studium in Deutschland weiterhin hohe Attraktivität genießt, was sich in den kontinuierlich gestiegenen Studierendenzahlen der letzten Jahre zeige (aktuell 280.000). Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass nur etwa 40% der ausländischen Studierenden ihr Studium in Deutschland erfolgreich abschließt, was als Aufforderung zur Verbesserung der Studienbedingungen verstanden wird; entsprechende Handlungsempfehlungen wie die Verbesserung der Wohn- und Arbeitssituation sowie der deutschen Sprachkenntnisse werden formuliert.
Die Beleuchtung der Studiensituation von so genannten Bildungsinländern ist ebenfalls Gegenstand. Ihre Zahl zeigt, dass der Erfolg je nach Herkunftsregion und Migrationsstatus unterschiedlich ausfällt, wobei die erfolgreichsten Bildungsinländer aus der Migrantengruppe der Spätaussiedler stammen und die erfolglosesten aus der Gruppe mit türkischem Migrationshintergrund.
Entsprechend der Altersstruktur der Migrantenpopulation hätten nach Angaben des Integrationsplans potenziell 115.000 Migrantenjugendliche mehr ein Hochschulstudium beginnen können, wenn sie in Deutschland höher qualifizierende Schulabschlüsse erworben hätten. Bedenkt man, dass die überwältigende Mehrheit der Bildungsinländer ihre Bildungssozialisation und –karriere in diesem Land durchläuft, offenbart sich, mit welchem Bildungsmisserfolg diese Gruppe konfrontiert ist. Es gelingt dem deutschen Bildungssystem nicht ansatzweise, hier die enge Kopplung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu überwinden.
Leider wird im Integrationsplan die Frage, wie die Zahl von Bildungsinländern mit Hochschulreife bzw. Hochschulabschluss erhöht werden kann, relativ oberflächlich und ohne substanzielle Handlungsempfehlungen behandelt. Lobenswert ist lediglich, dass best practice-Beispiele aus den klassischen Einwanderungsländern wie Großbritannien und den USA zitiert werden, an denen sich zu orientieren ist.
Positiv ist hervorzuheben, dass der NIP anerkennt, dass sowohl die Anwerbung von ausländischen Studierenden als auch von ausländischen Wissenschaftlern und Experten keine isolierte Fragestellung der Vermittlung von deutschen Sprachkenntnissen ist, sondern mit einem Bündel an flankierenden Maßnahmen zu begleiten ist und auch eine gesellschaftliche Aufgabe darstellt. Tatsache ist, dass die meisten Wissenschaftler ihre Familien mitbringen, so dass Fragen nach der beruflichen Eingliederung der Ehepartner und der Beschulung der Kinder eine zentrale Rolle spielen. In diesen Bereichen muss sich in Deutschland noch Entscheidendes verbessern.
Wie der Nationale Integrationsplan weist auch der zeitgleich erschienene OECD-Bericht zur beruflichen Integration von ausländischen Akademikern und Experten in Deutschland auf deren nicht genutzten beruflichen Potenziale hin. Nach Angaben des NIP befinden sich insbesondere innerhalb der Gruppe der jüdischen Immigranten sowie Spätaussiedler rund 220.000 Menschen mit Hochschulbildung, von denen die wenigsten in adäquaten Berufen eine Einstellung finden konnte. Als Verbesserung wird hier die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen sowie die Optimierung von Maßnahmen zur beruflich-nachholenden Integration vorgeschlagen.
Ob es Deutschland gelingt, ein attraktives Einwanderungsland zu werden und Chancengleichheit für alle Bürger sicherzustellen, ist keine ausschließliche Frage der Politik und der Gesetzgebung. Fakt ist, dass neben einer veränderten bzw. verbesserten Gesetzeslage ein neues gesellschaftliches Klima der Anerkennung und Wertschätzung der sprachlich-kulturellen Vielfalt in Deutschland notwendig ist. Dieses bedeutet für die Politik nicht weniger als einen politischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel einzuleiten. Der Nationale Integrationsplan weckt die Hoffnung, dass damit ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung unternommen werden kann.
November 2007
Dr. Havva Engin arbeitet als Juniorprofessorin für Sprachförderung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Vorher war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für interkulturelle Pädagogik an der TU Berlin tätig.