von Garip Bali
Dieser Beitrag basiert auf der langjährigen Arbeit mit Jugendlichen mit Migratrionshintergrund in den Berufsvorbereitenden Maßnahmen des Türkischen Bundes Berlin Brandenburg. In diesen Maßnahmen habe ich – gegenwärtig in der Funktion als Projektkoordinator – sehr lehrreiche Erfahrungen mit den Jugendlichen, sowohl im Rahmen der fachlichen Qualifizierung als auch in der intensiven sozial-pädagogischen Betreuung, erworben.
Jugend und Gesellschaft
Hört sich zwar klassisch an, aber eines der aufregendsten und intensivsten Lebensabschnitte des Menschen ist eben die Jugendzeit, in der die Weichen für einen vielleicht nicht mehr umkehrbaren Übergang zu weiteren Lebensabschnitten gestellt werden. Rückblickend erkennt jeder Mensch analytisch, welche Umstände und individuelle Fähigkeiten bei einem Selbst zu jener Zeit zu welchen Übergängen – gewollt oder ungewollt – geführt haben. Theoretisch sieht sich die Gesellschaft in der Verantwortung, die Jugendlichen nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Mit Hilfe von entsprechenden Strukturen und ExpertInnen sollen die ProbandInnen im Alter von 16 bis 25 Jahren (so das Alter der TeilnehmerInnen der Maßnahmen), die Möglichkeit nutzen können, den für sie geeignetesten Weg anzubahnen.
Die eigenen Fähigkeiten, Neigungen und Stärken sind selten ausschlaggebend für den letztendlich vollzogenen Übergang ins Erwachsenenleben. Viel früher bestimmen die sozialen Bedingungen jedes Individuums den Horizont der Entwicklungsmöglichkeiten und späterer Chancen. Nicht „maximale Chancen für jeden“ sondern „maximale Gewinne“ für die UnternehmerInnen, die das wirtschaftliche Leben vorbestimmen, ist die Losung in der heutigen kapitalistisch geprägten Gesellschaft.
Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftkrise verdeutlicht das Paradoxe an dieser geldfixierten Logik, die fast alle intermenschlichen Verhältnisse durchdringt und soziale Aussschlussmechanismen produziert. In einer durch Ellenbogenmentalität geprägten Gesellschaft haben nicht mit Privilegien ausgestatte Menschen relativ geringe Chancen, zu ihrem Recht zu kommen. Solange diese Ausschluss und Verdrängung verursachenden gesellschaftlichen Verhältnisse die Lebensumstände der meisten Menschen bestimmen, werden auch staatlich verordnete Maßnahmen zur Förderung der Betroffenen kaum Grundlegendes bewirken.
Dieser, von mir beschriebene Rahmen, hört sich zwar sehr pessimistisch an, aber auch eine optimistische Haltung, zu der ich eher tendiere, bedarf der Erkennung dieser Grundlagen, um gerade in der Jugendarbeit statt naiv und blauäugig Enttäuschungen zu produzieren, realistische Chancen für die Jugendlichen zu erkämpfen.
Jugendliche mit Migrationshintergrund
Die Jugendlichen, mögen sie auch ahnunglos erscheinen, spüren sehr wohl, welche Mentalitäten in der Erwachsenenwelt eine entscheidende Rolle spielen. Nicht von ungefähr sind die gängigen Begriffe wie „Du Opfer“, „du Knecht“ oder „zurückgeblieben“ im Umgang der Jugendlichen – nicht nur – untereinander, Ausdruck der herrschenden sozialen Verhältnisse in der Wahrnehmung der Jugendlichen. Sie wissen sehr wohl, ohne die Gründe genauer wiedergeben zu können und ohne unbedingt zu richtigen Schlussfolgerungen zu kommen, wo sie sich in der gesellschaftlichen Hierarchieleiter der Auschlussmechanismen befinden und wie es um ihre Zukunftschancen bestellt ist.
Wenn man Jugendliche aufgrund eines Fehlverhaltens rügt, reagieren sie, vor allem in der Gruppe, fast immer beleidigt mit der Aussage „Warum immer ich“, als Ausdruck eines Schutzreflexes, nicht ausgeschlossen werden zu wollen. Selbst wenn bei den meisten noch kein Schuld- und Verantwortungsbewusstsein ausgeprägt ist, muss man schon sehr beachten, wie empfindlich sie sind, weil sie gerade als Jugendliche sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft wenig Beachtung genießen.
Eine bespielhafte Gruppe von Jugendlichen, die zu den Benachteiligsten
in der Gesellschaft gehören und von jeher Gegenstand von unsäglichen Diskussionen waren, sind Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Politik und die Medien stellen sie vehement als Gefahr dar, indem sie diese Jugendliche unentwegt mit Gewalt, Kriminaltät und Drogen in Zusammenhang bringen und als bildungsfern darstellen. |
Beipielhaft ist die Berichterstattung über die vor einigen Jahren als „Terrorschule“ in die Schlagzeilen geratene Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Fehlende Deutschkenntnisse wurden als Auslöser für Gewaltbereitschaft dargestellt. Als ob die Sprache eine bestimmende Rolle über die guten oder schlechten Manieren eines Menschen spielen würde, wird in einigen Schulen „Türkisch“ oder „Arabisch“ selbst in Schulpausen verboten, so wie es schon seit einigen Jahren Praxis in einigen Weddinger Schulen ist. Die CDU will sogar „Deutsch“ als die einzige Sprache der Bundesrepublik im Grundgesetz verankern, als ob die deutsche Sprache durch „Integrationsunwillige“ der „Parallelgeschaften“ gefährdet sei.
Die Angst vor „Überfremdung“, schon zu Zeiten der ersten und zweiten Generation, scheint selbst nach der offiziellen Einsicht der Bundesregierung Ende der 1990er Jahre, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, nicht überwunden zu sein. Daher darf es einen nicht verwundern, dass „Jeder siebte deutsche Jugendliche sehr ausländerfeindlich“ ist – so das Ergebnis einer aktuellen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen. Tagesberichte über rassistisch motivierte Gewalttaten finden in den Medien wenig Beachtung, während Berichte über die „Brutalität“ ausländischer Kinder oder Jugendlicher auf der Titelseite jedem ins Gesicht schlagen.
Nach diesem Muster fördern Zeitungen wie die B.Z. Hassgefühle gegen MigrantInnen, so wie es in der Ausgabe vom 30.März 2009 wieder der Fall war: Auf dem Titelbild wird der 7-Jährige Alberto (der Name sei geänder) als brutaler Räuber präsentiert. Die der Schlagzeile „attakiert Joggerin“ folgenden Angaben wie „seine Mutter Swetlana (sechs Kinder, fünfter Monat schwanger)“ oder „Er isst Spaghetti“, suggerieren, dass es sich hier um einen Italiener handelt, selbst wenn es nicht der Fall sein sollte. In der gleichen Ausgabe der B.Z. ist die Meldung, dass vier Jugendliche einen 16-Jährigen aus „ausländerfeindlicher“ Motivation heraus krankenhausreif geschlagen haben, nur einen Dreizeiler wert.
Wenn sich die Jugendlichen durch solche öffentliche Wahrnehmung - die von den migrantischen Jugendlichen meist gelesene Zeitung ist übrigens paradoxer Weise die B.Z. –, die sie täglich spüren, in dieser Gesellschaft nicht aufgehoben fühlen, kann vergeblich von ihnen erwartet werden, dass sie die „Normen“ der Gesellschaft anerkennen.
Identität und Identifikation
Wer seine Sozialisation in diesem Land durchmacht, nimmt selbstverständlich auch vieles von der Mehrheitsgesellschaft – nicht nur die deutsche Sprache – auf; um so mehr je weniger sie oktroyiert werden. Nicht die versäumte frühzeitige Erwerbung der deutschen Sprache, sondern die fehlende Identifikation mit der deutschen Gesellschaft und dem Land, in dem sie fast alle geboren sind, führt zu pessimistischen Einstellungen zur Mehrheitsgesellschaft und damit zusammenhängend ihren Bildungsdungschancen gegenüber.
Kinder lernen Sprachen sehr schnell – auch die Deutsche; obwohl Deutsch zu den relativ schwer zu erlernenden Sprachen gehört, im Vergleich zu Türkisch beispielsweise. Die meisten Jugendlichen beherrschen Deutsch jedoch besser als ihre Muttersprache. Im Mathematikunterricht habe ich die Erfahrung gemacht, dass nur sehr wenige der arabischsprachigen Jugendlichen die Ziffern auf Arabisch schreiben können. Und in Gespächen mit türkeistämmigen Jugendlichen auf Türkisch spüre ich bei den meisten die versteckte Scham, dass sie ihre eigene Muttersprache nicht gut beherrschen.
Dies, obwohl ein nicht geringerer Teil von ihnen nationalistische Anschauungen ohne argumentative Basis vertritt, was sie jedoch eher naiv als gefährlich erscheinen lässt. Hierfür kann ich nur insoweit „Verständnis“ aufbringen, als es in Reaktion auf die rassistische Diskriminierung hierzulande entsteht, was nichtsdestotrotz eine konsequente Bekämpfung jeder Art von Nationalismus beinhaltet.
Diskrepanz der Bildungschancen
Selbst wenn die Mehrheit der Jugendlichen mit Migrationshintergrund hier geboren ist, die deutsche Sprache relativ gut beherrscht und ungefähr die Hälfte von ihnen den deutschen Pass besitzt, haben viele von ihnen ernsthafte Probleme damit, sich mit dieser Gesellschaft und
ihren Normen zu identifizieren. Es ist offensichtlich, dass dieses Dilemma auf die (allgemeinegesellschaftlich) Verweigerung der ihnen selbstverständlich gebührenden Anerkennung zurückgeht. In fast allen Erziehungsphasen – von der Kita bis zur Uni – vermissen |
sie Bezugspersonen mit ähnlich kulturellem Hintergrund.Wieviele der mit migrantischen Kindern oder Jugendlichen konfrontierten Vorbildspersonen (wie Lehrer/Sozialpädagogen) kennen eine ihrer Sprachen?
Die Nichtanerkennung der Jugendlichen durch die erwachsenen Bezugspersonen und ihre Nichtanerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft, als mit ihren deutschen Altersgenossen ebenso Vollwertige, führen unvermeidlich zu Beinträchtigungen, sowohl in der schulischen Leistung als auch in ihrer Haltung intermenschlicher Umgangsformen. Die Vernachlässigung durch Familie, vor allem im Bezug auf eine erfolgreiche Bildung oder die Erziehung mit autoritären Methoden, tun ihr Übriges. Im Geflecht dieser ungünstigen Voraussetzungen, die vor allem für die TeilnehmerInnen unserer Maßnahme gelten, versuchen die Jugendlichen ihre eigene Identität zu entwickeln. Eine Auseinandersetzung mit einigen fast unwidersprochen übernommen Anschauungen – auch als eine Reaktion auf die Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft – ist geduldig in einem langen Prozess zu führen.
Darüber hinaus haben folgende Faktoren in unterschiedlicher Intensität Einfluss auf die Zukunftsperspektiven der benannten Jugendlichen:
- Soziale Lebensumstände
- Einreise- und Aufenthaltsprobleme ihrer Eltern oder ihrer selbst, wie beispielsweise die Erteilung der sogenannten „Fiktionsbescheinigung“, die den Aufenthalt für die nächsten drei Monate regelt. Diese ist meist mit einer Auflage verbunden, die die Jugendlichen auffordert, eine Arbeitsstelle zu finden, da sonst der Aufenthalt nicht weiter verlängert wird, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen sind.
- Fehlende Berufsausbildung der Eltern
- Großes Risiko der Arbeitslosigkeit und nachrangige Chancen auf eine Arbeitsstelle oder Ausbildung durch Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt (Wenn eine Firma aufgrund von Rationalisierungen oder Krise Personal entlässt, sind MigrantInnen die ersten, die es trifft.
- Verantwortungen und Pflichten innerhalb der Familie (z.B. Betreung jüngerer Geschwister)
- Fehlendes Vertrauensverhältnis zu Einrichtungen der Stadt, Wirtschaftsunternehmen und öffentlichen Ämtern.
Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die immer wieder präsentierten Statisken darlegen, dass die Bildungsabschlüsse der MigrantInnenkinder auffallend schlechter ausfallen als die deutscher Jugendlicher. Ich halte die ständige Präsentation und Diskussion dieser Statisken für unkonstruktiv, solange die Ausräumung der Ursachen dieser erschütternden Ergebnisse nicht konsequent betrieben wird. Halbherzige Versuche und die regelmäßige Widerspiegelung dieser Daten vermitteln bewusst oder unbewusst das Bild von den „unverbesserlichen“ Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Ich weiß von meiner langjährigen Arbeit mit Jugendlichen, wie frustrierend diese Daten auf sie wirken. Trotz allem arbeitet die Mehrheit der Jugendlichen mit Migrationshintergrund an ihrer Zukunft, selbst wenn sie zeitweise verzweifelt erscheinen. Es ist selbstverständlich, dass sie auf eine tatkräftige und intensive Unterstützung und Orientierung angewiesen sind.
Selbstverständlichkeiten
Abschluss, Ausbildung, Karriere, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Luxus, Liebe, Familie und Ansehen und die dafür erforderlichen Leistungen sind auch für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund Handlungs- und Orientierungsgrößen, denen man am liebsten mit möglichst wenig Aufwand so nah wie möglich kommen will.
Selbst wenn sie noch viel nachzuholen haben, vor allem was die intersexuellen Beziehungen angeht, weil sie diese nicht angemessen erlebt haben, haben sie den Übergang zwischen Kindsein und Erwachsensein zu meistern. Mit der magischen Zahl Achtzehn ist die Reife nicht erreicht, sein Leben so zu gestalten, wie man sich das vorstellt. Ich beobachte mit Erstaunen, wie meine meist traditionell und religiös eingestellten Jugendlichen (etwas weniger als die Häfte der Mädchen mit Kopftuch) fast keinen Moment auslassen, um auch körperliche Annäherungen zum anderen Geschlecht – teilweise relativ gelassen, aber streckenweise eher krampfhaft – zu wagen und dies sogar immer in abwechselnder Geschlechter-Konstellation.
Auch für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind attraktive Outfits und körperliche Pflege – nicht nur um zu imponieren –, Leistungen im sportlichem Bereich – leider fast nur im Fußball oder Kampfsport –, versierter Umgang mit modernen kommunikationsgeräten, Begeisterung für Musik, und und und…, Selbstverständlichkeiten, im Gegensatz zu dem in der öffentlichen Wahrnehmung geltenden Bild von hinterweltlerischen Gewalttätern, Abzockern und Ungebildeten.
Plädoyer
Unter Menschen mit Verstand, Vernunft und Durschnittsintelligenz bedarf es keiner Erklärung, dass Menschen mit Migrationshintergrund die gleichen Fähigkeiten zu guten wie zu bösen Handlungen und Leistungen haben. Aber die hegemonialen Meinungsmacher –vordergründig in der Politik und in Medien – vermitteln unermütlich das Bild von MigrantInnen im Zusammenhang mit Kriminalität, Gewalt, Drogen, Bildungsdefiziten, unzivilisierten Einstellungen, Ghettosierung, Schmarotzertum usw. Diese Art der selbstprophezeienden Diskurse führen bei den Betroffenen nicht selten zu einer sich selbt bezichtigenden Wiedergabe, teils als resigniertes Aufgeben, größtenteils aber als agressive Reaktionen.
Obwohl ich davon nichts halte – es gar als erniedrigend empfinde –, anhand von Vorbildern suggestiv anerkennen zu lassen, dass auch wir tüchtige Menschen sein können, hat mir persönlich die Erfahrung, mit vielen verschiedenen FunktionsträgerInnen mit Migrationshintergrund (wie JournalistInnen, LogopädInnen, JugendtherapeutInnen, SozialpädagogInnen, ErzieherInnen, ProjektmitarbeiterInnen, StiftungssmitarbeiterInnen usw.) im Interesse der Jugendlichen zusammenarbeiten zu können, gezeigt, dass es doch ein nonkonformes Potential für Hoffnung erweckende Veränderungsprozesse innerhalb der gesellschaftlichen Konstellation gibt.
Eine ernsthafte Analyse der realen Benachteiligungen und Diskrimierungen, worunter die MigrantInnen sozial, politisch und wirtschaftlich leiden, und eine konsequente Bestrebung zur Überwindung dieser, war nie das Anliegen der Bundesregierung. Die berüchtigten Integrationsgipfel der letzten Jahre mit ihren Schönwetterreden, unterstrichen und verorteten wiederholt die Verantwortung des Übels bei den MigrantInnen selbt – unter der leider alibihaften Beteiligung der MigrantInnenorganisationen.
Während auf den Veranstaltungen und mit Hilfe der daraus entwickelten Maßnahmenkataloge suggeriert wird, die Bundesregierung tue etwas Gutes für die undankbaren MigrantInnen, werden parallel dazu perfider Weise gesetzliche Verschäfungen bezüglich Einreise, Aufenhalt, Einbürgerung etc. fortgesetzt. Dass die politische Partizipation – vor allem in Form des Wahlrechts – einer Gruppe von über 7 Millionen Menschen in einem sich mit seiner bespielhaften Demokratie rühmenden Land auch im Superwahljahr nach wie vor verwehrt wird, wird wieder kaum ein Thema der Zivilisationsdiskurse sein.
Trotz aller Widrigkeiten wird sich der auf Menschenverstand und Realität basierende Drang nach einem gleichberechtigten und geschwisterlichen Zusammenleben für Jung und Alt durchsetzen. Es gilt ihn zu beschleunigen!
Dipl. Ing. Garip Bali, Studium der Elekrotechnik an der TU Berlin. Er ist Koordinator, Dozent und Sozialberater der Projekte MOVE und HOFFNUNG des TBB. Aktivist der Allmende e.V./Haus alternativer Migrationspolitik und Kultur.