Keine Angst vor Ethik

von Hilal Sezgin

Pro Reli ist vielmehr kontra Ethik – die Kinder, die in den Religionsunterricht geschickt werden, sollen nicht auch Ethik besuchen müssen. „Zwangsethik“ nennt Pro Reli das momentane Pflichtfach. Was insofern passt, als es auch Zwangssport, Zwangsdeutsch und Zwangsmathe gibt. Ja, in Deutschland herrscht allgemeine Schulpflicht; unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern sollen die Kinder lernen, was sie später zum Leben brauchen. Wieso begehrt man jetzt dagegen auf?

In der Debatte, die längst zum Grundsatzstreit hochgekocht ist, werden immer abstrusere Ansichten zum Wesen von Ethik, Religion und Schule laut. Mit ermüdender Häufigkeit wird das WerteArgument ins Spiel gebracht: Angeblich können Kinder ohne religiöse Unterweisung keine moralischen Werte verinnerlichen; Sie brauchen für ihre moralische Entwicklung einen religiösen Bezugspunkt. Aber dem ist keineswegs so: Kinder werden mit Religion erzogen und werden scheußliche Mitmenschen; Kinder werden areligiös erzogen und werden gute Menschen (sogar in Berlin!). Und beide Entwicklungen können auch mit umgekehrtem Ergebnis verlaufen.

Ob es einem Kind gelingt, Einfühlungsvermögen, Pflichtbewusstsein und soziale Kompetenzen auszubilden, die für moralisches Handeln unerlässlich sind, hängt nicht davon ab, ob Eltern und Lehrer mit der Notwendigkeit zum Guten an sich argumentieren oder ob sie als letzten Bezugspunkt Gott nennen, der das Gute von den Kindern will. Möglicherweise ist das überhaupt keine Frage von Argumenten, sondern von vorgelebter Haltung und gelingender Sozialität. Der erste Bezug eines Kindes zur Religion ist nicht diskursiver – weder religiöser noch säkularer – sondern psychologischer Natur.

Wenn ein Kind aber zu fragen beginnt, warum es so oder anders handeln soll, dann ist nicht einzusehen, dass säkulare Argumente religiösen unterlegen sein sollten. Warum eigentlich liegt die Beweislast bei den Säkularen? Warum müssen die Religiösen nicht beweisen, dass ihre religiös begründete Ethik nach wie vor taugt? Traditionell enthalten religiöse Ethiken mehr Essentialismus (der Mensch ist dazu bestimmt, dies oder jenes zu tun) und mehr Sittlichkeit (Verbote vorehelicher und gleichgeschlechtlicher Sexualität), als der moderne Mensch zu akzeptieren bereit ist. Nebenbei bemerkt: Es ist ziemlich unhöflich, den Eindruck zu vermitteln, agnostische Bürger verfügten nicht über genügend jener „Werte“, die man zu einem Leben in Anstand braucht.

Interessant ist die Frage, wie sich religiöse und säkulare Argumente zueinander verhalten – und zwar für gläubige moderne Menschen. Der Gläubige geht davon aus, dass ein bestimmtes Verhalten gottgefällig ist, dass Gott von uns möchte, wir sollten aufrichtig, hilfsbereit, bescheiden etc. sein. Trotzdem wird er in der Öffentlichkeit nicht so argumentieren. Wenn es um Hartz IV oder das Mindesteinkommen geht, sagen wir nicht, der Talmud, Paulus oder der Koran verlangt das, weil wir gut zu den Armen sein sollen. Man sagt vielmehr, dass es eine Frage der Gerechtigkeit ist.

In der öffentlichen Sphäre moderner Demokratien sind religiöse Argumente zugelassen, aber sie besitzen keine universale Gültigkeit. Sie sind wie Münzen anderer Länder, die man nicht in Euro umgetauscht hat, sie taugen nicht für den allgemeinen Verkehr. Das religiöse Argument des einen kann der Angehörige der anderen (oder keiner) Religion nur als persönliche Befindlichkeit zur Kenntnis nehmen und akzeptieren: „Aha, für dich ist Schweinefleisch also verboten, aus Rücksicht auf dich werde ich ohne Schwein kochen.“ Oder: „Für dich ist am Karfeitag Gottes Sohn gekreuzigt worden, also werde ich an dem Tag nicht mit viel Getöse den Rasen mähen.“

Überzeugend ist ein religiöses Argument für andere erst dann, wenn es säkulare Form annimmt und sich auf etwas bezieht, das nicht auf ein Gottesverständnis oder eine Heilige Schrift gegründet ist.

Das heißt nicht, dass der Gläubige heuchelt, wenn er seine Moral in säkulare Worte gießt. Die religiöse Moral verhält sich zur säkularen etwa wie die Schöpfungsgeschichte zur Biologie. Die meisten Juden, Christen und Muslime sehen diese Welt als Schöpfung an und als Ergebnis der Evolution, wie sie Darwin beschrieb. Und den meisten bereitet es keine Mühe, beide Sichtweisen nebeneinander stehen zu lassen, weil sie verschiedenen Diskursen, verschiedenen symbolischen Welten angehören: hier der Glaube, dort die Naturwissenschaft. Wieso soll es nicht möglich sein, dieselbe tolerante, doppelte Perspektive auf die Moral einzunehmen? Zumal sich religiöse und säkulare Moral, was ihre Inhalte und Zwecke angeht, deutlich näher stehen als Genesis und Evolution.

Ein anderer häufiger Einwand der ProReli-Vertreter gegen das Pflichtfach Ethik ist dessen angebliche Neutralität. „Ich habe etwas dagegen, dass sie (die Kinder) gezwungen werden, sich zusammen in einer bestimmten Form mit der Frage nach der Ethik und auch den Religionen zu befassen. Und zwar aus dem Grund heraus, dass der Lehrer seinerseits ja auch nicht bekenntnisfrei ist“, äußerte Jesuitenpater Klaus Mertes im Tagesspiegel-Interview (15. April) . Um auf Walter Mompers Einwand, dies gelte für alle Schulfächer, aber gut ausgebildete Lehrer könnten Neutralität wenigstens anstreben, zu erwidern: „Das Fach Ethik sieht erhebliche religionskundliche Anteile vor. Man hat die Vorstellung, dass von einem neutralen Lehrer ein Diskurs zwischen den Schülern gemanagt wird. Ich finde, Neutralität ist schon wieder eine ganz bestimmte Form des Bekenntnisses zum Fach Religion.“

Wem bereits solche Neutralität zu viel Staat ist, der müsste gegen die allgemeine Schulpflicht streiten; Ethik oder Religion sind ja nur Peanuts. Vom Darwinismus mal abgesehen, lesen die Kinder im Deutschunterricht auch Werke beinharter Atheisten. Im Physikunterricht werden seit Jahrzehnten bedenkenlos die Ideen Galileo Galileis vermittelt, dabei wurde der erst 1992 von Papst Johannes Paul II. rehabilitiert.

Die Weltanschauung, die die Pro-ReliVertreter fürchten, ist anscheinend ein agnostischer, quasi ethnologischer Blick auf Religion. Manche Eltern möchten nicht, dass ihre Kinder von außen auf ihre Religion draufzuschauen lernen; der eigene Glaube soll nicht mit all den anderen in einer Reihe stehen. Aus dieser Perspektive, fürchten die Eltern vielleicht, muss jede Religion beliebig wirken, wie Aberglaube, wie etwas, das Völkerkundler einst in fremden Ländern beobachteten und dem staunenden Publikum zu Hause berichteten. „Und in der Südsee, da gibt es Inseln, da sind bestimmte Bäume tabu ...“

Könnte der Blick von außen also den kindlichen Glauben und die gesamte religiöse Erziehung gefährden? Tatsächlich gibt es grundsätzliche Probleme mit dem Religionsunterricht, der ja eine Art Fremdkörper im Schulsystem ist. Er wird vom Staat gebilligt, weil das Grundgesetz die Notwendigkeit von Religionsausübung für viele seiner Bürger anerkennt. Lehren jedoch lässt sich Religion nicht – zumindest nicht so wie Englisch oder Mathematik. Im Fach Religion wird der Lehrer immer von innen heraus bestimmten Glaubensüberzeugungen eine Vernünftigkeit zubilligen, für die es von außen keine rein rationalen Argumente gibt.

Dass dieses doppelte Antlitz der Religion – aus der Innen- und der Außenperspektive – an den Schulen gespiegelt wird, ist nicht bedenklich, sondern wünschenswert. Öffentliche Schulen schulden den Schülern die Möglichkeit des Blicks von außen, gerade denen aus sehr religiösen Elternhäusern. Schule ist nicht nur dafür da, den Kindern zu geben, was die Eltern gutheißen. Religionsfreiheit bedeutet, sich zwischen verschiedenen Religionen – oder auch gegen sie alle – entscheiden zu dürfen. Gute Pädagogen zeigen, dass verschiedene Erwachsene verschiedene, gleichermaßen respektable Wege wählen. Damit auch das Kind die Möglichkeit hat, seinen eigenen Weg zu gehen.

 

(Der Artikel ist erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 20.04.2009)

   

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Hilal Sezgin, geboren 1970, hat Philosophie studiert und danach mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau gearbeitet. Jetzt lebt sie als Buchautorin und freie Journalistin u.a. für DIE ZEIT und die taz in der Lüneburger Heide.