Sozialintegrative Stadtpolitik in Frankreich als Antwort auf städtische Jugendgewalt

Banlieues in Europa

Seit über 25 Jahren stehen die französischen Großstädte mit ihren Vorstädten im Rampenlicht medialer und politischer Aufmerksamkeit. Die „Banlieues“ haben die Aufmerksamkeit der PolitikerInnen, ArchitektInnen, StadtplanerInnen, JournalistenInnen und SoziologInnen aufgrund zahlreicher Jugendkrawalle erlangt.
Sozialintegrative Stadtpolitik, Politique de la Ville, entstand unter diesen Voraussetzungen bereits im Dezember 1981, wenige Monate nach den Aufständen Jugendlicher im „heißen Sommer“ in der Banlieue von Lyon.

Seither betreibt der französische Staat eine Stadtpolitik, die den Kampf gegen Ausgrenzung, Segregation und Armut zum Programm hat. Diese sozialintegrative Stadtpolitik versuchte, zahlreiche Kooperationspartner wie Kommunen, zivilgesellschaftliche Vereine, Wohnungsbaugesellschaften, Schulen, AkteurInnen der Stadtplanung und Architektur für ihre Aktionsfelder zu gewinnen und damit unterschiedliche Bereiche des städtischen Lebens und Wohnens integrativ zu verknüpfen. In regelmäßigen Abständen ist dieser Versuch der Implementierung einer neuen Politikstrategie im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung von Randalen Jugendlicher und Aufständen begleitet worden, die jedes Mal einen heftigen und kontroversen Diskurs über Erfolg bzw. Misserfolg dieser Politik nach sich zogen. Die Krawalle offenbaren letztlich auch die Unfähigkeit des politischen Systems, die Bedürfnisse der BewohnerInnen dieser Stadtrandgebiete zu befriedigen und die Jugendlichen pochen damit auf das republikanische Prinzip der Gleichheit aller StaatsbürgerInnen.

Der vorliegende Beitrag benennt einige Ursachen für die im Oktober 2005 ausgebrochenen Jugendkrawalle in Frankreich und stellt die städtische Jugendgewalt als Hintergrund und Anlass für die sozialintegrative Stadtpolitik in Frankreich dar. Ziel ist es, die Komplexität der Ursachen dieser Jugendunruhen darzustellen und die These zu vertreten, dass sich in der städtischen Jugendgewalt kulturelle, ethnische, soziale, politische und stadtplanerische Dimensionen vermischen. Im ersten Teil werden die vielfältigen Diskurse zu den Erklärungen der städtischen Jugendunruhen des Oktobers 2005 zusammengeführt und wird aufgezeigt, welche komplexen Aufgaben eine Politique de la Ville beantworten muss. Zum Schluss wird versucht nach den Erfahrungen dieser Politik eine Bilanz zu ziehen.

Ursachen für die Jugendunruhen im Oktober 2005

Etwa 9000 Autos, über 10 Schulen, mehrere Kindergärten, ungezählte Geschäfte brannten im Oktober 2005 in Frankreich oder wurden verwüstet. Es kam zu über 1000 Festnahmen, meist Jugendlicher zwischen 15 und 17 Jahren. Die ganze Welt schaute auf Frankreich, als dort der Ausnahmezustand verhängt wurde und stellte sich die Frage, ob das französische Modell der Integration gescheitert ist oder ob so etwas auch anderswo passieren könnte. In der International Herald Tribune vom 24.11.2005 erschien ein Artikel mit der Überschrift: „Wenn nur französische Politiker Pop Kultur gehört hätten“. Tenor des Artikels ist, dass die französischen Banlieues seit 15 Jahren ein Sprachrohr haben, nämlich den Rap. In den Hip-Hopp und Rapper-Liedern wird immer wieder dasselbe ausgesprochen: Schaut in die Banlieues, in die Ghettos und Ihr werdet sehen, dass dort Wut und Verzweiflung bei den Jugendlichen vorherrschen.

Gleichzeitig wird Respekt und Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft eingefordert. In dem vorangestellten Rap-Zitat von Les princes de la Ville wird betont, dass die Jugendlichen wütend sind, weil sie von der Gesellschaft und deren Standards abgehängt sind und ohne Chancen auf eine gute Zukunft ihr Dasein als Arbeitslose fristen. Ist also in den Rap-Texten schon alles gesagt worden und hätte man zugehört, so wären die Unruhen nicht unvorhergesehen ausgebrochen?

Ein großer Teil der Großsiedlungen an der Peripherie der Großstädte ist im Laufe der letzten 20 Jahre zu einem Synonym für Ghetto geworden und wird so auch in den Rap-Songs dargestellt. Die französische Gesellschaft – insbesondere in den größeren Städten – ist heute gespaltener denn je. In den Banlieues ist eine Generation von Jugendlichen herangewachsen, die durch Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Frustration, Aggression und Gewaltbereitschaft geprägt wurde und wird. Diese ausgegrenzten Jugendlichen leben in einer eigenen „Welt“, mit Werten, Normen, Sprachregelungen und Verhaltensmustern, die sich zunehmend von denen der Gesamtgesellschaft abspaltet. Sichtbar wird dies dann, wenn S-Bahnen oder Busse einige Haltepunkte in der Pariser Banlieue nicht mehr anfahren oder wenn, wie im Januar 1999 beschlossen wurde, sogenannte „Auffanghäuser“ für straffällig gewordene Jugendliche mit hohem finanziellem Aufwand errichtet werden, um die Jugendlichen, die straffällig geworden sind, „wegzuschließen“.

François Dubet und Didier Lapyeronnie (1994) stellen in ihrem Buch „Im Aus der Vorstädte“ die städtische Jugendgewalt1  in den Kontext der sozialen Ausgrenzung von Jugendlichen in den benachteiligten Gebieten. Mit dem Begriff der „Galère“2 interpretieren sie den neuen Bruch der französischen Gesellschaft, der kein sozialer Klassenkonflikt, sondern ein städtischer und kultureller Konflikt zwischen „Drinnen“ und „Draußen“ sei. Die jugendliche Gewalt in den Vorstädten ist in ihren Augen eine Ausdrucksform der sozialen Wut, die ihre Wurzeln im Ausschluss der Jugendlichen von der Teilhabe am sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Leben hat.
Im Folgenden werden die Ursachen des jugendlichen Aufstandes und der Gewalt in den Städten ausführlicher erläutert/begründet.

Soziale und ökonomische Ausgrenzung als Ursache der städtischen Jugendgewalt

Die Jugendlichen machen im täglichen Leben Diskriminierungserfahrungen. Diskriminierungen finden in der Schule statt. Diese wird von einem Teil der Jugendlichen nicht als Weg zu geistiger Entfaltung, sondern als Ort der Auslese erlebt. In ihren Augen ist das Weiterkommen aufgrund der Schulbildung denen vorbehalten, die es verstehen, allen Nutzen daraus zu ziehen und die im Allgemeinen weiße Hautfarbe besitzen, während sie selbst üblicherweise Abkömmlinge farbiger EinwandererInnen sind. Eine Antwort der Politique de la Ville auf die schulische Problemlage der Migrationskinder war bisher die Einrichtung von „Erziehungsvorranggebieten“, in denen mehr finanzielle Mittel, und spezifisch ausgebildete LehrerInnen in den Schulen eingesetzt wurden. Trotzdem bleibt das Versagen der Schule als Integrationsinstanz offensichtlich, da viele Jugendliche das Schulsystem ohne Abschluss verlassen und so auf dem Arbeitsmarkt keine reale Chance besitzen. Der Anteil der Jugendlichen ohne Arbeit liegt in den betroffenen Quartieren bei 50 %, und wenn man nur die Arbeiterkinder betrachtet, die die Schule ohne Abschluss verlassen haben, überschreitet der Prozentsatz an Arbeitslosigkeit in der Mehrzahl der vor kurzem brennenden Stadtviertel diesen noch.

Kulturelle und politische Ausgrenzung als Ursache der städtischen Jugendgewalt

Die Jugendlichen in den ausgegrenzten Stadtquartieren haben keine Möglichkeit, sich im politischen Raum vernehmbar zu machen. Die „Beur-Bewegung“, die politische Bewegung der Jugendlichen aus der zweiten Generation mit Migrationshintergrund der 80er Jahre, ist in den Quartieren nicht mehr sichtbar. Die damaligen politischen VorkämpferInnen sowie GewerkschafterInnen sind aus diesen Vierteln weggezogen und die Jugendlichen sind auf sich alleine gestellt.

Wenn sie versuchen, sich zu artikulieren und sich auf eine andere Art einzubringen, wendet sich das gegen sie. Ihrer Hingabe an den Rap wird mit Furcht und Herablassung begegnet. Ihr Ringen um Selbstbehauptung wird angeprangert als eine Art Sektierertum, das angeblich die Einheit der Republik gefährdet. Die staatliche Reaktion darauf war das Verbot einiger Rap-Gruppen und ihrer Texte. Die Politique de la Ville hat versucht, auf diese kulturelle Ausgrenzung zu reagieren, indem finanzielle Mittel für SozialarbeiterInnen und MediatorInnen aufgebracht wurden, um kulturelle Vereinigungen zu unterstützen, in denen die Jugendlichen in Schreibwerkstätten und Hip-Hopp-Kursen ihrem Lebensgefühl Ausdruck verleihen können. Allerdings wurden diese Mittel durch die konservative Regierung 1998 gekürzt.

Ethnische und religiöse Ausgrenzung als Ursache der städtischen Jugendgewalt

Die Debatte um die Gewalt in der Stadt („violences urbaines“) geht auch der Frage nach, ob die Jugendkrawalle „ethnischer Natur“ oder ein Beispiel für die Ethnisierung sozialer Konflikte sind (Lapeyronnie 1998; Body-Gendrot 1998). Der ethnische Konflikt als Ursache der Ausschreitungen wurde im Spiegel mit dem Begriff einer „Intifada“ in Frankreich benannt: Der Traum eines „friedlichen multikulturellen Miteinanders“ sei zerplatzt. Das französische Modell hat jedoch theoretisch nie von einem Multikulturalismus gesprochen. Frankreich propagierte immer die Idee der Egalité: Jede/r ist in den Augen des Staates gleich und Unterschiede werden nicht gemacht. Egal wo jemand herkommt, alle Franzosen und Französinnen sind gleich in ihrem Französischsein. Dieses Integrationsversprechen des französischen Staates betont die Gleichheit im Staatsbürgerschaftsrecht und in den staatlichen Institutionen. Aus diesem Grund sind ethnische oder konfessionelle Statistiken untersagt, dies verhindert aus Prinzip Antidiskriminierungs- und positive Diskriminierungsmaßnahmen.

Allerdings wurde durch die Politique de la Ville erstmals in Frankreich eine positive Diskriminierung für bestimmte territoriale Gebiete durchgesetzt. So erfand diese Politik „Freihandelszonen“ in denen Unternehmen, die sich dort ansiedelten, keine Steuern bezahlen mussten. Lapeyronnie (1998) schreibt, dass manche Jugendkrawalle auch „ethnischer“ Natur seien. Er ordnet sie ein als Folge von Rassismus. Die ethnischen Zuschreibungen sind tief in die Stadtviertel und Territorien eingedrungen. Der „falsche“ Name und die „falsche“ Adresse schaffen eine „Ethnizität“, die in einem negativ gekennzeichneten Stadtteil verankert ist. Allerdings haben sich die Annahmen einiger Medien, dass die jüngsten Unruhen in Frankreich durch radikal-islamische Aufrührer angestachelt worden seien, nicht bestätigt. Frankreichs größter Muslim- Verband erließ eine „Fatwa“, in der es hieß: „Es ist jedem Muslim verboten, sich Befriedigung durch die Teilnahme an Aktionen zu verschaffen, bei denen Dinge beschädigt oder Menschen verletzt werden.“ In einigen Vierteln haben religiöse Führer versucht, auf die Jugendlichen beruhigend einzuwirken.

Architektonische und stadtplanerische Fehler als Ursachen der städtischen Jugendgewalt

In den Erklärungsversuchen zu den Ursachen der jüngsten Unruhen in Frankreich wird auch der Stellenwert von Architektur und Städtebau als „Brutstätte“ der Gewalt diskutiert. Die Großsiedlungen am Rande der Städte, die Grands Ensembles, sind zwischen 1950 und 1974 unter Anwendung der Prinzipien der Charta von Athen (Einfachheit, Wirtschaftlichkeit, Grünflächen, Besonnung) entstanden. Sie wurden meist in der Nähe von neuen und bestehenden Industriestandorten an den Rändern der Städte erbaut. Der Städtebau dieser Siedlungen ist durch Le Corbusier geprägt und passt in die Industriegesellschaft: strukturell reine Wohngebiete für Menschen, die zur Arbeit gehen, deren Kinder die Schule besuchen. Es sind Schlafstädte für eine Bevölkerung, die tagsüber nicht anwesend sein sollte. Sie wurden für breite Schichten der unteren und mittleren Einkommensgruppen, ArbeiterInnen, FacharbeiterInnen und Angestellte gebaut.

Diese Bevölkerungsgruppen sind in der Folgezeit zum großen Teil ausgezogen in Einfamilienhäuser, die sie sich mit zunehmendem Einkommen gebaut haben. An ihrer Stelle sind wirtschaftlich und gesellschaftlich unzureichend integrierte Randgruppen, vor allem MigrantInnen aus den ehemaligen französischen Kolonien nachgezogen. Mit der ökonomischen Krise und dem gesellschaftlichen Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft wurden diese städtebaulichen Strukturen zu Randgruppensiedlungen: Schäden der Bausubstanz, eine defizitäre Ausstattung des Wohnumfeldes, leerstehende Sockelzonen, schlechte Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel sowie ein Fehlen urbaner Infrastrukturen haben diese Siedlungen zu stigmatisierten und stigmatisierenden Orten werden lassen: Es sind dort Situationen entstanden, in denen ganze Bevölkerungsgruppen den Tag in einer Siedlung verbringen müssen, die nie für diesen Zweck konzipiert wurde.

Die Jugendlichen in den Cités haben keine Orte des Rückzugs, sie können überall gesehen und beobachtet werden. Was fehlt, ist öffentlich urbaner Raum, den sie sich aneignen können. Architektur und Städtebau sind in den Grands Ensembles so konzipiert, dass auf gesellschaftlichen Wandel nicht angemessen reagiert werden kann. Bekanntlich können gebaute Strukturen die Integration von Menschen fördern oder verhindern. Aus diesem Grund wurden in der Politique de la Ville Instrumente für städtebauliche Maßnahmen festgesetzt: Verbesserungen des baulichen Zustandes, Schaffung funktionierender städtebaulicher Strukturen durch Abrissmaßnahmen und Neubau, Gestaltung des öffentlichen Raumes, der Aneignungsmöglichkeiten bereitstellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gewalt in den Städten und die damit verbundenen Ausschreitungen im Schnittpunkt mehrer Ursachen liegen. Ein Problem ist der Rassismus, die Verachtungen und Diskriminierungen, denen die Jugendlichen in ihrem kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischem Leben ausgesetzt sind. Die Argumentation sollte zeigen, dass soziale und ökonomische Deklassierungen der Jugendlichen mit ihrer kulturellen-ethnischen Diskriminierung in engem Zusammenhang gesehen werden müssen. Der Konflikt, der sich in den französischen Banlieues im Oktober 2005 zeigte, ist sicherlich ein sozialer, der nicht ausschließlich als ethnisch oder religiös interpretiert werden kann, bei dem sich aber komplexe Ursachen überlagern. Eine wesentliche politische Dimension besteht darin, dass die Einwandererkinder einen französischen Pass haben, französisch denken, französisch fühlen und die republikanischen Werte von Gleichheit und Brüderlichkeit verinnerlicht haben. Die jugendlichen Einwandererkinder nehmen das Postulat der gleichen Rechte, die in der Staatsbürgerschaft ihren Ausdruck finden, ernst und fordern die praktische Umsetzung dieses republikanischen Prinzips.

Der städtische und kulturelle Konflikt zwischen „Etabilierten“ und „Außenseitern“, zwischen „Drinnen“ und „Draußen“ ist in Frankreich dadurch gekennzeichnet, dass den Revoltierenden das Glücksversprechen einer vollständigen Integration vor die Nase gehalten wird. So sprach auch Präsident Chirac in seiner späten Reaktion auf die Krawalle am 17. Oktober 2005, dass die jugendlichen Randalierer „Kinder der Republik“ seien. Die „kulturell Anderen“ waren geschichtlich und geografisch weit im Abseits, nämlich in den französischen Kolonien. Diese kulturell Fernen suchen nun ihren Platz innerhalb des französischen Territoriums. Frankreich befindet sich auf dem Weg einer kulturellen Ausdifferenzierung und der Anerkennung des „kulturell Anderen“ inmitten der Gesellschaft. Insofern ist es zu verstehen, dass die Ausschreitungen nicht die Integrationsbemühungen des französischen Staates in Frage stellen können, sondern vielmehr, dass sie aufzeigen, dass das Integrationsversprechen einzulösen ist. Die Jugendlichen sehen als ihr Mittel die gewaltförmigen Ausschreitungen an, um sich selbst ihrer Existenz zu vergewissern und ihre verfassungsgemäßen Rechte einzufordern.

Warum sind trotz der Maßnahmen der Politique de la Ville die jüngsten Gewaltausschreitungen in Frankreich erfolgt?

Ist die Politique de la Ville nur ein hilfloses Instrument oder sind damit innovative Ansätze zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung geschaffen worden? Die Stadtquartiere, in denen die jüngsten Gewaltausbrüche ihren Ausgang nahmen, gehören keineswegs zu den von der Politique de la Ville „vergessenen“ Gebieten.
Wie eingangs geschildert, ist die Politique de la Ville in regelmäßigen Abständen von Unruhen und Ausschreitungen Jugendlicher begleitet. Die Ausführungen zu Beginn dieses Artikels machen deutlich, dass die Ursachen für die Jugendkrawalle vielschichtig sind. Im Oktober 2005 entzündete sich der Funke durch eine unverhältnismäßig empfundene Polizeiaktion. Bei dieser polizeilichen Verfolgung zweier Jugendlicher, die angeblich ein geringes Diebstahldelikt begangen hatten, kam in der Folge ein Jugendlicher ums Leben. Innenminister Sarkozy goss noch Öl ins Feuer, indem er von „Gesindel aus den Vorstädten“ sprach, das mit einem Hochdruckreiniger weggesaugt gehört.
Die Jugendlichen aus den Vorstädten empfinden dies als Verachtung und Würdelosigkeit, mit denen ihnen die staatlichen Organe entgegentreten. Sie greifen daraufhin staatliche Institutionen wie Polizei, Schulen oder öffentliche Verkehrsmittel in ihren Quartieren an, denn sie sehen in den staatlichen Einrichtungen kaum noch Instrumente zur Hebung des sozialen Standards und begreifen sie schon gar nicht als Zugänge zur Integration in die Gesamtgesellschaft.

Vom französischen Sozialmodell kennen sie nur die Arbeitslosigkeit oder Übergangsangebote, wie geförderte Arbeitsverhältnisse, und die Abhängigkeit von Sozialämtern, ein graues Universum, das sie zwar vor Verelendung schützt aber auch in Unsicherheit hält und das ihnen ausweglos erscheint. Durch die gewaltförmigen Ausschreitungen und die mediale Präsenz, die darauf folgt, stellen sie ihre Lebenssituation ins Scheinwerferlicht und können sich ihrer Existenz versichern. Darüber hinaus dienen die Krawalle dazu, sich deutlich Gehör zu verschaffen. Ob die Jugendlichen nun durch den Aufruhr einen kollektiven Akteur im Sinne einer sozialen Bewegung darstellen, ist sicherlich fraglich, aber sie erreichen politische Aufmerksamkeit. So gesellt sich zu der Identitätskrise des politischen Frankreichs und der Eliten die Frage, wie das politische Zusammenleben organisiert werden soll. Es wird anlässlich der Krawalle debattiert, ob es richtig war, dass die konservative Regierung die Gelder für die Nachbarschaftspolizei, die MediatorInnen gekürzt und zahlreiche Vereinssubventionen im kulturellen Bereich gestrichen hat. Die Unruhen zeigen, dass es unerlässlich ist, jede Bevölkerungsgruppe anzuerkennen und zu achten und zu begreifen, dass die Bevölkerungsgruppe der MigrantInnen nicht ein Problem darstellt, sondern dass es sich bei ihnen schlicht und ergreifend um französische StaatsbürgerInnen handelt, die den Anspruch, gleichwertige BürgerInnen dieses Staates zu sein, umgesetzt sehen wollen. Die Antwort der Politik müsste sein, Menschen nicht nur „gleich“ zu nennen, sondern ihnen auch wirklich gleiche Chancen einzuräumen.

Zum einen muss sicherlich der Ansatz, bauliche und soziale Maßnahmen miteinander integrativ zu vernetzen, gestärkt werden: Abriss, Neubau, Sanierung der baulichen Substanz müssen mit Strategien der Stärkung und des Empowerments der Quartiersbevölkerung Hand in Hand gehen. Stadtplanung, die von oben herab „top-down“ an den Bedürfnissen der BewohnerInnen vorbeigeht, muss ersetzt werden durch Ansätze zur Aktivierung und Beteiligung an baulichen und sozialen Maßnahmen.

Der neoliberale Rückzug des Staates muss gestoppt werden, denn die Kommunen alleine können keine Maßnahmen zur sozialen Mischung in den Quartieren gewährleisten. Der Nationalstaat hat die Aufgabe zu regulieren, um einen Ausgleich für die wachsende Schere zwischen arm und reich zu schaffen. In diese Aufgabe müssen Unternehmen, halbstaatliche Akteure und zivilgesellschaftliche Organisationen gleichberechtigt eingebunden werden.

Die Krise der Vorstädte, die ihren Ausdruck in den gewaltförmigen Jugendunruhen findet, ist eine mehrfache Herausforderung für die sozialintegrative Stadtpolitik in Frankreich. Sie muss umfassende Antworten in mindestens drei Feldern finden: Zum einen eine Antwort auf die ungleiche soziale Lage der Menschen in den Banlieues und dem Rest Frankreichs; die Strategien dafür liegen sicherlich in einer Kombination von lokaler Maßstabsarbeit und Verteilungspolitiken auf nationaler Ebene. Zum Zweiten muss die Politique de la Ville auch Antworten auf die postkoloniale Situation finden, die die Töchter und Söhne der Einwandererfamilien einem tiefgehendem Rassismus und allgegenwärtigen Diskriminierungen im gesellschaftlichen Leben aussetzt; eine Strategie dafür liegt sicher in der Durchsetzung gleicher Rechte für die jugendlichen MigrantInnen aus den Vorstädten. Zum Dritten ist die Krise der Vorstädte auch eine Krise der politischen Repräsentanz im französischen politischen System; dabei geht es um eine Öffnung der gesellschaftlichen und politischen Institutionen Frankreichs für die zweite und dritte Generation der MigrantInnen.

Endoten 

1 „Les violences urbaines“ fassen die diversen Formen städtischer Jugendgewalt wie „Rodéo mit gestohlenen Autos“, „Plünderungen von Geschäften“, physische Angriffe, Drogenhandel etc. zusammen.
2  La „galère“ bedeutet übersetzt „eine ,ätzende‘ Situation“. Dubet definiert la galère als eine generelle Krise, die sowohl eine soziale Desorganisation, wie auch eine Schwächung der Intergationsnormen der Gesellschaft, als auch die Erfahrung von Ausgrenzung und Stigmatisierung des Quartiers beinhaltet.

Literatur

  • Body-Gendrot, Sophie, 1998: Les villes face à l’insécurité. Des ghettos américains aux banlieues françaises. Paris.
  • Lapeyronnie, Didier, 1998: Jugendkrawalle und Ethnizität. In: Heitmeyer, W./Dollase, R./Backes, O. (Hrsg.), Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben. Frankfurt a.M., S. 297-316.
  • Lapeyronnie, Didier/Mucchielli, Laurent, 2005: Piégés par la République. Les jeunes des quartiers difficiles ne voient du «modèle social français» qu’une grise prison. In: La Libération, Paris 9.11.2005.
  • Dubet, François/Lapeyronnie, Didier, 1994: Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokratischen Gesellschaft. Stuttgart.

Der Beitrag ist ein Auszug aus: Frey, Oliver (2007): Sozialintegrative Stadtpolitik in Frankreich als Antwort auf städtische Jugendgewalt. In: Reutlinger, Christian / Mack, Wolfgang / Wächter, Franziska / Lang, Susanne (Hrsg).: Jugend und Jugendpolitik in benachteiligten Stadtteilen in Europa. VS-Verlag, Wiesbaden 2007, S. 138-158.

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Oliver Frey, Dipl.-Ing. der Stadt- und Regionalplanung und Mag. der Soziologie, arbeitet seit 2000 als Universitäts-assistent im Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung, Fachbereich Soziologie an der Technischen Universität Wien.