von Barbara Schramkowski
Als Sozialarbeiterin hatte ich im Rahmen einer Projektarbeit die Aufgabe, Integrationsprozesse jugendlicher EinwanderInnen zu fördern. Dabei fiel mir auf, dass mehrheitlich deutsche SozialarbeiterInnen oder LehrerInnen zusammen saßen und Maßnahmen zur Förderung der Integration konzipierten - vielfach ohne oder mit nur sehr geringer Beteiligung von Personen mit eigenen Migrationserfahrungen. Dabei wurde vor allem über die Probleme gesprochen, die Integrationsprozesse und somit letztlich die Präsenz von Eingewanderten mit sich bringen (was natürlich auch damit zusammenhängt, dass SozialarbeiterInnen meist an den Stellen eingesetzt werden, wo besondere Schwierigkeiten auftreten), während positive Beispiele kaum zur Sprache kamen.
Diese persönliche Erfahrung spiegelt sich ebenso wider in den öffentlichen Berichten und Diskussionen über Integration, die vor allem die Probleme Eingewanderter hervorheben und darum kreisen, welche Kriterien diese mehrheitlich nicht erfüllen bzw. erfüllen müssten, um als integriert zu gelten (wobei in erster Linie die Beherrschung der deutschen Sprache betont wird). Viel seltener hingegen hört oder liest man, dass sehr viele Eingewanderte schon lange perfekt Deutsch sprechen und auch sonst sehr gut in Deutschland zurecht kommen.
Außerdem kommen in den vielen Debatten zum Thema nur selten die Personen zu Wort, die sich integrieren sollen, sondern in erster Linie wird über Eingewanderte gesprochen. Wie diese selbst zum Thema stehen, wie sie Integration definieren und welche Akzente ihrer Meinung nach bei der Ausgestaltung von Integration zu setzen sind, diese Elemente kommen im Integrationsdiskurs viel zu kurz.
Vor diesem Hintergrund bin ich in meiner Doktorarbeit der Frage nachgegangen, was eigentlich Personen mit Migrationshintergrund, die schon seit vielen Jahren in Deutschland leben oder bereits hier geboren sind, über Integration denken, welche persönlichen Erfahrungen sie im Integrationsprozess gemacht haben, wie sie ihre eigene Integration in die 'deutsche1 Gesellschaft' bewerten, und welche Faktoren ihrer Meinung nach Integrationsprozesse fördern oder behindern. Meine Intention dabei war, in den bisherigen Debatten gar nicht oder nur am Rande beachtete Aspekte in den Vordergrund zu rücken und somit wichtige Impulse für die Entwicklung zukünftiger Handlungsstrategien bei der Integrationsförderung geben zu können.
Und weil, wie schon erwähnt, in gesellschaftspolitischen Diskussionen über Integration wie auch in der Forschung eher die Problemfälle fokussiert werden, habe ich mich dafür entschieden, Personen mit positiven Integrationsverläufen zu befragen. Also Personen (die wie die Mehrheit der Eingewanderten) den gängigen Kriterien entsprechend als gut integriert gelten müssten, weil sie beispielsweise perfekt Deutsch sprechen, erfolgreich eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren oder bereits abgeschlossen haben und arbeiten sowie die deutsche Staatsbürgerschaft inne oder beantragt haben.2 Dazu interviewte ich 16 junge Leute im Alter von 19 bis 26 Jahren, von denen die Hälfte türkischer Herkunft ist und bereits der zweiten Einwanderergeneration3 angehört. Die anderen acht sind (Spät-) AussiedlerInnen, die als Kinder und Jugendliche mit ihren Familien aus verschiedenen osteuropäischen Ländern nach Deutschland eingewandert sind (vgl. Schramkowski, 2007). Somit gehören die Befragten den Gruppen an, um die es besonders häufig geht, wenn über Integrationsprobleme gesprochen wird.
Alltagsrassistische Erfahrungen als alltäglich spürbare Trennlinien
Die ausführlichen Interviews, die ich mit diesen eigentlich gut integrierten jungen Erwachsenen führte, zeigten mir jedoch, dass diese sich mehrheitlich gar nicht wirklich integriert fühlen. So antwortete beispielsweise Natascha, eine 21-jährige Verwaltungsfachangestellte, die vor zehn Jahren aus Kasachstan nach Deutschland gezogen ist, auf die Frage, ob sie sich integriert fühle:
"Zu sechzig Prozent. Ich habe keine Schwierigkeiten mit der Sprache, ich habe auch keine Schwierigkeiten, zum Arzt oder zu den Behörden zu gehen. Ich fühle mich eigentlich hier in Deutschland wohl, und ich komme mit dem Leben ganz gut zurecht. Aber bei den Leuten angenommen zu sein, da fehlt es. Und das sind die anderen vierzig Prozent, wo ich merke, dass ich für sie doch etwas anderes, etwas Fremdes bin, ja, ein Mensch zweiter Klasse." 4
Ähnlich äußerte sich Cem, ein 25-jähriger Informatikstudent türkischer Herkunft:
"Ich habe dafür [für die Integration] eigentlich viel geleistet, würde ich sagen. Integriert wird man aber nur, wenn man aufgenommen wird. Wenn man nicht aufgenommen wird, kann man sich gar nicht integrieren."
Dieses 'Sich-nicht-integriert-Fühlen' begründeten die Befragten mit den immer wieder spürbaren Trennlinien zwischen Personen deutscher und nicht-deutscher Herkunft. Diese Erfahrungen bezeichne ich als 'Alltagsrassismus', da sich mit dem Begriff 'Rassismus' oft Assoziationen von gewalttätigen (rechtsradikalen) Überfällen auf ausländisch aussehende Personen verbinden. Die Mehrheit dieser als ausländisch definierten Personen hat jedoch keine derart extremen Erfahrungen gemacht. Im Vordergrund von Erfahrungsberichten stehen die kleineren, jedoch häufig vorkommenden und somit fast schon alltäglichen Ausgrenzungserfahrungen, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft oft nicht einmal als verletzend und diskriminierend wahrgenommen werden. Diese reichen von abwertenden Blicken über Berichte in den Medien, die Eingewanderte als problematisch, integrationsunwillig oder kriminell darstellen, bis zu konkreten Benachteiligungen in der Schule und auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt.
Derartige alltagsrassistischen Erfahrungen vermitteln den von mir interviewten jungen Erwachsenen immer wieder das Gefühl, nicht wirklich zur Gesellschaft dazu zu gehören. Diese Empfindung spiegelt beispielsweise die folgende Aussage von Viale, einer 24-jährigen, in Deutschland geborenen Volkswirtschaftsstudentin türkischer Herkunft, wider:
"Ich hatte nie so ein krasses Erlebnis, also dass mich jemand geschlagen hat, weil ich Ausländerin bin. Ich kann auch nicht sagen, ich werde schlecht behandelt von den Deutschen. Das sind eher so Themen, dass man einfach anders ist und dass man diese Haltung spürt. Ich möchte nicht verallgemeinern, und ich habe auch viele deutsche Freunde, aber generell ist es halt so, dass du erst mal eine Distanz spürst. Die haben halt ihre Meinung. Ich empfinde immer wieder eine Abneigung gegenüber Ausländern - nach dem Motto, wir haben genug von euch."
Das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören und einer eher negativ angesehenen Gruppe zugeordnet zu werden, wird den jungen Leuten in den verschiedenen Lebensbereichen vermittelt. Hiermit einher geht die Empfindung, im Vergleich zu den ‚Deutschen’ beispielsweise bei der Suche nach einem Arbeitsplatz über geringere Chancen zu verfügen, was zur Herausbildung einer mehr oder weniger stark ausgeprägten emotionalen Distanz zur ‚deutschen’ Gesellschaft beigetragen hat.
In diesem Zusammenhang werden verschiedene konkrete Erlebnisse berichtet: So hat Dilara, eine 25-jährige, am Bodensee aufgewachsene Bankkauffrau türkischer Herkunft "immer wieder gehört, die sind anders, die passen sich nicht an [...]. Auch werde ich oft gefragt, woher ich komme. Aber ich komme von nirgendwo, ich bin hier geboren und aufgewachsen." Derartige Kommentare zeigen ihr, dass ihre Zugehörigkeit von einem Teil der Gesellschaft, in der sie schon immer gelebt hat, wie selbstverständlich ausgeschlossen wird. Dies verletzt Dilara nicht nur, weil sich mit dem Bild von AusländerInnen eher negativ-stereotypisierende Generalisierungen verbinden, sondern auch weil sie rechtlich gesehen keine Ausländerin, sondern schon lange deutsche Staatsbürgerin ist. Für die bereits in Deutschland geborenen jungen Erwachsenen türkischer Herkunft kommt erschwerend hinzu, dass sie derartige Erfahrungen schon von Kind auf machen und dadurch bereits früh lernen mussten, was es bedeutet, als AusländerIn angesehen und behandelt zu werden:
"Man wird wirklich von der Außenwelt geprägt, dass man ein Ausländer ist. Zum Beispiel wo ich im Kindergarten war, habe ich gar nicht geblickt, dass ich eine Ausländerin bin, dass ich anders bin wie die anderen Kinder."
In den Erzählungen der interviewten jungen Leute dominieren bei der Bewerbung um Arbeitsplätze oder Ausbildungsstellen sowie in der Schule erlebte Benachteiligungen. Wiederholt wird berichtet, dass an der Schwelle Grundschule-weiterführende Schule ein Teil der SchülerInnen nicht-deutscher Herkunft wie selbstverständlich (anscheinend mehr geleitet von der ausländischen Herkunft als den Noten) auf die Haupt-, teilweise sogar auf die Sonderschule überwiesen wurde.5 Eine besonders heftige Erfahrung hat Murat gemacht, der gerade sein Studium der Volkswirtschaft beendet:
"Wir waren ja alle im selben Alter, die meisten Türken und Italiener, Jugoslawen. Und wir sind dann alle zu dieser Frau M. gekommen. Und mehr als achtzig Prozent wurde automatisch in die Sonderschule gebracht."
Die Sonderschulüberweisung von Murat sei mit folgenden Worten begründet worden: "Dann lernt der richtig Deutsch"; - obwohl er die gesamte Kindergarten- und Grundschulzeit in deutschen Bildungsinstitutionen verbracht hatte. Nur dem Protest seiner Mutter sei es zu verdanken, dass er statt auf die Sonderschule direkt auf das Gymnasium gehen konnte. Doch die Erinnerung macht Murat noch heute sehr wütend, besonders wenn er die weiteren Lebenswege seiner damaligen Freunde betrachtet, die damals tatsächlich auf die Sonderschule kamen.
Die 25-jährige Sozialarbeitsstudentin Ümit, ebenfalls in Deutschland geboren, berichtet von einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch für eine Ausbildungsstelle. Dort sei sie von der Sekretärin mit den folgenden Worten begrüßt worden, die sehr deutlich die mit ihrem Kopftuch verbundenen Vorurteile reflektieren:
"Was suchst du hier? Wir haben schon eine Putzfrau."
Und auch der Chef der Einrichtung zeigte keinerlei Interesse für ihre Qualifikationen, aufgrund derer er sie eigentlich zum Gespräch eingeladen hatte, sondern hat, wie Ümit erzählt, "mich angeguckt, und dann hat er zu mir gesagt, er kann das den Kunden nicht zumuten, eine wie mich im Büro zu haben". Dieses Ereignis war für sie "ein Schlag, ein Schlag, wo ich wirklich gesagt habe, ich bin eine Ausländerin".
Aufgrund ähnlicher Erfahrungen sind einige der jungen Erwachsenen mittlerweile überzeugt, dass Eingewanderte für akademische und berufliche Erfolge im Vergleich zu 'Deutschen' "das Doppelte" machen müssen und eben nicht über die gleichen Chancen verfügen. So sagt wiederum Murat:
"Ich empfinde mich in Deutschland nicht auf derselben Augenhöhe. Ich bin immer eins drunter. Und das merke ich auch im Alltag."
Doch ohne die Empfindung, in Deutschland, als das Land, in dem sie leben und in dem sie ihre Zukunft planen, als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder angenommen zu werden, ist es trotz einer nach außen erfolgreich wirkenden Integration nicht möglich, sich wirklich Zuhause zu fühlen.
Ümit hat versucht, mit der Beantragung der Einbürgerung einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden:
"So kann es nicht weitergehen, dass ich immer wie eine Ausländerin behandelt werde. Ich muss da was ändern. Entweder liegt es an dem Staat oder an den Leuten. Ich fange erstmal mit dem Staat an und werde eine Deutsche. Dann wähle ich meine Regierung selber, die Ausländer nicht als Ausländer, sondern als hier lebende Bürger ansieht."
Doch letztlich musste sie - ebenso wie die anderen Befragten - feststellen, dass man letztlich auch mit der deutschen Staatsbürgerschaft noch lange nicht wirklich als gleichberechtigtes Gesellschaftsmitglied angesehen wird. Somit kommt Ümit zu dem Schluss:
"Du kannst tun und lassen, was du willst, du bist eine Ausländerin, du bleibst eine Ausländerin." Und eine andere der jungen Frauen weiß als Folge ähnlicher Erfahrungen "nicht mehr, was sie [die deutsche Gesellschaft] wollen. Es fehlt nur noch, dass wir unsere Haare auch färben und blond rumlaufen, wenn es diese Übersetzung [von Integration] ist."
"Dieses Integrationswort hat für mich mit der Zeit seinen Wert verloren...".
Eine Konsequenz dieser Erfahrungen ist, dass Integration für die jungen Erwachsenen zu einem Wort geworden ist, mit dem, wie die Aussage von Ümit illustriert, in erster Linie negative Assoziationen verbunden werden:
"Dieses Integrationswort hat für mich mit der Zeit seinen Wert verloren, und es ist jetzt ein negatives Wort. [...] Und eigentlich sollte man diese Integration abschaffen, denn durch das Wort werden diese Ausgrenzungen gemacht: Du bist das, und du bist das. Denn du bist weiter eine Ausländerin, auch wenn du hier geboren bist, und du sollst dich weiter integrieren."
Der Eindruck der Befragten ist, dass sich als Folge ständiger Diskussionen über Integration bzw. vor allem über die AusländerInnen, die nicht bereits sind, sich zu integrieren, Trennlinien entlang kultureller Herkünfte verfestigen. Genauso kritisieren sie, dass über Integration fast ausschließlich im Kontext von Problemen diskutiert und den Eingewanderten zumeist die alleinige Verantwortung für ebendiese zugewiesen wird. Über Integrationserfolge sowie spezielle Kompetenzen wie Bilingualität oder profunde Kenntnisse verschiedener kultureller Umfelder wird hingegen kaum gesprochen.
Hinzu kommt, dass das eigene Anwesenheitsrecht in Deutschland als unsicher wahrgenommen wird, weil sie von einem Teil der Mehrheitsgesellschaft doch immer weiter als Ausländer angesehen werden. Diese Empfindung spiegelt eine Aussage von Dilara wider:
"Man hat das Gefühl, es ist nie Schluss. Vielleicht schmeißen sie uns irgendwann aus Deutschland raus. Dadurch dass man nicht deutsch ist, auch wenn man die deutsche Staatsbürgerschaft hat, jahrelang hier gelebt hat, die deutsche Sprache sehr gut beherrscht und hier was aufgebaut hat, hat man das Gefühl, vielleicht werden wir ja irgendwann abgeschoben. Denn das große Spektrum der Gesellschaft ist vielleicht nicht gegen Ausländer, aber eben auch nicht für Ausländer. [...] [I]mmer hört man irgendwas, immer wird man damit konfrontiert. Ausländergesetze, das hört man so oft. Dann sagt man, ja, stimmt, du bist ja hier als Ausländer. Vielleicht machen sie irgendwann ein Gesetz, ihr müsst jetzt zurück. Aber wir können ja besser Deutsch als Türkisch."
Ähnlich sorgen sich auch andere der Interviewten türkischer Herkunft vor allem als Folge der (seit den Anschlägen vom 11. September 2001) vorherrschenden, stark verallgemeinernden Negativdiskurse über Desintegrationserscheinungen und Radikalisierungstendenzen bei Muslimen, ebenfalls in diese Schublade gepackt und eines Tages abgeschoben zu werden - trotz der deutschen Staatsangehörigkeit.
Entfremdungsprozesse von der 'deutschen' Gesellschaft
Auf die Erfahrung hin, trotz aller Bemühungen von der ‚deutschen Gesellschaft' "nicht richtig aufgenommen zu werden, so wie’s sein müsste", reagiert ein Teil der jungen Erwachsenen mit einer deutlichen Distanzierung von eben dieser. Beispielsweise Cem konstatiert:
"Also ich wollte mich wirklich integrieren. Und mit der Zeit ist es mir jetzt egal. Ich bin jetzt auch stolz, dass ich Türke bin."
Er könnte sich sogar vorstellen, in die Türkei (wo er nie gelebt hat) ‚zurück’ zu kehren, in der Hoffnung, im Herkunftsland der Eltern eine emotionale Heimat zu finden und dort als zugehörig angenommen zu werden. Durchdenkt er diesen Gedanken jedoch genauer, kommt er zu dem Schluss, dass er in der Türkei dann vermutlich wiederum als ‚der Deutsche’ angesehen und vielleicht auch nicht richtig dazugehören würde. Eine ähnliche Entwicklung hat Murat vollzogen:
"Das sind solche Faktoren, die einen zum Rasen bringen. Dann schluckst du und schluckst, und eigentlich schluckst du immer, jeden Tag. Es sind kleine Schlucke, aber es wird irgendwann einmal voll [...] Ich bin ein bisschen radikaler geworden, [...] weil ich mich bei euch nicht aufgenommen fühle, wenn ihr mich immer als diese Person abstempelt."
Nicht nur seine Äußerungen zeigen, dass er, wie er selbst formuliert, ein bisschen radikaler geworden sei, sondern auch seine verstärkte Orientierung am türkischen Umfeld:
"Und jetzt bin ich halt so weit, dass ich wenigstens versuche, den Draht zu meinen Leuten nicht zu verlieren. Und ich bin jetzt im türkischen Verein, und [....] ich möchte mich jetzt engagieren für unsere Leute."
So misst er islamischen Orientierungen sowie Kontakten zu Personen des Herkunftslands (der Eltern) verstärkte Bedeutung bei und versucht, auf eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Ausgangslagen und Chancen hinzuwirken. Beispielsweise hilft er Unternehmern türkischer Herkunft bei Steuerfragen und engagiert sich in einem Verein, der Hausaufgabenhilfen für Kinder türkischer Herkunft anbietet. Und seine Zugehörigkeit sieht Murat eindeutig nicht mehr auf ‚deutscher Seite’:
"Ich habe zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, [...] aber ich fühle mich kein bisschen deutsch."
Doch eigentlich bedauern die beiden jungen Männer diese Entwicklung: Die infolge negativer Erfahrungen gewachsene Distanz zu der Gesellschaft, in der sie leben, ist "letztendlich der falsche Weg, wenn man zusammen sein will. Also letztendlich habe ich mich", wie Murat äußert, "dann wieder entfremdet."
Integration als Unerreichbarkeit infolge alltagsrassistischer Erfahrungen
Diese Entfremdung von der ‚deutschen Gesellschaft' ist zwar nur bei zweien der sechzehn Befragten so deutlich zu beobachten. Die meisten identifizieren sich zumindest in eingeschränkter Weise mit der ‚deutschen Gesellschaft' und definieren sich beispielsweise als "Halbdeutsche" oder ordnen sich keiner nationalen Zugehörigkeit zu, sondern fühlen sich "zwischendrin, als Mensch". Jedoch spiegeln ihre Aussagen fast uneingeschränkt wider, dass es alltägliche rassistische Erfahrungen sind, aufgrund derer sie sich in dem Land, in dem sie seit vielen Jahren oder schon immer leben, nicht richtig Zuhause fühlen und dass diese Erfahrung schmerzhaft ist.6
Hier wird deutlich, dass Integration, solange Negativzuschreibungen und Ausgrenzungen die Möglichkeit einer gleichberechtigten Positionierung in der Gesellschaft verhindern, für Eingewanderte ein unerreichbarer Zustand ist. Und zwar unabhängig davon, ob sie aufgrund der deutschen Staatsbürgerschaft rechtlich zur Gesellschaft gehören, perfekt Deutsch sprechen, akademische Erfolge erlangt haben, sich politisch engagieren, sich sowohl zu ihrer Herkunft als auch zur ‚deutschen’ Gesellschaft bekennen und demzufolge im Sinne jeder wissenschaftlichen Definition eigentlich perfekt integriert sind.
Dass das Thema Alltagsrassismus so zentral im Vordergrund der Interviews mit diesen eigentlich gut integrierten jungen Leuten steht, ist für mich die zentrale (und ernüchternde) Erkenntnis der Gespräche. Zwar hätte ich dieses Phänomen vor der Befragung als einen integrationserschwerenden Faktor benannt, doch hätte ich ihm sicher keine so zentrale Relevanz beigemessen, wie ich es vor dem Hintergrund der Erfahrungsberichte dieser jungen Leute mittlerweile tue.
Inzwischen habe ich ihre Erfahrungen im Rahmen verschiedenster wissenschaftlicher Tagungen und Fortbildungen für MultiplikatorInnen der Sozialen Arbeit präsentiert. Vor allem von Personen mit eigenen Migrationsgeschichten, welche die Berichte der jungen Erwachsenen immer gleich durch verschiedenste eigene Erfahrungen ergänzen konnten, habe ich stets große Zustimmung erhalten.
Dass es wichtig ist, das Thema Alltagsrassismus verstärkt in den Mittelpunkt der Diskussionen um Integration zu stellen, wird auch durch verschiedene wissenschaftliche Studien untermauert: Diese bestätigen nicht nur, dass alltägliche rassistische Erfahrungen ein zentraler Bestandteil des Lebens vieler Eingewanderter sind, sondern heben ebenso hervor, dass ablehnende Einstellungsmuster gegenüber Personen nicht-deutscher Herkunft in den vergangenen Jahren tendenziell zugenommen haben.7
Diese Phänomene verhindern, dass sich der Wunsch der befragten jungen Erwachsenen erfüllt, nämlich, wie stellvertretend Dilara äußert, mit ihrer anderen Herkunft als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder angenommen zu werden:
"Ich möchte einfach dazu gehören, […] einfach akzeptiert werden. So wie ich bin."
Insofern heben die Befragten immer wieder hervor, dass die ‚deutsche Gesellschaft', die vielfach einseitig die defizitäre Integration von Eingewanderten hervorhebt oder davon spricht, dass diese sich integrieren sollen, indem sie die deutsche Sprache erlernen, zentrale Facetten unberücksichtigt lässt. Ihrer Meinung nach muss genauso über die ‚andere Seite’ der Integrationsprobleme gesprochen werden, und zwar darüber, dass ausgrenzende Gesellschaftsstrukturen, Denk- und Handlungsmuster der aufnehmenden Gesellschaft sowie ihr Mitwirken an der Benachteiligung und Negativ-Stereotypisierung von Eingewanderten Eingliederungsprozesse erschweren. Es darf nicht allein um Verantwortungen und Versäumnisse der Eingewanderten gehen, sondern genauso muss über Verantwortungen und Versäumnisse der Mehrheitsgesellschaft gesprochen werden, ohne dabei jedoch ins Gegenteil der Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen und allein ‚die rassistischen Deutschen’ für bestehende Probleme der Integration verantwortlich zu machen und alle Eingewanderten als Opfer hinzustellen.
Dezember 2008
Literatur
- Gualda, Estrella (2007): "Researching "Second Generation" in a Transitional, European, and Agricultural Context of Reception of Immigrants”. CMD Working Paper Nº 07-01 (Working Paper Series Center for Migration and Development (CMD), Princeton University, hier als PDF-Datei (36 Seiten, 355 KB) (Zugriff 16.08.2008)
- Keskin, Hakki (2005): Deutschland als neue Heimat. Eine Bilanz der Integrationspolitik. Wiesbaden: VS-Verlag.
- Leiprecht, Rudolf (2005): Zum Umgang mit Rassismen in Schule und Unterricht: Begriffe und Ansatzpunkte. In: Leiprecht, Rudolf und Kerber, Anne (Hg.). Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach im Taunus: Wochenschau-Verlag.
- Schramkowski, Barbara (2007): Integration unter Vorbehalt. Perspektiven junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. Frankfurt am Main/ London: IKO-Verlag.
-
Strassburger, Gaby (2001): Evaluation von Integrationsprozessen in Frankfurt am Main. Studie zur Erforschung des Standes der Integration von Zuwanderern und Deutschen in Frankfurt am Main in drei ausgewählten Stadtteilen. Herausgegeben vom Magistrat der Stadt Frankfurt am Main. Im Auftrag des Amts für Multikulturelle Angelegenheiten durch das ‚europäische forum für migrationsstudien’ an der Universität Bamberg.
Endnoten
1) Begriffe wie ‚die deutsche Gesellschaft’ oder ‚die Deutschen’ setze ich in Anführungsstriche, da die von mir interviewten Personen rechtlich gesehen mehrheitlich genauso ‚deutsch’ sind. Doch stellen sie immer wieder fest, dass viele Deutsche sie weiter als Ausländer sehen, was vor allem deshalb als verletzend empfunden wird, weil sich mit dieser Ausländerzuschreibung in erste Linie negative Vorurteile verbinden.
2) Der Integrationsstand von Eingewanderten wird u.a. an folgenden Kriterien bemessen (vgl. Schramkowski, 2007: 312ff.; Strassburger, 2001: 20ff.):
- Beherrschung der Landessprache, Anpassung an kulturelle Muster der aufnehmenden Gesellschaft (funktionale Integration);
- Eingliederung in den Arbeitsmarkt sowie Bildungs- und Qualifikationssysteme; Innehaben der Staatsbürgerschaft des Ziellands der Migration (strukturelle Integration);
- Eingliederung in private Sphären der aufnehmenden Gesellschaft über Freundschaftsbeziehungen, Partnerschaften und/ oder Gruppen- und Vereinsmitgliedschaften (soziale Integration);
- Zugehörigkeitsgefühle zur aufnehmenden Gesellschaft (identifikatorische Integration).
3) Zur zweiten Einwanderergeneration zählen Personen, die bereits in dem Land, in das die Eltern (oder auch nur ein Elternteil) einwanderten, geboren wurden (vgl. Gualda, 2007).
4) Alle kursiv gesetzten Zitate sind direkte Aussagen der jungen Erwachsenen, die den wörtlich transkribierten Interviews entnommen, aus Gründen der Leserlichkeit jedoch der Schriftsprache angepasst wurden.
5) Dieses Phänomen wird von mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt. Hier ist u.a. auf die Analysen von Georg Auernheimer (Schieflagen im Bildungssystem: Die Benachteiligung der Migrantenkinder. Opladen (2003): Leske+Budrich) und Mechthild Gomolla/ Frank-Olaf Radtke (Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen (2002): Leske+Budrich) hinzuweisen.
6) Bei den drei Befragten, die angeben, dass sie sich integriert fühlen, fällt auf, dass bei Zweien der Migrationshintergrund äußerlich nicht sichtbar ist und sie insofern zumindest auf den ersten Blick nicht als ‚fremd’ identifiziert und somit als Ausländer definiert werden können. Ihre positiven Integrationsempfindungen begründen sie v.a. damit, dass sie sich mit ihrer anderen Herkunft als gleichberechtigt aufgenommen fühlen und selten Ausgrenzungserfahrungen machen. Dennoch sind auch sie sich darüber im Klaren, dass alltägliche Stereotypisierungen und Ausgrenzungen im Leben der meisten ihrer ‚Landsleute’ eine zentrale Rolle spielen und Integrationsprozesse erschweren, wenn nicht teilweise sogar verhindern.
7) In diesem Zusammenhang möchte ich exemplarisch auf die Untersuchungen von Mark Terkessidis (Die Banalität des Rassismus. Migranten der zweiten Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld (2004): transcript-Verlag) und Wilhelm Heitmeyer (Deutsche Zustände. Frankfurt a.M. (2005): Suhrkamp-Verlag) hinweisen.
Dezember 2008
Studium der Sozialpädagogik, Leitung des Bundesmodellprojekts “Interkulturelles Netzwerk der Jugendsozialarbeit“, Promotion am „Institut für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen“, Wissenschaftlerin an der spanischen Universidad de Huelva.