Welche Wissenschaft braucht die Einwanderungsgesellschaft? Kritische Reflexionen zur Rolle der Wissenschaft im Nationalen Integrationsplan

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von Andreas Hieronymus 1

Der „Nationale Integrationsplan“ (NIP) mit dem verheißungsvollen Untertitel „Neue Wege – Neue Chancen“ stellt in seiner Grundintention einen Fortschritt zur bisherigen Einwanderungspolitik der BRD dar. Unter Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeiteten eine Vielzahl 2  von Akteure auch Empfehlungen für eine weltoffene Wissenschaft. Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich aber weniger auf die Inhalte, als auf das Fernbleiben „türkischer“ Verbände. Diese und der „in Deutschland lebende Türke und Türkeiforscher“ wurden von „deutschen Politikern“ aufgefordert sich an „deutsche Gesetze“ zu halten 3.

Quer zu dieser ethnifizierten medialen Aufmerksamkeit gab es innerhalb und außerhalb des Gipfels eine breite Solidarisierung 4  mit diesen Verbänden. Die Kritik an der parallelen Verschärfung von Aufenthaltsgesetzen 5  war weniger von Ankara gesteuert, als durch einen quer durch alle Arbeitsgruppen getragenen, breiten Unmut unter den am Integrationsgipfel Beteiligten verursacht.

Was wird unter „Integration“ verstanden?

Diese Frage stellt sich nach der Lektüre des NIP-Themenfeldes „Wissenschaft – weltoffen“ einmal mehr. Im gesamten Integrationsplan wird der Begriff der Integration 1219 Mal benutzt; allerdings ohne genauer zu beschreiben, was denn darunter zu verstehen sei. Aufgrund dieser Schwierigkeit wird für den Bereich der wissenschaftlichen Migrations- und Integrationsforschung die Entwicklung einer operationalen Arbeitsdefinition vorgeschlagen (S. 196).

Bei näherer Betrachtung des Berichts stellt man allerdings fest, dass der ungeklärte Integrationsbegriff als Leerformel zur Integration von Widersprüchen dient. Einerseits werden eine ganze Reihe von Faktoren aufgezählt, die offenbar als Zeichen einer gelungenen Integration zu werten sind. So besteht Einigkeit darin, dass die deutsche Sprache ein großer Integrationsfaktor sei. Gleichzeitig werden die Sprachanforderungen zur Aufnahme eines Studiums erhöht und das Erlernen der Sprache ins Ausland verlagert 6.

Ähnliche Widersprüche treten bei den rechtlichen Rahmenbedingungen auf, welche die Möglichkeit des Familiennachzug hochqualifizierter Zuwanderer so erschweren, dass ein Aufenthalt in Deutschland für diese nicht attraktiv ist (S. 191). Auch wurden trotz behaupteter Beteiligung aller zivil gesellschaftlicher Akteure am NIP, grundlegende politische Entscheidungen schon im Vorfeld, und zwar ohne die „Betroffenen“ entschieden.

Diese Form von Widersprüchen durchzieht das gesamte Dokument. Einerseits werden notwendige Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen festgestellt, um überhaupt die Grundlagen für einen verbesserten Zugang zum Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb zu ermöglichen. Andererseits werden aber genau diese Punkte aus dem NIP ausgeklammert. So kritisierte Johannes Glembek (Geschäftsführer des Bundesverbandes ausländischer Studierender BAS und Mitglied der AG), das „die Verabschiedung des Aufenthaltsgesetzes [...] schon symbolisch gezeigt [hat], dass die eine Seite beschließt und hiernach erst mit der anderen Seite gesprochen wird .“7

Welches Verständnis von Wissenschaft wird artikuliert?

„Weltoffenheit und Internationalität“ wird als Voraussetzung für und Markenzeichen von wissenschaftliche Exzellenz gesehen (S. 183). Als Leitidee steht dabei der Wettbewerbs- und Ideenstandort Deutschland im Mittelpunkt. Dementsprechend tauchen auch MigrantInnen als Ressourcen oder auszuschöpfendes Potenzial im Sinne einer am Arbeitsmarkt orientierten Verwertbarkeit auf. Es geht nicht um Bildung für alle, sondern um diejenige Bildung, die der Beseitigung des Fachkräftemangels dient. Wissenschaft, die Wissen als reinen Standortfaktor im „wachsenden Wettbewerbsdruck“ und der zunehmenden Konkurrenz um die „besten Köpfe“ (S.191) versteht, schließt Fragen, die sich eine kritische Wissenschaft stellen müsste von vornherein aus. So z.B. die Frage, welche Fragen eigentlich in der derzeitigen Wissenschaftstheorie und -praxis ausgeschlossen werden, die aber unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen einer dynamischen Einwanderungsgesellschaft relevant werden könnten. Eine weitere Problematik des NIP besteht in der Einführung von Eignungs- und Sprachtests, die schon im Heimatland auf ein Studium vorbereiten sollen. Mit der Verlagerung der Studienzugangskriterien ins Ausland, dem gleichzeitigen Abbau der Sprachkursangebote an deutschen Universitäten und der Kostenpflichtigkeit dieser Kurse, wird zudem die Selbstverpflichtung der Hochschulen umgangen und so die Kosten in die Herkunftsländer ausgelagert. Durch die Ökonomisierung der Wissenschaft, wie sie u.a. mit der Einführung von Exzellenzuniversitäten vorangetrieben wird, kommen die zuvor eingesparten Gelder, die z.B. für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für (nicht nur) ausländische Studierende dringend nötig wären, einer immer kleiner werdenden Gruppe von Studierenden zugute. Letztlich wird eine Elitenzuwanderung gefördert, die sozial selektiv ist und welche die Schere zwischen „gewollter“ und „ungewollter“ Migration immer weiter öffnet.8

Ist internationalisiertes Wissen deutsch?

Wissenschaft sei ein internationales Phänomen und somit per se integrationsstiftend, allein schon durch die moderne Lingua Franca der Wissenschaft, dem Englischen. (S. 189). Allerdings hört die Internationalisierung schon vor der eigenen Haustür auf. Erwartet wird, dass sich zugewanderte WissenschaftlerInnen und StudentInnen überwiegend auf Deutsch beziehen, in ihren Heimatländern Deutsch erlernen um dann, einmal in der BRD angekommen, möglichst „schnell und nachhaltig“ integriert werden zu können (S.186). Durch die eingeforderte Deutschsprachigkeit werden zunächst einmal weltweit sehr begrenzte Wissensdiskurse fokussiert und dies hat in der Regel erst einmal wenig mit dem internationalisierten Wissen, welches de facto in Englisch daherkommt, zu tun. Eine konsequente Förderung der Mehrsprachigkeit (mindestens Deutsch-Englisch) des Wissenschaftsbetriebs, um überhaupt an diesem internationalisierten Wissen teilzuhaben, gerät kaum in den Blick. Auch die Beschränkung der Förderung von interkulturellen Kompetenzen auf die MitarbeiterInnen der Studentenwerke (S. 187), eröffnet alleine nicht neue Wege, da es einer allgemeinen Antidiskriminierungskultur innerhalb und außerhalb des universitären Alltags bedarf um gleiche Zugänge für alle herzustellen.

Während in den angelsächsischen und frankophonen Ländern der Begriff des Rassismus und die damit einhergehenden Formen von struktureller Diskriminierung längst als empirisch fundierte Rassismustheorien Eingang in universitäre Diskurse und Praktiken gefunden haben und sich somit den Strukturproblemen postkolonialer Gesellschaften stellen, zeigt sich in den vorgeschlagenen Maßnahmen (z.B. Preisvergabe für die freundlichsten Ausländerbehörde zur Sensibilisierung der Ausländerbehörden), dass es keine Vorstellung von struktureller Diskriminierung gibt, die jenseits dem individuellen Vorurteil der Ausländerfeindlichkeit (S. 190) liegen. Die Forderung nach „Aufklärungs- und Werbekampagnen [...], die zur positiven Einstellung gegenüber Ausländern in Deutschland führen“ (S.192) überlässt die Lösung des Problems den Marketingabteilungen, die oft selber Teil des Problems sind. Es stellt sich die Frage, ob nicht einer der Inhalte von Wissenschaft in der Einwanderungsgesellschaft, egal ob es sich um Geistes- oder Naturwissenschaften handelt, die Orientierung der Bildungsinhalte an ethischen Fragen und Fragen der Grundrechte sein sollte, anstatt diese zu Gunsten leistungs- und marktorientierter Studieninhalte weg zu rationalisieren.

Wie sollte Wissenschaft in der Einwanderungsgesellschaft aussehen?

Der NIP schlägt auch eine Neukonzeption der „Migrations- und Integrationsforschung“ vor. Diese solle sich „stärker“ auf Faktoren gelungener Integration beziehen (S. 185). Behauptet wird hier die Existenz einer „Integrationsforschung“. Wer sich aber die internationale Forschung, die sich mit Fragen der „Migration“ und der „Integration“ beschäftigt anschaut, weiß wie unterschiedlich Methoden, Gegenstand und Ergebnisse sind. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass diejenige Integrationsforschung, auf die sich der Bericht bezieht, als immer noch stark von der Defizitperspektive geprägt wahrgenommen wird und sich stärker auf die Erforschung der Normallagen der Integration konzentrieren müsse (S. 197). Was genau diese Normallagen der Integration sind, bleibt ob der fehlenden Klarheit des Begriffes der Integration unklar.

Zu vermuten ist, dass hier vor allem die „unauffällige“, da offenbar „problemlose Integration“ im Sinne einer Assimilation gemeint ist. Das der Bericht selbst von der Defizitperspektive geprägt ist, zeigt sich an der Beschreibung der Studienvoraussetzungen für ausländische Studierende, bei denen die „Vertrautheit mit hochschulspezifischen Normalitätserwartungen und Umgangsformen (...) nur unzureichend entwickelt [ist], und es gelingt ihnen häufig nicht, diese Defizite im Studienverlauf auszugleichen. (S. 186)“ Das die Normalitätserwartungen und Umgangsformen der deutschen Hochschulen selbst das Problem sein könnten und die gleichwertige Beteiligung Zugewanderter und Bildungsinländern am Hochschul- und Bildungssystem, hemmen bzw. einen Zugang gar nicht erst ermöglichen, kommen mit dem Fokus auf die so genannte gelungene Integration, gar nicht erst in den Blick. Ziel von Forschung und Wissenschaft in der Einwanderungsgesellschaft kann nicht der Import von nach Nutzungskriterien gefilterten Wissen sein um den bestehenden Status Quo festzuschreiben, sondern sie sollte in der Lage sein insbesondere auch Veränderungsprozesse der Einwanderungsgesellschaft selbst kritisch zu untersuchen.

Fazit

Der NIP schreibt den Status Quo in der deutschen Wissenschafts- und Bildungslandschaft fest. Er bringt mit seinen Widersprüchen ein zentrales Dilemma der deutschen Migrationspolitik zum Ausdruck. Einerseits ist die BRD ein Einwanderungsland, andererseits ist das vorherrschende Gesellschaftsbild immer noch an einer national definierten Gesellschaft orientiert, in der migrantische gesellschaftliche Akteure nicht die gleichen Rechte bzw. die gleichen Partizipations- und Entscheidungsmöglichkeiten haben wie Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Dies hat ganz aktuell sowohl der Entstehungsprozess des NIP gezeigt als auch dessen Abkopplung von wichtigen Entscheidungen des Aufenthaltsgesetzes.

Endnoten

1 Dieser Beitrag wurde in Zusammenarbeit mit Annette Abel erstellt.

2 Die Vielzahl war aber eingeschränkt vielfältig, da von den 19 TeilnehmerInnen nur sechs einen Migrationshintergrund hatten oder Vertreter von Migrantenorganisationen waren, siehe S. 199.

3 Deutscher Integrationsgipfel in Wikipedia

4 Z.B. DGB und Caritas, die beide im „Netz gegen Rassismus“ mit über 100 Nichtregierungsorganisationen vertreten sind.

5 Die Kritik entzündete sich am so genannten „EU-Richtlinienumsetzungsgesetz“, welches EU-Richtlinien sehr repressiv in deutsche Gesetze überführte.

6 Siehe dazu: Wernicke, Jens (2007): Eines der dringendsten Probleme bei der Integration ist das Bildungssystem, in: Telepolis vom 10.07.2007 

7 Wernicke, 2007, a.a.O.

8 a.a.O.

Bild entfernt.

Dr. Andreas Hieronymus ist Geschäftsführer des iMiR – Institut für Migrations- und Rassismusforschung und wurde im Oktober 2007 für Deutschland in den Vorstand des Europäischen Netzes gegen Rassismus (ENAR) gewählt.