von Nadin Landgraf
Auf Grundlage der UN-Konvention über die Rechte von Kindern erhob sich das Interesse, genauere Daten über die Lebensverhältnisse von Kindern in verschiedenen Nationen zu erheben. 2007 wird darauf basierend die erste internationale Vergleichsstudie bedeutender Industriestaaten „Zur Situation von Kindern in den Industrieländern“ von UNICEF veröffentlicht. Diese untersucht verschiedene Dimensionen der Lebenssituationen in 19 europäischen Ländern, der USA und Kanada. Dabei wird jedes Land in jeder der sechs einzelnen Kategorien bewertet, woraufhin sich folgendes Ranking ergibt.
Tabelle 1: Zur Lage der Kinder in Industrieländern
Quelle: Bertram 2008; S.38
Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, dass Deutschland trotz der Förderung von Familien und Kindern (Kindergeld, Steuerfreibeträge, Elterngeld und Erziehungszeit usw.) lediglich eine Mittelstellung im internationalen Vergleich einnimmt. Die detaillierte Darstellung der Lebenssituationen von Kindern in Deutschland soll der „UNICEF-Bericht zur Lage von Kindern in Deutschland“ übernehmen, der sich aus verschiedenen Beiträgen bekannter deutscher Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zusammensetzt. Im folgenden stelle ich die Ergebnisse des darin enthaltenen Artikels „Zur Lebenssituation von Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland“ von Bernhard Nauck, Susanne Clauß und Elisabeth Richter (Technische Universität Chemnitz) vor.
Die Bevölkerungsgruppe der Migranten zu untersuchen, ist von großer Bedeutung, da 18,6% der deutschen Bevölkerung laut Statistischem Bundesamt über einen Migrationshintergrund verfügen. Werden nur die Kinder im Vorschulalter betrachtet, fällt dieser Anteil noch weit höher aus: circa ein Drittel von ihnen kam entweder nicht in Deutschland zur Welt oder besitzt mindestens ein Elternteil, das außerhalb Deutschlands geboren wurde.
„Als „Kinder“ werden Individuen im Alter bis einschließlich 17 Jahre definiert; Kinder „mit Migrationshintergrund“ sind solche, die der ersten oder zweiten Migrantengeneration zugehören; die „erste Migrantengeneration“ ist nicht in Deutschland geboren, die „zweite Migrantengeneration“ ist in Deutschland geboren und hat mindestens ein nicht in Deutschland geborenes Elternteil.“ (Nauck et al. 2008; S. 128). Dafür ergibt sich folgendes Bild:
Abbildung 1: Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund
Kulturelle Differenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zeigen sich beispielsweise bei den Einstellungen über den Wert von Kindern für Eltern. Hierbei unterscheiden sich Migrantenfamilien oftmals von den einheimischen deutschen Familien. Der Wert eines Kindes für seine Eltern kann ökonomisch-utilitaristisch, aber auch psychologisch-emotional ausgeprägt sein. Der höchste psychologisch-emotionale Wert der Kinder ist bei türkischen Migrantenfamilien zu finden. Hier geben 99% der Väter und 96% der Mütter an, dass Kinder Freude im Haus bereiten.
Jedoch sehen türkische Eltern auch den größten ökonomisch-utilitaristischen Nutzen in ihren Kindern, denn 73,7% der Väter und 68,5% der türkischen Mütter stimmen der Aussage zu, dass ihre Kinder ihnen im Alter helfen werden. Hierbei unterscheiden sie sich stark von anderen Bevölkerungsgruppen. Deutsche Eltern distanzieren sich am meisten von der Idee, ihre Kinder als Altersvorsorge zu betrachten (Zustimmung unter 11%). Auch die Griechen, Italiener und Aussiedler schreiben ihren Kindern weniger einen ökonomisch-utilitaristischen Wert zu. Einzig die Vietnamesen tendieren ebenfalls zu diesem Standpunkt (45,8% der Väter und 59,4% der Mütter). Diese Differenzen in den Antworten sind einerseits eindeutig auf kulturelle Unterschiede der Herkunftsländer der einzelnen Bevölkerungsgruppen zurückzuführen, da in vielen keinerlei derartige staatliche soziale Sicherungssysteme existieren.
So sind die Generationen im Aufnahmeland gegenseitig aufeinander angewiesen. Andererseits deuten die Differenzen auf die Sonderstellung gewanderter Familien im Aufnahmeland hin. Denn in diesem Kontext sind Generationenbeziehungen allein wegen der Migrationssituation selbst von hoher Bedeutung, da sowohl psychische als auch physische Belastungen der Wanderung in der Familie besser aufgefangen werden können. So kann zum einen die Herkunftskultur weitergelebt werden, zum anderen erleichtert das Generationenleben ebenfalls die Auseinandersetzung mit der Kultur der Aufnahmegesellschaft. Dies verdeutlicht vielleicht auch, warum sich die Solidarbeziehungen in Migrantenfamilien anders gestalten als in deutschen Familien. Der Wert der Kinder nimmt innerhalb gewanderter Familien demzufolge einen ganz anderen Stellenwert an als in deutschen Familien.
Des Weiteren bietet der Beitrag neue Erkenntnisse zu Sprachgebrauch und Sprachkompetenzen der in Deutschland lebenden Migrantenfamilien. Sprache ist nicht nur Symbol und Medium, sie ist vor allem auch Ressource und gerade für die Integration im Einwanderungsland von großer Bedeutung. Sprache ermöglicht den Zugang zur neuen Kultur und Lebenssituation, gestattet aber auch den Erhalt des Kontakts zur Herkunftsgesellschaft. Sie transportiert benötigte Wissensbestände. Der Gebrauch von Sprache innerhalb der Migrantenfamilien gestaltet sich dabei anders, als in den Familien der Aufnahmegesellschaft. In gewanderten Familien wird zwischen den Generationen hauptsächlich in der Muttersprache kommuniziert, außerhalb der Familie sprechen die Kinder mit Migrationshintergrund jedoch die Sprache der Aufnahmegesellschaft.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass etwas mehr als die Hälfte der Migranteneltern innerhalb der Familie ausschließlich ihre Muttersprache spricht. Dabei ist der prozentuale Anteil der gesprochenen Muttersprache zwischen den Generationen höher als zwischen den Geschwistern selbst. Diese sprechen seltener in der Sprache des Herkunftslandes ihrer Eltern. Griechen behalten ihre Muttersprache am stärksten bei, gehören aber wiederum zu den Migranten, die die Sprache der Aufnahmegesellschaft besser beherrschen. Die größten Sprachverluste zeigen sich bei türkischen Mädchen, die im Gegenteil zu ihren männlichen Landesgenossen die Sprache des Herkunftslandes seltener benutzen, wie die nachstehende Tabelle verdeutlicht.
Tabelle 2: Sprachverwendung von Eltern und Jugendlichen
in italienischen (I), griechischen (G), türkischen (T) Migrantenfamilien und in deutschen Aussiedlerfamilien (A)
Quelle: Nauck et al. 2008; S. 141
Wie entscheidend eine vorschulische Kinderbetreuung ist, gerade für spätere schulische Erfolge, zeigt die Untersuchung von Straßburger (2001). Sie verdeutlicht mit ihren Ergebnissen, dass Kinder ohne Kindergartenbesuch ein niedrigeres Bildungsniveau aufweisen. Der Anteil der Abiturienten unter Migranten, die einen Kindergarten besuchten, liegt mit 39% um einiges höher als der Anteil derer, die keinen Kindergarten besuchten (29%). So sollte die vorschulische Betreuung für Kinder von Zuwanderern eine grundlegende Notwendigkeit sein, um ihre schulischen Erfolgschancen zu steigern. Jedoch nehmen die wenigsten Migrantenfamilien die Möglichkeit einer vorschulischen Betreuung in Anspruch.
Lediglich im letzten Jahr vor dem Schuleintritt erhöht sich der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Kindergärten und unterscheidet sich schließlich nur noch marginal vom Anteil der deutschen Kinder. Gründe für die geringere Beteiligung in Kindertagesstätten finden sich einerseits in der finanziellen Mehrbelastung durch den Besuch einer pädagogischen Einrichtung, andererseits wird eben diese als minderwertige Aufbewahrungsanstalt aufgefasst, in der es eventuell zu einer kulturellen Entfremdung der Kinder mit Migrationshintergrund kommen könnte (Nauck et al. 2008; S. 144).
Abbildung 2: Inanspruchnahme vorschulischer Betreuung
Quelle: SOEP 1984-2003 (ungewichtete Ergebnisse), Becker/Tremel 2006; S. 405
Die Ergebnisse zur Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund weisen erschreckende Tendenzen auf. Sie zeigen eine systematische Benachteiligung im Bildungssystem. Indikator für dieses Ergebnis ist die starke Präsenz der Kinder mit Migrationshintergrund in Sonder- und Hauptschulen, in Gymnasien hingegen sind sie deutlich unterrepräsentiert. Häufig verlassen sie die Schule ohne jeglichen Abschluss. Die Pisastudien von 2000 und 2003 deuten dies an, indem sie den Kindern aus zugewanderten Familien schlechtere Testergebnisse in der Lesekompetenz bescheinigen und zeigen, dass sie Klassen öfter wiederholen müssen. Besonders Kinder jugoslawischer und italienischer Abstammung erreichen überdurchschnittlich oft einen Sonder- oder Hauptschulabschluss (32,4% bzw. 34,8%). Damit liegt deren Anteil zweifach über dem deutscher Schüler mit Sonder- oder Hauptschulabschluss (15,3%).
Kinder mit Migrationshintegrund unterscheiden sich von deutschen Kindern ebenfalls hinsichtlich der Gesundheitsversorgung. Sie nehmen wesentlich seltener als einheimische Kinder an den Früherkennungsuntersuchungen U3 bis U9 teil. 85% aller Kinder der Aufnahmegesellschaft werden bei den Untersuchungen vorstellig, wohingegen nur knapp die Hälfte (56%) der Kinder mit Migrationshintergrund diese medizinischen Leistungen in Anspruch nehmen. Ein erschreckend hoher Anteil von 14% der Migrantenkinder besucht solch eine Untersuchung nie (bei deutschen Kindern liegt dieser Wert bei 2%).
Auch bei anderen medizinischen Indikatoren zeigen sich Differenzen. Dies betrifft zum einen die Mundhygiene, denn Kinder mit Migrationshintergrund gehen seltener zu zahnärztlichen Kontrollbesuchen und putzen sich seltener am Tag die Zähne, als dies deutsche Kinder tun. Interessant ist, dass diese Tatsache auch bei Kontrolle des sozialen Status der zugewanderten Familien Bestand hat. Der Stellenwert der Mundhygiene ist in Migrantenfamilien ein anderer als bei deutschen Familien.
Eine weitere gesundheitliche Belastung ergibt sich durch Übergewicht, welches bei Migrantenkindern häufiger auftritt. 11,3% der deutschen Schulanfänger leiden an Übergewicht, wohingegen 15,1% aller ausländischen Kinder übergewichtig sind, dabei besonders türkische Erstklässler mit 22,7%. Die Gründe dafür können noch nicht benannt werden, da noch ungeklärt ist, ob vor allem ethnische oder sozioökonomische Umstände ursächlich sind.
Abbildung 3: Übergewicht nach Migrationsstatus in Prozent
Quelle: Kurth et al. 2007; S. 740
Die Ergebnisse des UNICEF-Berichts verdeutlichen, dass sich die Lage der Kinder in Deutschland deutlich, abhängig von ihrem Wanderungsstatus, unterscheidet. Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund nehmen nicht nur vorschulische Angebote auf andere Weise wahr, die Kinder selbst weisen zudem eine systematische Benachteiligung im deutschen Bildungssystem auf. Weitere Differenzen finden sich innerhalb der Nutzung des Gesundheitssystems und der Sprachkompetenzen im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern der Aufnahmegesellschaft.
Ein deutliches Ergebnis findet sich ebenfalls bei der Wahrnehmung des Wertes von Kindern. Auch hier variieren die Aussagen der Bevölkerungsgruppen. All diese Ergebnisse könnten noch differenzierter ausfallen, wenn sich die Datengrundlage zur Lebenssituation von Kindern mit Migrationshintergrund elaborierter gestalten würde. Gleich wenn sich diese in den letzten Jahren verbessert hat, sind noch immer große Defizite zu finden und es kann kein exaktes Bild zu den Lebensumständen dieser Kinder gegeben werden.
Literatur
- Becker, Rolf/ Tremel, Patricia (2006): Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung auf die Bildungschancen von Migrantenkindern. Soziale Welt 57: 397-418.
- Bertram, Hans (2008): Deutsches Mittelmaß: Der schwierige Weg in die Moderne. In: Bertram, Hans (Hrsg.): Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. München: C.H.Beck. S. 38.
- Kurth, Bärbel-Maria/ Schaffrath Rosario, Angelika (2007): Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. In: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung ? Gesundheitsschutz, Volume 50, Numbers 5-6 / Mai 2007, S.736-743.
- Nauck, Bernhard/ Clauß, Susanne/ Richter, Elisabeth (2008): Zur Lebenssituation von Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland. In: Bertram, Hans (Hrsg.): Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. München: C.H.Beck. S. 127 – 151.
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Straßburger, Gaby (2001): Evaluation von Integrationsprozessen in Frankfurt am Main. Studie zur Erforschung des Standes der Integration von Zuwanderern und Deutschen in Frankfurt am Main am Beispiel von zwei ausgewählten Stadtteilen. Bamberg: Europäisches Forum für Migrationsstudien.
Nadin Landgraf studierte Soziologie mit den Vertiefungsrichtungen Familie, Bevölkerung & Lebensalter und Industrie- und Techniksoziologie. Zur Zeit arbeitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Soziologie der TU Chemnitz.