von Radostin Kaloianov
Integrationspolitiken für MigrantInnen in Ländern wie Deutschland, Österreich oder anderen vergleichbaren europäischen Ländern wirken hauptsächlich auf die Rahmenbedingungen der Integration ein. Es werden Rahmenbedingungen für die Anschlussfindung an die Mainstream-Gesellschaft geschaffen, die sich im Wesentlichen auf rechtliche Bedingungen, sprachliche und fachliche Qualifikationen sowie Beratungsleistungen beschränken. Affirmative Action Politiken, wie sie in verschiedenen Ländern der Welt seit Jahrzehnten umgesetzt werden, gehen darüber hinaus und verändern gesellschaftliche Strukturen mit der Absicht, neben der Umverteilung sozialer Güter zugunsten benachteiligter Gruppen auch soziale Kontakte und Beziehungen zwischen privilegierten und diskriminierten Gruppen herzustellen. Durch diese Kontakte und inter-Gruppen-Beziehungen wird es möglich, langfristig Diskriminierungsmuster und Verhältnisse der Abwertung zu verändern oder gänzlich abzuschaffen.
Freilich werden in der Praxis Affirmative Action Maßnahmen kaum mit Bezug auf hochgreifende Zielsetzungen wie die Verbesserung der Beziehungen zwischen Gruppen eingeführt. Vielmehr spielen hier alltagspragmatische Argumentationen eine Rolle wie die Angleichung der Personalstände von öffentlichen Einrichtungen an das demographische Verhältnis zwischen Mehrheitsbevölkerung und (autochthonen wie zugewanderten) Minderheiten (Anderson 2004). Diese alltagspragmatische Gerechtigkeitsforderung leitet sich von der Einsicht ab, dass Institutionen, die einen öffentlichen Auftrag erfüllen, als Minimum die demographische Struktur derselben Öffentlichkeit abzubilden haben, in deren Auftrag sie handeln. Der common sense gebietet diese Gerechtigkeitsforderung, ist es doch naheliegend, dass sich benachteiligte Gruppen erst dann eine bessere Behandlung durch gesellschaftliche Institutionen realistisch erhoffen dürfen, wenn sie sich selbst ausreichend stark in diesen vertreten sehen.
Ob Affirmative Action mit moralisch hochgreifenden Begründungen oder mit pragmatischen Argumenten des Gemeinverstands eingefordert werden oder nicht, belegt die Lage von MigrantInnen in den verschiedenen Ländern Europas, und zwar der Alltag und nicht nur Extremsituationen wie zivile Unruhen (Frankreich im Jahr 2005), dass es nicht nur an der Zeit ist, solche politischen Maßnahmen zur Lösung angestauter Probleme ernsthaft zu überlegen, sondern auch, dass die MigrantInnen selbst mit guten Gründen solche Politiken für sich beanspruchen können.1 In vielen Beschäftigungsbereichen wie etwa in der öffentlichen Verwaltung, in der Politik oder im Sicherheitsapparat sind die MigrantInnen stark untervertreten. In anderen gesellschaftlichen Bereichen wie im Gesundheitswesen oder in der Wirtschaft sind MigrantInnen auf den niederen Hierarchieebenen konzentriert. In wiederum anderen Bereichen wie die Medien sind sie stark marginalisiert.
Diese Probleme der Benachteiligung sind länderspezifisch unterschiedlich. In Großbritannien sind eingewanderte Gruppen besser positioniert, sprich sie sind sichtbarer in Verwaltung und Medien, während dort beispielsweise die Gettoisierung und Segregation im Wohnbereich ausgeprägter sind als z.B. in Österreich, wo genau das Gegenteil der Fall ist. Die Erklärung solcher Unterschiede hängt mit den politischen, rechtlichen und kulturellen Aufnahmebedingungen in dem jeweiligen Land zusammen sowie mit der Art, der Dauer und dem Ausmaß der Immigration.2
Starke Maßnahmen der Affirmative Action3 wie Quotenregelungen oder Zeitplanregelungen lösen strukturelle Veränderungen mit Signalwirkung für die Gesamtgesellschaft aus und gehen Hand in Hand mit gesetzlichen Änderungen. Darauf zielen common sense Argumente für Quoten als Mechanismen der Abbildung und Angleichung von demographischen Verhältnissen in Bereichen und Einrichtungen, in welchen Missverhältnisse bestehen. Schließlich bringen starke Maßnahmen von Affirmative Action die verschiedenen Gruppen wie Mehrheitsbevölkerung und Minderheiten, MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen in praktischen Kontexten zur Lösung gemeinsamer Aufgaben am Arbeitsplatz oder in der Bildungsstätte in Beziehungen miteinander. Dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass längerfristig (in einer oder zwei Generationen oder länger) die abwertenden Einstellungen, Handlungspraktiken und institutionellen Strukturen, die die Diskriminierung von Minderheiten (in den meisten Fällen) oder Mehrheiten (wie in Südafrika der Apartheid-Ära) reproduzieren, abgeschwächt oder überwunden werden.
Beispiele für Affirmative Action
Beispiel Indien
Hier wird ganz bewusst Indien als Beispiel von Affirmative Action herausgegriffen, weil in der öffentlichen Wahrnehmung dieses Land nicht als so exemplarisch für Affirmative Action gilt wie etwa die USA. Und dies zu Unrecht, da Quotenpolitiken für benachteiligte Gruppen in Indien eine lange Geschichte haben und in der Verfassung verankert sind. Es ist in der Bundesverfassung Indiens ausdrücklich festgeschrieben, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung in den Fällen der Förderung der sog. „scheduled castes“ (Dalits, die Unberührbaren, die indigene Bevölkerung des indischen Subkontinents) und scheduled tribes (Adivasis) außer Kraft gesetzt werden kann (Sowell 2004). Dazu kommt eine weitere Kategorie, die alle anderen benachteiligten Gruppen, die weder scheduled castes noch tribes sind, umfasst: die „other backward castes“ (in etwa 52 % der Bevölkerung, mehr als 3000 Kasten und Stämme). Mit Stand 2001 können nach dieser Kategorisierung der Zielgruppen von Affirmative Action in Indien insgesamt etwa 76 % der indischen Bevölkerung eine positive Ungleichbehandlung zu ihren Gunsten beanspruchen.
Die präferentielle Behandlung der Unberührbaren in Indien hat bereits gegen Ende der britischen Kolonialherrschaft eingesetzt – in manchen Provinzen wurden Unberührbare bevorzugt in öffentlichen Einrichtungen (Ämtern) aufgenommen. Zu den Affirmative Action-Maßnahmen aus dieser Zeit gehörten auch sprachpolitische Maßnahmen bei der Festlegung von Amtsprachen oder Ausbildungssprachen in den Provinzen und Regionen Indiens. Nach der Unabhängigkeit Indiens wurden die Unberührbaren aus politischen Gründen – vor allem um die Machtbalance zwischen Hindus und Moslems zu wahren - als Hindus eingestuft, auch wenn diese weiterhin von den vier Kasten (Priester/Gelehrte, Krieger, Händler und Bauer) mit ihren vielen Unterteilungen ausgeschlossen waren (Sowell 2004).
Die Diskriminierung von Unberührbaren in Indien galt als besonders drastisch, in mancher Hinsicht noch drastischer als die Segregation der AfroamerikanerInnen in den Südstaaten der USA bis zu den 1960er, 1970er Jahren. Und wie man bereits bei der Bezeichnung „Unberührbare“ erkennt, wird hier die Kontaktaufnahme zu Personen untersagt, unter der Annahme, dass diese weniger wert sind. Den Dalits in Indien wurde die Benutzung öffentlicher Infrastrukturen (Transportmittel, Wasserquellen, Friedhöfe usw.) oder von öffentlichen Einrichtungen verboten, da der Akt der Benutzung als Akt der Kontaktaufnahme und auch als Möglichkeit zur Kontaktaufnahme gesehen wurde (Sowell 2004).
Diskriminierung und Kontaktuntersagung sind eng verflochten. Diejenigen, die für unwichtig, weniger wertvoll, nicht vertrauenswürdig, gefährlich usw. gehalten werden, werden gemieden. Kontaktaufnahme und Beziehungspflege werden von Wertschätzung angeleitet. Daher versperren die Verhältnisse der Diskriminierung nicht nur den Zugang zu Ressourcen – Einstiegschancen in die Arbeitswelt, Chancen auf Bildung usw. -, sondern bewirken vor allem, dass sie die Kontakte zu Menschen unmöglich oder sogar strafbar machen.
Beispiel Österreich
Das nächste Beispiel aus Österreich ist ebenfalls ausgewählt wegen seines geringen Bekanntheitsgrads. Diesmal ist der Grund für die geringe Bekanntheit von Affirmative Action-Maßnahmen in Österreich nicht wie im Fall mit Indien die geographische oder die mediale Ferne, sondern liegt dies am Ausbleiben von Affirmative Action, insbesondere wenn es um die MigrantInnen als Zielgruppen geht.
Ein erstes Beispiel für Affirmative Action in Österreich ist die im Jahr 2007 angelaufene Anwerbeaktion der Wiener Polizei gegenüber Jugendlichen mit Migrationshintergrund (Stand November 2008). Die positiven Auswirkungen der gestärkten und gezielten Rekrutierung von Polizeipersonal mit Migrationshintergrund sind noch nicht messbar, aber vorstellbar, und zwar nicht nur in Bezug auf die Polizei als Institution, die viele sicherheitsbezogene Integrationsagenden abdeckt und daher auf die Lebenssituation von MigrantInnen Einfluss nimmt. Die weiterreichenden Auswirkungen betreffen sowohl die Gesamtgesellschaft als auch die verschiedenen Herkunftsgruppen von MigrantInnen, die noch stärker in den Strukturen der Macht eingebunden werden und eine wertschätzende Sichtweise erfahren.
Auch ein rezentes Beispiel von Affirmative Speech aus Österreich soll hier erwähnt werden, die sogenannte „Berufsschwuchtel“-Offensive. Eine Gruppe, die sich von einer degradierenden Bezeichnung beleidigt sieht, begehrt dagegen mit verbalen Maßnahmen auf, findet Unterstützung bei Institutionen, Prominenten, Medien und beginnt die suggerierte negative Bedeutung der Bezeichnung „Berufsschwuchtel“ zu variieren, kehrt sie um, dehnt ihr Bedeutungsumfang bis ins Absurde und trägt diese Bezeichnung als Identifikation offensiv vor. All das führt zur Alarmierung und Sensibilisierung.
Als Minimum wird die Selbstverständlichkeit der negativen Semantik, die der Terminus transportiert, die Naturalität und Naivität zerrüttet, also nicht abgeschafft aber doch zerrüttet. Dadurch wird als Minimum die Leichtigkeit des öffentlichen Sprachgebrauchs dieser Redewendung in Frage gestellt und durch gesteigerte Sensibilität ins Abseits gedrängt. In der Folge wendet sich bei Weiterverwendung dieses Begriffs seine Negativität gegen diejenigen, die ihn in einem beleidigenden Sinne verwenden. (Mehr zu den Hintergründen dieser rezenten Affirmative Speech-Offensive ist unter http://www.berufsschwuchtel.at/ zu finden.)
Weitere Beispiele aus dem europäischen Kontext mit angeschlossener Evaluation sind in dem Diskussionspapier „The Benefits of Positive Action“ (Strasser et. al 2008) zu finden.
Kritiken an Affirmative Action
Affirmative Action-Politiken werden aus verschiedenen Gründen kritisiert und in Frage gestellt. In der Forschungsliteratur zu Affirmative Action, die sich großteils auf US-amerikanische Erfahrungen bezieht (z.B. Pojman 1997), wird auf negative Effekte hingewiesen wie die Verletzung von Prinzipien der Chancengleichheit und der Leitungsgerechtigkeit (Affirmative Action diskriminiert zugunsten von schlechtergestellten und ergo schlechter qualifizierten Gruppen), die Viktimisierung (die wohlgemeinte Verfestigung in einer Opferrolle), die fortdauernde negative Stigmatisierung (die Erfolge und Leistungen von Zielpersonen werden nur auf Affirmative Action zurückführt) oder Gruppenrivalitäten wie z.B. in Indien. So wird Affirmative Action Schädlichkeit und Ungerechtigkeit attestiert.
Auch der ökonomische, politische und sozialpolitische Erfolg solcher Maßnahmen in Indien, in den USA oder in anderen Ländern mit Affirmative Action-Geschichte bleibt umstritten. Von Affirmative Action scheinen dort vor allem diejenigen zu profitieren, die ohnehin bereits besser gestellt sind, die wirklich mittellosen und benachteiligten Personen hingegen sind so schlecht gestellt, dass sie nicht aus der ihnen zugedachten präferentiellen Behandlung Vorteile beziehen können. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass eine begünstigte Zielgruppe aus eigener Kraft bereits viel von dem geschafft hätte, was im Nachhinein nicht auf die Leistung der Gruppe sondern auf die Wirkung von Affirmative Action zurückgeführt würde. Im Lichte solcher Einwände erweist sich Affirmative Action als nutzlos.
Ein weiteres Argument gegen Affirmative Action ist, dass die präferentielle Behandlung von Gruppen mittels Quotenpolitiken oder Zeitplanmaßnahmen ihre Zielgruppen von der Entfaltung ihres Potentials entmutigt und auch alle anderen Gruppen daran hindern, ihr Bestes zu geben. Ebenso wird Affirmative Action vorgeworfen, dass die geringfügigen Umverteilungen von Ressourcen zugunsten von benachteiligten Zielgruppen großflächige Irritationen auslösen können: Minor transfer of benefits ergibt major resentments zwischen Gruppen und verschlechtert die Rahmenbedingungen für soziale Beziehungen, Kooperation und Wertschätzung zwischen Gruppen (Sowell 2004).
Oft werden Affirmative Action mit Wohlfahrtspolitik verglichen und es wird argumentiert, dass solche Maßnahmen dort überflüssig seien, wo es ein gut funktionierendes Wohlfahrtssystem gibt. Also stellt sich die Frage, ob in Ländern wie Deutschland oder Österreich, die gut funktionierende Wohlfahrtsstaaten sind, Affirmative Action für MigrantInnen nicht überflüssig sind (Kaloianov 2008).
Es wird also behauptet, dass Affirmative Action sowohl strukturell bei der Verteilung und Verwertung sozialer Ressourcen als auch sozial für den Aufbau sozialer Beziehungen und sozialem Vertrauen in die Gesellschaft kontraproduktiv sind. Doch meistens sehen die Kritiker von Affirmative Action vor lauter Bäumen den Wald nicht.
Was ist nochmals Affirmative Action?
Die Originalbezeichnung Affirmative „Action“ legt eine Schwerpunktsetzung nahe, die über den Affirmative Speech (siehe oben, „Berufsschwuchtel“ Beispiel) hinausgeht. Affirmative Action greifen in gesellschaftliche Strukturen ein, was Handeln erfordert und sich nicht alleine durch diskursive Mittel, als Affirmative Speech, austragen lässt.
Affirmative Action sind Politiken der aufwertenden Umdeutung von diskriminierenden gesellschaftlichen Semantiken durch Eingriffe in die gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken, in denen Diskriminierungsverhältnisse - in Form von sozio-ökonomischer Ausgrenzung, rechtlicher Ungleichstellung oder politischer Unsichtbarkeit - materialisiert sind. Durch strukturelle Maßnahmen am Arbeits-, Bildungs- oder Wohnungsmarkt können durch Affirmative Action für benachteiligte autochthone wie neuzugewanderte Bevölkerungsgruppen Einstiegs- und Aufstiegschancen geschaffen werden, die ihnen aufgrund von Diskriminierung oder migrationsbedingten Umständen vorenthalten geblieben sind. Auf diesem Wege können Personen ohne und mit Migrationshintergrund in praktische Verhältnisse zueinander treten und auf dem Terrain einer gemeinsamen Praxis an Orten wie Arbeitsplatz, Bildungsstätte oder Wohngegend ihre Vorurteile und ideologischen Befangenheiten überwinden (Kaloianov 2008).
Während die schwachen Affirmative Action-Politiken auf Mittel wie Ausbildung, Information, Anwerbung zugreifen, um die soziale Erreichbarkeit von benachteiligten Personen und Gruppen sicherzustellen, machen starke Affirmative Action-Politiken auch Gebrauch von Methoden wie präferentielle Behandlung bei der Besetzung von Arbeits- und Studienplätzen, Vorschreibung von quantitativen, statistisch überprüfbaren personalpolitischen Plänen (plans), Zeitplänen (timetables), Zielen (goals) oder Quoten (quotas) zur Behebung von Missverhältnissen in der Repräsentation von Minderheiten auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem oder in den öffentlichen Einrichtungen.
Auch die sogenannten set-aside-Politiken gegenüber Unternehmen benachteiligter Gruppen gehören zum Repertoire der starken Affirmative Action-Politik.4 Diese Maßnahmen können an Bevölkerungsmehrheiten (wie in Südafrika oder Malaysien) oder an autochthone sowie allochthone Minderheiten (wie in Indien oder in den USA) gerichtet sein. Sie können verfassungsrechtlich, legislativ und administrativ legitimiert sein und in Bereichen wie im öffentlichen und privatwirtschaftlichen Beschäftigungssektor, in den Bereichen Bildung, Wohnen, politische Repräsentation und soziale Organisation zu Anwendung kommen.
Allerdings sind nicht alle Quotenmaßnahmen Affirmative Action. In Nigeria wurden nach der Unabhängigkeit und um die Machtbalance zwischen Nord und Süd, zwischen Hausa-Fulani, Ibo und Yoruba in Waage zu halten, verschiedene Quotenmaßnahmen bei der Personalbesetzung von staatlichen Institutionen eingeführt mit der Begründung, dass die öffentlichen Einrichtungen „den föderalen Charakter des Landes widerspiegeln müssen“ (m. Ü., Sowell 2004). Allerdings setzten diese Maßnahmen im soziopolitischen und historischen Kontext Nigerias die bestehenden Gruppenrivalitäten und Gruppenfavorisierungen fort.
Anstatt die Disparitäten zwischen den verschiedenen Regionen zu mindern, wurden durch diese Maßnahmen diese Disparitäten in Hinsicht auf Bildungsniveau, Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung vertieft. Umgekehrt können starke Affirmative Action Maßnahmen nicht mit Quoten- und Zeitplanregelungen gleichgesetzt werden. Der im Jahr 2004 gescheiterte Versuch zur Einführung eines Kommunalwahlrechts für MigrantInnen (Drittstaatsangehörige) in Wien kann, als eine (nicht realisierte) starke Maßnahme affirmativer Integration von MigrantInnen angesehen werden.
Affirmative Action und Integration
Affirmative Action als Fördermaßnahmen für diskriminierte Gruppen sind sowohl der Reparatur von Schädigungen und Verletzungen von Personen, als auch der Integration dieser Personen in die (mainstream) Gesellschaft verpflichtet. Manchmal kann die Reparatur von Effekten der Diskriminierung, die Affirmative Action anstrebt, auf Kosten der Integration der betroffenen Gruppen in den gesellschaftlichen Mainstream erfolgen, um die Vorbeugung von Diskriminierungseffekten in der Zukunft sicherzustellen. Solche Fälle des Auseinanderklaffens zwischen Reparatur und Vorbeugung von Diskriminierung sind aus der Geschichte von Affirmative Action in verschiedenen Ländern (USA, Indien, Nigeria) gut bekannt. Die Wiedergutmachung der Effekte von Diskriminierung erzeugt neue Diskriminierungsverhältnisse und ermöglicht keinen Anschluss an den gesellschaftlichen Mainstream, dies vor allem dort, wo die Integrität einer Gesellschaft auf Diskriminierungsverhältnisse aufgebaut ist. Affirmative Action treten gegen einen derartig aufgebauten gesellschaftlichen Zusammenhalt auf, und es kann diesen Maßnahmen Destabilisierung und Polarisierung vorgeworfen werden, allerdings vom Standpunkt der Zufriedenheit mit den bestehenden Diskriminierungsverhältnissen aus. Es ist genau dieser Standpunkt der Abwertung und seine strukturellen, handlungspraktischen und normativen Manifestationen, welchem die Politiken der Affirmative Action entgegensteuern.
Die Integration von marginalisierten und diskriminierten Gruppen erfolgt einerseits entlang der Achse der gesellschaftlichen Strukturen – diese können etliche rechtliche, politische, institutionelle, diagnostische Barrieren enthalten, die durch strukturelle Veränderungen abgebaut werden (sollen). Andererseits werden ausgeschlossene und schlechtergestellte Gruppen auf dem Weg der sozialen Kontakte und Beziehungen zwischen Gruppen in die Gesellschaft hineingeholt. Die strukturelle und die soziale Dimension der Integration hängen eng miteinander zusammen. Zum einen verunmöglichen oft soziale Strukturen die Kontaktaufnahme unter fairen Bedingungen, zum anderen führen Kontakte und Beziehungen zwischen (privilegierten und benachteiligten) Gruppen ohne Transformation von gesellschaftlichen Strukturen nicht zur Überwindung von institutionell verfestigten Diskriminierungsverhältnissen zwischen Gruppen.5
Die strukturelle Integration befasst sich mit der Sicherstellung von begünstigenden und gerechten Rahmenbedingungen für den Anschluss von benachteiligter Gruppen wie autochthone Minderheiten, Frauen, MigrantInnen, Behinderte am gesellschaftlichen Mainstream, wobei darunter die Zugehörigkeit zu den anstrebenswerten Lebensweisen und Lebensräumen zu verstehen ist. Die Integration per Rahmenbedingungen hat für die Politik, wenn diese als Investment öffentlicher Mittel begriffen wird, den Vorteil, dass dadurch Integrationsleistungen mit objektiven und quantitativen Kriterien gemessen werden können (Niessen/Huddleston 2007). Integrationspolitiken werden als ökonomische Ressourcenverwaltung praktiziert, die auch wirtschaftlichen Kriterien der Erfolgsmessung Rechnung tragen müssen.
In den Aufnahmeländern Europas haben die Politiken der strukturellen Integration die Chancengleichheit der Rahmenbedingungen für den gesellschaftlichen Einstieg oder Aufstieg von MigrantInnen zum Ziel. Und zwar in wenigen Handlungsfeldern wie jenem des rechtlichen Status, der sprachlichen und beruflichen Qualifikation sowie der Konfliktschlichtung. Strukturelle Integrationsansätze, die über die Bereitstellung günstiger Rahmenbedingungen hinausgehen und auf die Schaffung von sozialen Kontakte und Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen abzielen, fehlen bislang.
Genau dieses integrationspolitische Defizit kann nun Affirmative Action beheben. Insbesondere „starke“ Affirmative Action wird nachgesagt, nicht nur Chancen sondern auch die Ergebnisse der sozialen Teilhabe zu beeinflussen und dadurch als eine Art social engineering zu fungieren. Dies ist nur begrenzt wahr. Vielmehr ist der Fall, dass Affirmative Action-Maßnahmen, welche Quoten oder Zeitpläne festlegen, nicht bloß Rahmenbedingungen der Integration benachteiligter Gruppen schaffen, sondern darüber hinaus - oft eben zwanghaft - soziale Kontakte und Beziehungen zwischen privilegierten und diskriminierten Gruppen ermöglichen und oft auch erzwingen. Wenn bei der Quotierung von Arbeitsplätzen nur die unverdiente Privilegierung (von weniger Qualifizierten auf Kosten der besser Geeigneten) gesehen wird, erfolgt diese Beurteilung und Verurteilung von Affirmative Action vom Standpunkt der Integration per Rahmenbedingungen, wobei Arbeit als Rahmenbedingung betrachtet wird. Völlig außer Acht wird dabei gelassen, dass Arbeit die privilegierte soziale Stätte für die Knüpfung von sozialen Beziehungen zwischen Gruppen ist, die den Kern der Integration als soziale Erfahrung darstellen.
Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Kontakte sondern um solche, die um die Lösung gemeinsamer praktischer Aufgaben in Handlungsfeldern wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Freizeit usw. ausgerichtet sind. Denn Blickkontakte auf der Straße oder im Stiegenhaus werden tagtäglich aufgenommen, ohne dass diese auch nur im Geringsten die Abwertungsverhältnisse zwischen Gruppen abbauen können. Die sozialen Kontakte und Beziehungen, die aus der präferentiellen Behandlung von Gruppen in verschiedenen praktischen Kontexten von Kooperation aber auch Konkurrenz entstehen können, sind an die Lösung praktischer Aufgaben gerichtet und sind Interaktionen zwischen ArbeitskollegInnen, Mitstudierenden oder auch mit KlientInnen/KundInnen.
In diesen Interaktionen wird jede und jeder Einzelne ihre und seine Fähigkeiten und Eigenschaften unter eine praktische Bewährungsprobe stellen und wird der Wert jeder und jedes Einzelnen in der Praxis zwischenmenschlicher Beziehungen ermittelt, jenseits der ideologischen und präreflexiven Befangenheiten, auf welchen die Abwertung von Gruppen aufgebaut ist.6
Das Hereinholen von benachteiligten Gruppen in öffentliche Institutionen, und diese sind ja das primäre Spielfeld von Affirmative Action, hat auch eine gesamtgesellschaftliche Signalwirkung, da öffentliche Institutionen an der Herstellung und Verbreitung von Generalbildern, die Gruppen voneinander haben, entscheidend beteiligt sind.
Außerdem bringt das Handeln von Institutionen, die heterogen besetzt sind, die empirischen Einstellungen von Mehrheitsbevölkerungen mit den normativen Idealen und Regeln des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit in einer liberal-demokratischen Gesellschaft in Einklang und setzt den Standpunkt durch, dass diese Ideale und Normen für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen gelten.
Affirmative Action für MigrantInnen
Natürlich sind die Aufgaben in gesellschaftlichen Strukturen und in sozialen Beziehungen zwischen Gruppen einzugreifen sehr ambitioniert und in vieler Hinsicht nicht unproblematisch.
Wie auch andere Politiken (policies) sind die Achillesferse von Affirmative Action-Maßnahmen nicht die Ideale, die sie verfolgen, sondern ihre Umsetzung. Auch wenn sich Affirmative Action für MigrantInnen mit guten Gründen argumentieren lassen, können bei ihrer Umsetzung beträchtliche Hürden auftreten. Eine solche ist die Festlegung der Zielgruppe von Affirmative Action für MigrantInnen. An wen sollen solche Maßnahmen gerichtet sein? Für die zweite und dritte Generation von MigrantInnen sind diese Maßnahmen besser einforderbar als für die erste Generation, die die Einwanderung vollzogen hat. Doch genau an die Nachfahren der ersten Generation sind Affirmative Action schwerer zu adressieren, zumal MigrantInnen der 2. und 3. Generation sich oft nicht selbst als MigrantInnen definieren bzw. nicht als MigrantInnen angesehen werden wollen. Dies auch wenn und gerade weil sich ihnen gegenüber Ungerechtigkeiten tradieren, die auf systematische Diskriminierung zurückgehen, den Migrationsumständen der ersten Generation entspringen oder auf die AutorInnenschaft politischer Akteure, die dem hate speech verhaftet sind, zurückzuführen sind. Tradierte Ungerechtigkeiten gegenüber den Nachfahren der ersten MigrantInnengeneration enthalten die Gründe für Affirmative Action für MigrantInnen. Gleichzeitig entziehen solche tradierte Ungerechtigkeiten Affirmative Action für MigrantInnen den Boden, da gerade die Tradierung von Ungerechtigkeit die Nachkommen der Einwanderungsgeneration unter starken Assimilationsdruck setzt und diese in die Lage bringt, ihren Migrationshintergrund unverzüglich ablegen zu wollen.
Natürlich lässt sich einwenden, dass die Tradierung von Ungerechtigkeit gegenüber den Nachfahren der Einwanderungsgeneration keinen Grund für den Einsatz von Affirmative Action-Maßnahmen liefert. Die Geschichte der Migration lehrt, dass die soziale Schlechterstellung (beschränkte berufliche Chancen, Konzentration in bestimmten Berufsnischen, geringeres soziale Ansehen, negative Stigmatisierung) sehr oft als Folgen von Zuwanderung aufgetreten sind, und zwar nicht nur für die Einwanderungsgeneration, sondern auch für deren Nachfahren. Diese negativen Folgen der Zuwanderung werden aber auch meist mit der Zeit, für die 4., 5. oder für spätere Generationen getilgt. Warum dann heutzutage nicht wieder die Zeit für die Assimilierung von neuzugewanderten Gruppen unter ungerechten Bedingungen arbeiten zu lassen? Warum überhaupt handeln?
Der Handlungsbedarf ergibt sich aus dem Umstand, dass die Aufnahmegesellschaften in der nordwestlichen Quadrisphäre an Idealen der liberalen Demokratie ausgerichtet sind und die Mitgliedschaft, die Teilhabe und der Zusammenhalt in solchen Gesellschaften auf normativen Prinzipien aufgebaut ist, in deren Lichte ein Setzen auf Zeit, erkauft mit der Tradierung von Ungerechtigkeiten über Generationen hinweg, eine Verletzung fundamentaler Normen darstellt und einer Vorenthaltung fundamentaler Eigenschaften – wie etwa Autonomie und Egalität -, die die Mitglieder solcher Gesellschaften auszeichnen, gleichkäme.
Endnoten
1 Wie etwa die Monitoring-Berichte der Fundamental Rights Agency (vormalige EUMC) ausreichend belegen (http://fra.europa.eu/fra/index.php).
2 So unterscheidet Randell Hansen zwei Migrationsmuster von Drittstaatenangehörigen in der EU: die „colonial migration regimes and ‚temporary’ guest-workers policies“ (Hansen 2003: 25). Während das erste Immigrationsmuster von Drittstaatenangehörigen auf Länder wie Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Belgien zutrifft, und in diesen Ländern kompensatorisch geforderte Affirmative Action-Politiken für MigrantInnen in Verbindung mit der kolonialen Vergangenheit plausibel gemacht werden können, sind kompensatorische Begründungen von Affirmative Action für MigrantInnen in Ländern wie Deutschland, Österreich, die Schweiz, Schweden oder Dänemark, auf welche nur das „Gastarbeiter“-Immigrationsmuster zutrifft, aussichtslos.
3 Als stark werden in der Forschungsliteratur zu Affirmative Action Maßnahmen wie Quotenregelungen oder Zeitpläne (timetables) bezeichnet. Erstere werden eingeführt, damit ab einem Zeitpunkt der Anteil von Neubesetzungen von z.B. Bildungs- oder Arbeitsplätzen dem Bevölkerungsanteil der Zielgruppen solcher Maßnahmen entspricht. Bei den Zeitplänen hingegen wird ein Zeitpunkt (in z.B., 10 Jahren) oder ein Zeitabschnitt (10, 20, 30 Jahre) festgelegt, innerhalb dessen Personal- und Bevölkerungsanteile der Zielgruppen dieser Maßnahme angeglichen werden müssen. Im ersten Fall handelt es sich um eine fixe, im zweiten um eine flexiblere Quote (Sabbagh 2005). In beiden Fällen wirken die Maßnahmen wie eine gesellschaftspolitische Schocktherapie, die schmerzhaft empfunden wird, und die von Anbeginn an unpopulär und umstritten, aber dennoch ohne Alternative ist.
4 Set-aside-Maßnahmen reservieren ein bestimmtes Auftragsvolumen für Unternehmen, die benachteiligten Gruppen gehören oder benachteiligte Gruppen beschäftigen.
5 Weiterführend zum Gegensatz zwischen struktureller und sozialer Integration ist die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth über System- vs. Sozialintegration (Fraser/Honneth 2003).
6 Darüber werden in der englischsprachigen Sozialpsychologie seit Jahrzehnten heftige Kontroversen ausgetragen, die pro und contra die Bindungs- und Überbrückungseffekte von Affirmative Action auf die Beziehungen zwischen Gruppen argumentieren (siehe Überblick in Hewstone 1996).
Literatur
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Radostin Kaloianov: Affirmative Action für MigrantInnen? Am Beispiel Österreich. Braumüller Verlag, Studienreihe Konfliktforschung, Band 21. Herausgegeben von Anton Pelinka, Ilse König, Institut für Konfliktforschung, Wien, ISBN: 978-3-7003-1637-4
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Jan Niessen/Thomas Huddleston 2007: Setting up a system of benchmarking to measure the success of integration policies in Europe. Study, Directorate-General Internal Policies of the European Parliament.
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Randall Hansen 2003: Migration to Europe since 1945: Its History and its Lessons. In: Sarah Spencer (ed.): The Politics of Migration: Managing Opportunity, Conflict and Change. Managing Opportunity, Conflict and Change. Blackwell, Oxford / NY, 2003, S. 25–39
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Daniel Sabbagh 2005: Affirmative Action Policies: An International Perspective. Vortrag am Joint Session of Workshops des European Consortium for Political Research, 14–19. April 2005, Granada, Spanien
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Radostin Kaloianov: Affirmative Action für MigrantInnen? Am Beispiel Österreich. Braumüller, Wien, 2008
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Thomas Sowell 2004: Affirmative Action Around the World. An Empirical Study. Yale University Press, New Haven, 2004
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Louis P. Pojman 1997: The Moral Status of Affirmative Action. In: Francis J. Beckwith / Todd E. Jones (eds.): Affirmative Action. Social Justice or Reverse Discrimination? Prometheus Books, New York, 1997, S. 175–197
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Miles Hewstone 1996: Contact and Categorization: Social Psychological Interventions to Change Intergroup Relations. In: Stereotypes and Stereotyping (Neil C. Macrae, Charles Stangor, Miles Hewstone eds.), Guilford Press, New York, S. 323-369
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Elisabeth Strasser/August Gächter/Mariya Dzhengozova 2008: The Benefits of Positive Action. Thematic Discussion Paper. On behalf of the European Union Agency for Fundamental Rights (FRA). International Centre for Migration Policy Development (ICMPD). Vienna, March 2008
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Nancy Fraser/Axel Honneth 2003: Umverteilung oder Anerkennung. Eine politisch-philosophische Kontroverse. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2003
R. Kaloianov ist Fellow am Institut für Konfliktforschung in Wien. Er arbeitet im Bereich der angewandten Sozialphilosophie. Forschungsschwerpunkte: Integration, Diskriminierung, Diversität, Affirmative Action, Politiken der Differenz, soz. Anerkennung.