Liminal People

"Reisepass" der Refugee Republic
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"Reisepass" der Refugee Republic

 

von Juliane Karakayali und Serhat Karakayali
 

We got a right , know the situation
We're the children of globalisation

(Asian Dub Foundation, 2003)

Der Song “Fortress Europe” der britischen Band Asian Dub Foundation könnte die Hymne der europäischen No Border Bewegung sein. Der Text des Stücks basiert auf den Standards der Kritik am gegenwärtigen Grenzregimes der Europäischen Union. Es enthält argumentative Figuren wie die, dass der Westen für die Flucht der Migrant/innen aus dem Süden verantwortlich sei (A burning village in Kosovo/ You bombed it out now you're telling us go home) oder dass es ein Recht auf Asyl gibt, usw.

Das Subjekt aber, das die Klage in „Fortress Europe“ führt, verschwimmt. Mal sind „wir“ die Grassroots-Bewegung, die auf dieser Seite der Festung die Zäune der Flüchtlinglager kappen soll und „sie“ sind die anderen, die vor dem Hunger fliehen. Dann wieder sind „wir“ eine migrantische Reisegruppe in der Sorge, ob die Reise glückt.

Subjektivität der Grenze

Dieses Oszillieren zwischen unterschiedlichen Blickwinkeln ist eine Hilfskonstruktion, mit der die Kluft zwischen den Migrant/innen und den Einwohnern der vermeintlichen Festung überbrückt werden soll. Und sie steht sinnbildlich für die Sackgassen des kritischen Migrationsdiskurses der Gegenwart. Das mag daran liegen, dass die Festungsmetapher als Ausgangspunkt der kritischen Diskussionen um das europäische Grenzregime selbst bereits jene Binarität voraussetzt oder auch daran, dass die vielfältigen migrantischen Communities, die seit Jahrzehnten in Europa auch als Anlaufstationen neuerer Migrationen fungieren, in diesem Szenario nicht – jedenfalls nicht als „Wir“ – auftauchen.

Dennoch ist die Frage danach, „aus welcher Sicht“ wir uns mit diesem Grenzregime beschäftigen bedeutsam. Jedoch nicht in dem Sinne, dass mit den jeweiligen Perspektiven auch Gruppenidentitäten festgelegt sein müssten. Vielmehr geht es dabei um das Verhältnis von Wissen, Praktiken sowie deren politischer Codierung. Der Konflikt an der Grenze, so könnte man es auch formulieren, bringt die Subjekte der Grenze erst hervor. Die Grenze ist eine Subjektmaschine.

Grassroots- oder Grasnarbenperspektive?

Damit ist zunächst die ganz pragmatische Frage verknüpft, welche Art von Handlungen etwa wissenschaftliche Forschungsprojekte oder journalistisches Wissen ermöglichen bzw. legitim erscheinen lassen und umgekehrt. So dient das Aufdecken der unmenschlichen Realität des Grenzregimes beispielsweise dazu, eine humanistisch orientierte Öffentlichkeit gegen die „Festung“ zu mobilisieren. Die Tricks und Schliche, mit denen Migrant/innen ihre Reise bewältigen dagegen, werden in einer solchen Strategie nicht thematisiert. Diese Themen sind den Gegnern der Migration, meist aus dem rechten Lager, in Gestalt der Hetze gegen „Asylbetrüger“ vorbehalten.

In dem sicherlich marginalen europäischen Diskurs über die Tragödie namens „Festung Europa“ ist die „Sicht der Migranten“ die eines Nekrologs – das bedeutet, dass in letzter Instanz die Perspektive des absoluten Scheiterns der Migration eingenommen wird. Daher wird so oft vom Mittelmeer als einem Massengrab gesprochen. Hier soll nicht verschwiegen werden, dass – heute mehr denn je – Migration keine Urlaubsreise ist. Angesichts einer Diskursblockade aber, in der die „Sicht der Migranten“ nur als Komplement zu den Abschottungsdiskursen in Stellung zu bringen ist, muss gefragt werden, worin eine mögliche alternative Konzeption bestehen könnte, danach also, welches politische Projekt mit der Migration überhaupt artikuliert werden kann.

Maria arbeitet im Haushalt einer dementen älteren Frau in einem südhessischen Städtchen. Sie wohnt auch dort: um Geld zu sparen und weil die kranke Frau ihren Alltag nicht selbst bewältigen kann. Maria soll zwar „nur“ Haushaltsarbeit erledigen, tatsächlich aber hilft sie bei allen alltäglichen Verrichtungen, von Vorlesen bis zur Hilfe bei der Körperpflege. Die Stelle hat Maria über das Jobcenter bekommen, nachdem die Bundesregierung vor einigen Jahren diese Art von Arbeiten für Menschen aus Osteuropa legalisiert hatte. Wenn Marias Arbeitgeber ihr den Lohn vorenthalten, sie beschimpfen oder bedrohen, könnte sie also theoretisch dagegen vorgehen. Praktisch aber wird sie das kaum tun, weil ihr niemand dabei helfen würde. Sie hat nur wenige Bekannte in Deutschland, die Gewerkschaften organisieren keine migrantischen care worker, für die Sozialverbände ist Maria ausländische Billigkonkurrenz und das Jobcenter will sich nicht mit seinen Kunden anlegen. Und Maria will sich nicht mit dem Jobcenter anlegen, denn die vermitteln ihr die Arbeitsstellen.

Alina macht den gleichen Job in einem anderen Ort in Deutschland. Ihre Stelle hat sie über ein polnisches Netzwerk von Haushaltsarbeiterinnen bekommen. Weil sie keine Papiere hat, ist ihr Leben auf vielfältige Weise eingeschränkt. Weil sie über das Migrationsnetzwerk aber viele Kolleginnen in Deutschland kennt und Care Workers sehr gefragt sind, fürchtet sie sich weniger vor Stress am Arbeitsplatz. Denn ihr fiele es leicht, eine andere Stelle zu finden.

Für beide ist das europäische Grenzregime weder Mauer noch Grenzpatrouille, sondern ein Ensemble aus rechtlichen Regelungen, durch das hindurch sie ihre Migrationspraxis bewältigen. Wenn heute von Migrationsregimen gesprochen wird, denken viele an gefährliche Fahrten mit kleinen Booten über Atlantik und Mittelmeer, weniger an unspektakuläre Busreisen. Festungen sehen anders aus. Die Geschichten Marias und Alinas zeigen zum einen, dass es nicht ausreicht danach zu fragen, ob Migrationen legal stattfinden, oder unter den Bedingungen der „Festung“. Nicht nur verwischen oftmals die Grenzen zwischen beiden Kategorien, sondern unter Umständen erweisen sich die legalen Rahmenbedingungen im Vergleich zur Illegalität als Migrationshemmnisse. Zum anderen zeigt das Beispiel, dass es wichtig ist, sich die real existierenden Migrationspraktiken anzusehen, um konkrete Ansatzpunkte für eine Kritik des Grenzregimes und mögliche Alternativen entwickeln zu können – zumindest dann, wenn die Parole „no border“ nur als Fernziel politischen Handelns gedacht wird.

Autonomie der Migration vs. Autonomie der Migrant/innen

In den letzten Jahren wurde von in diesem Kontext der Begriff der „Autonomie der Migration“ in die Diskussion geworfen und kontrovers diskutiert. Dem Konzept der Autonomie wurde vorgeworfen, es romantisiere Ausbeutung und Unterdrückung (vgl. Alabi et al. 2005), stelle konkurrenzielle Strategien des individuellen Fortkommens an die Stelle politischer Kämpfe, interpretiere die durch die Logik der Kapitalakkumulation induzierte Arbeitskraftmobilität fälschlich als autonome Praxis (vgl. Pieper 2004) oder ignoriere die männlich-patriarchale Struktur des Autonomiebegriffs, der die sozialen Kontexte, die Handeln ermöglichen, ausblende (vgl. Benz/Schwenken 2005).

Diesen Kritiken gemeinsam ist ein grundlegendes Missverständnis, nämlich dass die „Autonomie der Migration“ von der Autonomie der Migrant/innen handelt. Niemand kann bestreiten, dass das Grenzregime Menschen an der Reise nach Europa (und andere Länder) erschwert oder hindert. Es geht also nicht darum, die Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen, wie dies zuweilen in Beiträgen aus dem Lager der Transnationalismus-Forschung geschehen ist. Problematisch an diesem Ansatz war seine oftmals unkritische Verabsolutierung migrantischer Praktiken zum subversiven Anderen des Nationalstaats oder des Kapitalismus (vgl. Karakayalı/Tsianos 2007). Jede Form nicht staatlich regulierter Migration und insbesondere illegale Migration wird dadurch als eine Art Gegenmacht zu den nationalstaatlichen Territorialisierungspraktiken konzipiert.

Es geht vielmehr darum, die generische Kraft der Migration als einer sozialen Bewegung in den Blick zu nehmen. Dies war auch einer der Gründe für den Bezug auf das Konzept der Autonomia, das in den 1970er Jahren in Italien entwickelt wurde. Das Konzept der Arbeiteruntersuchung, der „Conriserca“, beruhte auf der Idee, dass Ansatzpunkte für eine subalterne Politik in der Alltags-Praxis der Massen- bzw. gesellschaftlichen Arbeiter/innen zu suchen seien. Es kam demnach nicht so sehr auf die Geschwindigkeit des Fließbands an, sondern darauf, wie die Arbeiter/innen damit umgingen. Die Analogie ließe sich noch weiter treiben.

Folgt man den Theoretiker/innen des Operaismus und Postoperaismus, dann sind alle Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise in den letzten vierzig Jahren in den nördlichen Industriestaaten mehr oder weniger direkt auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, die die kollektive Arbeitskraft den Unternehmen beschert hat. Die historischen Längsschnittuntersuchungen über „Kapitalflucht“ aus dem Westen, die Beverly Silver (2005) vorgelegt hat, bestätigen diese Sicht: Überall, wo Branchen mit Arbeiterunruhen und Streiks konfrontiert waren, reagierten sie mit Modernisierungen, die den Arbeitsprozess von der lebendigen Arbeitskraft möglichst abtrennen sollten und mit Auslagerungen in gewerkschaftsfreie Gebiete, sowohl aus politischem Kalkül, als auch aufgrund der Lohnhöhe in den neuen Produktionszonen in Südasien oder neuerdings in Osteuropa.

Überträgt man dieses Konzept auf die Migration, dann wäre dies ein Plädoyer dafür, die „Festung Europa“ aus der Perspektive der Praktiken der Migration zu untersuchen.  Denn das Grenzregime verändert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern gewinnt seine Dynamik aus den Bewegungsformen der Migration. Dies ist nicht so zu verstehen, dass Staaten den Bevölkerungsbewegungen hilflos ausgeliefert sind. Vielmehr ist damit die grundlegende Frage verbunden, was eigentlich staatliches Handeln ausmacht, worin die Funktion der Einhegung einer Bevölkerung in einem Territorium besteht und welche unterschiedlichen Interessen dabei ins Spiel kommen. Die Metapher von der Festung Europa unterstellt, dass im Inneren der Festung Burgfrieden herrscht. Tatsächlich aber ist es die Rede vom Gebilde namens Europa selbst, das Teil der politischen Bestrebungen ist, diese vermeintliche Einheit erst herzustellen.

Eine neue Politik der Migration?

In Wirklichkeit ist Europa und jeder Nationalstaat innerhalb des hegemonialen europäischen Projekts von fundamentalen Konflikten durchzogen, auch in Bezug auch die Fragen der Grenzen und ihrer jeweiligen (Un-)Durchlässigkeiten. Wenn die Migrant/innen die Grenze überqueren – was im Übrigen meistens nicht auf Booten geschieht – dann betreten sie keinen geschlossenen Container. Sie sind schon vorher und dann auf neue Weise Teil von nationalen und globalen sozialen Beziehungen und sie verändern diese. Dazu gehört seit Jahrzehnten die Rolle der Migrant/innen als flexible Arbeitskräfte in Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungsgewerbe. Schon die ersten Gastarbeiterabkommen in Nordeuropa versuchten dabei stets, die Migrant/innen auf genau diese Rolle einer neuen industriellen Reservearmee festzulegen.

Die Folge war, was Migrationsforscher/innen die „ethnische Unterschichtung“ genannt haben: Die Tatsache, dass Migrant/innen – unabhängig von ihrer Qualifikation – sehr häufig schlechtbezahlte Tätigkeiten ausführten, aber auch, dass sie sich immer wieder gegen die Festschreibung auf diese Rolle gewehrt haben. Die Migrationen „machen“ Europa nicht nur in dem Sinne, dass jede einzelne Maßnahme zur Grenzkontrolle von der Satellitenüberwachung über die Tätigkeit der Grenzagentur „Frontex“ bis zur Einrichtung von Jobcentern in Mali buchstäblich den Routen und Praxen der Migrationen folgt. Sie machen auch insofern Europa, als sie die Grundlagen der Reichtumsproduktion auf dem Kontinent – die Zusammensetzung der Bevölkerung – beständig verändern. Migrationen rütteln an dem von Ideologen beschworenen, vermeintlich natürlichen, Zusammenhang zwischen Volk, Territorium und Regierung. Heute werden die damit verbundenen Konflikte als solche über Kultur geführt. Aufrechterhalten werden soll damit die Konstruktion nach der die so genannten Einheimischen und die Einwanderer/innen zwei von einander getrennte, einander gegenüberstehende Gruppen seien.

Die Aufgabe einer kritischen Migrationsforschung ist es, die Wirkungsmacht der Verkehrsformen solcher Diskurse über Migration zu enträtseln. Es geht dabei nicht nur darum, das Paradigma vom „Problem Migration“ zu verabschieden, um an dessen Stelle die liberale Beschwichtigungsrethorik zu setzen, nach der Migration ein harmloses soziales Phänomen sei, das mit interkulturellen Trainings zu behandeln sei. Es geht vielmehr darum, das Skandalon, das die Migration erzeugt, als eine reale Herausforderung der Lebensweisen in unseren Gesellschaften anzuerkennen. Nur so können wir Migration als Heterotopie fassen, d.h. als einen Raum, in dem die nationalen Grenzen des Politischen und Sozialen hinterfragt werden und über das Neue nachgedacht wird, das in den liminalen Zonen der Migration lauert.

Vielversprechende Ansätze, die eine solche Perspektive aufgreifen, finden sich in verschiedenen politischen Initiativen der letzten Jahre, so etwa die Gesellschaft für Legalisierung, der es gelungen ist, das Thema der „illegalen Migration“ aus der Perspektive der vielen kleinen, manchmal selbst klandestinen, Formen von Selbstlegalisierungen zu behandeln. Oder die Kampagne für einen Doppelpass, die an längst etablierte migrantische Praktiken doppelter Staatsbürgerschaft anschließt. Diese politischen Projekte richten den Blick nicht auf vermeintliche Festungen sondern auf die AkteurInnen und die Sozialität, die sie hervorbringen. Ähnliche Perspektiven gilt es, für eine kritische Migrationswissenschaft zu entwickeln.

 

Literatur

  • Alabi, Adebayo Maik/ Hess, Sabine/ Omwenyeke, Sunny/ Panagiotidis, Effi (2005): „Eine Frage der Rangordnung. Streitgespräch zwischen Kanak Attak und Karawane über unterschiedliche Ansätze antirassistischer Politik“, in: iz3w 284, April-Mai, S. 18-37
  • Benz, Martina / Schwenken, Helen (2005): „Jenseits von Autonomie und Kontrolle: Migration als eigensinnige Praxis“, in: PROKLA 140, Nr. 3, 35. Jg., S. 363-377
  • Bojadzijev, Manuela/ Karakayalı, Serhat (2006): „Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode“, in: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld, S. 215-227
  • Karakayali, Serhat/ Tsianos, Vassilis (2008): „Movements that Matter“, in: TRANSIT MIGRATION (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld, S. 7-22
  • Pieper, Tobias (2004): „Das dezentrale Lagersystem für Flüchtlinge – Scharnier zwischen regulären und irregulären Arbeitsmarktsegmenten“, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Nr. 136, S. 435-453
  • Silver, Beverly (2005): Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin/ Hamburg

 

Bild entfernt.

Dr. Juliane Karakayali ist Soziologin und arbeitet an der HU Berlin sowie bei ver.di. Sie promovierte über transnationale care workers aus Osteuropa. ist. Dr. Serhat Karakayali ist Soziologe und arbeitet zurzeit als Projektleiter bei "amira".